Langzeitarbeitslosigkeit

"Das wirksamste und wirtschaftlichste Mittel ist Prävention"

Der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, im März 2017 in Nürnberg
Der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, im März 2017 in Nürnberg © picture alliance / Nicolas Armer/dpa
Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele im Gespräch mit Gerhard Schröder · 27.05.2017
Langzeitarbeitslose spüren vom Aufschwung am Arbeitsmarkt kaum etwas. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, will sich dem Problem widmen und plädiert dafür, die Bildungschancen der Kinder von Langzeitarbeitslosen zu verbessern - mit der Jugendberufsagentur.
Deutschlandfunk Kultur: Herzlich willkommen. Am Mikrofon ist Gerhard Schröder. Und unser Gast heute ist Detlef Scheele. Er war Senator für Arbeit und Soziales in Hamburg. Seit zwei Monaten ist er Chef der Bundesagentur für Arbeit, mit knapp 100.000 Beschäftigten eine der größten Behörden in Deutschland, eine Behörde, die Monat für Monat mit glänzenden Zahlen aufwarten kann. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Zahl der Arbeitsplätze wächst – und das schon seit Jahren.
Herr Scheele, sind Sie da manchmal selbst noch überrascht, wie gut es zurzeit läuft am Arbeitsmarkt?
Detlef Scheele: Na ja, ich bin ja, bevor ich jetzt Vorstandsvorsitzender wurde, schon anderthalb Jahre Vorstand gewesen. Und wir haben in der Tat bei der Vorbereitung unserer Arbeitsmarktpressekonferenz morgens mit dem IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, d. Red.) gesessen und gesagt: Wie kann das angehen? Das Wirtschaftswachstum liegt bei 1,4 / 1,5 Prozent. Und trotzdem haben wir so einen enormen Arbeitsplatzzuwachs. Das hat uns vielleicht nicht überrascht, aber wir haben schon nachgefragt, wie es dazu kommt.
Deutschlandfunk Kultur: Und woher kommt’s?
Detlef Scheele: Es kommt wohl daher, dass wir nicht so sehr wachstumsgetriebene Arbeitsplatzzuwächse haben in der Pflege und Sozial-, Erziehungsberufen.
Deutschlandfunk Kultur: Und geht das jetzt noch so weiter? Oder fürchten Sie nicht, dass da doch deutlichere Zeichen kommen, dass es auch mal zu Ende geht mit dem Aufschwung?
Detlef Scheele: Also, gegenwärtig haben wir solche Zeichen nicht, weder aus unserem Frühwarnsystem durch die Agenturbefragung und auch durch das EAB oder andere Forschungsinstitute. Auch die Prognose der Bundesregierung sieht das gegenwärtig nicht.
Deutschlandfunk Kultur: Das Erfreuliche ist ja, es entstehen nicht nur prekäre Jobs, nicht nur atypische Jobs, wie das heißt, sondern auch sozialversicherungspflichtige Jobs. – Auch das geht weiter?
Detlef Scheele: Ja, nach unseren Erkenntnissen geht das dieses und nächstes Jahr auf jeden Fall weiter.

"Großteil der Langzeitarbeitslosen hat keine Ausbildung"

Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ein großes Problem, Herr Scheele: die Langzeitarbeitslosigkeit derzeit ungefähr eine Million. Seit Jahren ist das ungefähr auf dem Level. – Warum ist das so schwierig, dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit vermindert?
Detlef Scheele: Also, zunächst will ich Ihnen ausdrücklich zustimmen. Das Thema Langzeitarbeitslosigkeit gehört anders auf die Agenda als in den letzten Jahren. Das ist eine der unangenehmen Nebenerscheinungen bei der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt. Wir sind jetzt bei 910.000 Langzeitarbeitslosen. Also, es geht sukzessive rückwärts. Aber das Hauptproblem ist, dass die Menschen mit ihrer Qualifikation und dem Leistungsvermögen nicht zu den entstehenden Arbeitsplätzen passen. Also, es entsteht etwas im technologischen Bereich. Es entsteht etwas da, wo man gut qualifiziert sein muss.
Und der Großteil der Langzeitarbeitslosen hat keine Ausbildung, ist älter und hat ein weiteres Handicap. Das passt dann am Arbeitsmarkt nur sehr schwer zusammen. Da braucht man Glück und Ausdauer.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, an denen geht der Aufschwung weitgehend vorbei.
Detlef Scheele: Sagen wir so: Es ist so, dass der Aufschwung da nicht so positive Effekte hat wie woanders. Wir sind jetzt ja bei gut 100.000 weniger als vor einem Jahr. Das kann man ja nicht gering schätzen. Aber es ist richtig, es ist eins der Hauptprobleme am Arbeitsmarkt.
Deutschlandfunk Kultur: Wir sehen aber, der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Arbeitslosenzahl insgesamt ist sogar noch gestiegen. – Also, kein gutes Zeichen.
Detlef Scheele: Ja, weil die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Das ist ein gutes Zeichen. Deshalb ist der Anteil gestiegen. Wir müssen uns bei der guten Arbeitsmarktlage und bei der Stabilität am Arbeitsmarkt insbesondere um diesen Personenkreis kümmern. Nur, es gibt da das eine Patentrezept nicht. Das muss man einfach sagen.

Frühkindliche Bildung für Kinder von Langzeitarbeitslosen

Deutschlandfunk Kultur: Das hören wir aber auch schon seit vielen Jahren: Ja, wir müssen mehr gegen die Langzeitarbeitslosigkeit tun. – Bislang mit mäßigem Erfolg. Was wollen Sie da für Akzente setzen?
Detlef Scheele: Also, ich glaube, das Wichtigste, was man tun muss, ist präventiv tätig werden. Denn wir sehen ja, auch in meinen früheren Tätigkeiten, wie schwer es ist, jemanden, der lange vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen war, wieder hinein zu bringen, zumal wenn seine Qualifikation nicht stimmt.
Also, mein Ansatz wäre zu sagen: Wir kümmern uns auch mit den Jobcentern und unseren Kunden dort darum, dass die Kinder von Familien frühkindliche Bildung bekommen, in Kita und Krippe gehen. Wir kümmern uns um einen besseren Übergang Schule/Beruf, halten das wirklich stringenter oder auch strenger nach, damit uns da keine Menschen verloren gehen und die Jugendlichen eine Ausbildung machen. Denn das ist der beste Schutz gegen Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist das wirksamste und auch das wirtschaftlichste Mittel – die Prävention.
Deutschlandfunk Kultur: Und wie wollen Sie das machen?
Detlef Scheele: Also, wir haben Menschen als Kunden in Jobcentern, die haben Kinder. Und mit denen muss man natürlich bei dem Abschluss der Eingliederungsvereinbarung darüber reden, ob ihre Kinder in die Krippe oder in die Kita gehen. Denn wir bezahlen etwas davon, wenn sie in eine Fördermaßnahme gehen. Dann können wir auch darauf achten, dass die Kinder die frühkindliche Bildung besuchen. Das hilft ihnen und das hilft uns per se auch, weil gut ausgebildete Schülerinnen und Schüler, gut geförderte Kinder gerade aus Migrantenfamilien per se ein Gewinn sind.
Und der Übergang Schule/ Beruf, da muss man rechtskreisübergreifend zusammenarbeiten – mit den Schulen, mit der Jugendhilfe und wir mit der Berufsberatung und der Ausbildungsstellenvermittlung. Da, wo das unter einem Dach geschieht, sind wir ausgesprochen erfolgreich.
Deutschlandfunk Kultur: Stichwort Jugendberufsagentur. Das haben Sie in Hamburg eingeführt. Das soll bundesweit gemacht werden. – Macht das Fortschritte?
Detlef Scheele: Ja, wir haben uns jetzt entschieden, ich würde mal sagen, Ende 2019 ein IT-System den Ländern oder den Schulträgern zur Verfügung zu stellen, mit dem man die Schülerinnen und Schüler und die Berufsberatung und auch die Jugendhilfe zusammenfassen kann in einem Datenbanksystem und mit dem wir die Bildungsverläufe und Ausbildungsplatzsuchverläufe der Jugendlichen nachzeichnen können, um möglichst keinen durchs Netz fallen zu lassen. Das ist das Ziel. Und damit, glaube ich, kämen wir weiter.
Wir schließen zurzeit Vereinbarungen mit der Kultusministerkonferenz über so etwas. Ich bin recht optimistisch.

"Nicht immer eine Frage der Mittel, sondern der Kooperation"

Deutschlandfunk Kultur: Bislang fallen noch ziemlich viele durchs Netz, pro Jahr ungefähr 50./60.000, die keinen Schulabschluss machen. Insgesamt haben wir über eine Million Jugendliche im Alter bis 29, glaube ich, die keinen Berufsabschluss haben. Also, da ist ziemlich viel zu tun.
Detlef Scheele: Ja. Das streite ich jetzt nicht ab, dass da viel zu tun ist. Aber viel zu tun heißt ja nicht, dass man es nicht versuchen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Und dafür haben Sie auch die Mittel?
Detlef Scheele: Das ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass alles Mittelfragen sind. Das ist eine Frage der Kooperation. Die Schule ist ohnehin da. Die Berufsberatung ist da. Jetzt ist die Frage: Wie arbeiten die zusammen? Wir gehen in Klasse 8. Wir gehen in die 12. Klassen der Gymnasien, um in der Frage der Studienberatung etwas zu tun, dass es auch duale Ausbildung gibt. Das kostet gar nix. Man muss nur intelligenter zusammenarbeiten.
Deutschlandfunk Kultur: Dafür bräuchten Sie also nicht zusätzliches Personal?
Detlef Scheele: Für diesen Bereich der Jugendberufsagentur und der Zusammenarbeit braucht man nach meiner Hamburger Erfahrung ein wenig Personal, wenn man aufsuchende Beratung machen will. Aber aufsuchen muss man ja nur die, die drohen durchs Rost zu fallen, und nicht alle. Also, das sind überschaubare Mittel, wenn man sich andere Investitionen anguckt.

Beratung und Vermittlung sollen verbessert werden

Deutschlandfunk Kultur: Schlüssel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist eine gute Vermittlung, eine gute Betreuung, eine möglichst individuelle Betreuung. Der Schlüssel ist derzeit 1:150 im Schnitt. Also, ein Vermittler betreut 150 Arbeitslose. – Kann man da von individueller Betreuung sprechen?
Detlef Scheele: Also, wir sind zurzeit dabei uns mit der Vermittlung und Beratung auseinanderzusetzen, weil ohnehin die Frage der Arbeitsvermittlung komplizierter und aufwändiger wird. Wir haben im SGB III knapp eine Million Arbeitslose. Und es kommt immer häufiger vor, dass eine Anfrage von Arbeitgebern, einen Arbeitsplatz zu besetzen, nicht unmittelbar mit einem Arbeitslosen so besetzt werden kann, dass die Qualifikation stimmt, so dass der Beratungsprozess und der Vermittlungsprozess anspruchsvoller wird.
Wir haben schon Modellversuche, in denen wir mit 1:60 beraten. Dann sieht es deutlich besser aus. Da sind die Erfahrungen auch gut. Und wir wollen jetzt – Stichwort lebenslange Beratung und Digitalisierung – auch vorausschauend tätig werden, um zu schauen, ob wir beschäftigte Menschen, möglicherweise un- und angelernte, in deren Betrieben es keine Personalentwicklung gibt, nicht vorausschauend beraten können in der Frage: Was wird aus ihrem Arbeitsplatz? Bleibt er erhalten? Muss man was dazu lernen? Muss man ihn auch wechseln? Ich glaube, dass wir da jetzt auf einem ganz guten Wege sind.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Ziel ist, das verstehe ich richtig, Sie wollen mehr Betreuer für weniger Arbeitslose? Dieser Betreuungsschlüssel muss sich verbessern?
Detlef Scheele: Also, dazu würde ich jetzt ungerne etwas sagen. Wir pilotieren dieses Modell, von dem ich eben sprach, an drei Standorten – in Leipzig, in Düsseldorf und in Kaiserslautern bis zum März des nächsten Jahres. Und dann werden wir unsere Schlüsse daraus ziehen. Was muss mit möglicherweise mehr Personal passieren? Was kann auch organisatorisch passieren? Da wird es sicherlich einen Mix geben.
Deutschlandfunk Kultur: Aus der Praxis hört man ja immer wieder, wenn man sich mit Betroffenen unterhält: Da werden Leute zum fünften Bewerbungstraining geschickt, der siebte Computerkurs. Da fühlen sich die Leute irgendwann auch nicht mehr ernst genommen. Man muss halt auch genau drauf schauen: Was brauchen die? Was können die schon? Und wo sind die Defizite?
Deswegen komme ich nochmal auf individuelle Betreuung. Da braucht man Leute, die sich dann auch intensiv damit beschäftigen können.

Mehr Kontakt zwischen Vermittler und Familien für bessere Ergebnisse

Detlef Scheele: Na, das habe ich ja eben bestätigt. Darum machen wir ja diese Modellversuche, um zu schauen, mit welchen Methoden, mit welchem Personalschlüssel und welchen organisatorischen Voraussetzungen wir diese individuelle Betreuung verbessern können gegenüber der jetzigen Situation. Wie gesagt, wir machen das jetzt bis März, April des nächsten Jahres, gucken uns das an.
Ich finde aber, wir haben jetzt in verschiedenen Modellstandorten, es läuft gerade relativ viel, den Vermittlerschlüssel verbessert und die Kontaktdichte, wie es technisch heißt, erhöht. Das heißt, man sieht sich öfter und der Mitarbeiter von uns kennt die Familie des Arbeitslosen und die Umstände. Das ist hilfreich im Vermittlungsprozess. Und da steigen die Vermittlungszahlen.
Ich würde sagen, unter solchen Bedingungen soll man, bevor man – wenn es denn überhaupt so ist – den vierten Computerkurs anbietet, jemanden vermitteln und berufsbegleitend fortbilden. Das scheint mir das deutlich bessere Mittel der Wahl zu sein.
Deutschlandfunk Kultur: Andersrum gefragt: 2005 wurde die Hartz-Reform umgesetzt. Grundgedanke war: Fördern und Fordern. Also, das heißt, die Förderung stand im Mittelpunkt. Da wundert man sich doch, dass es dann zwölf Jahre dauert bis man sehr konkret darüber nachdenkt, dass gute, bessere Betreuung da ein Schlüssel sein muss.
Detlef Scheele: Also, darüber ist schon früher nachgedacht worden. Das will ich mal deutlich sagen. Außerdem, wenn man die Reform 2005 nimmt, vor 2005 hat kein Sozialhilfeempfänger Zugang zu Weiterbildung gehabt. Das ist erst durch das SGB II gekommen. Also, durch die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe haben die im kommunalen Sozialhilfenetz befindlichen Menschen gar keinen Weiterbildungszugang gehabt, das ist doch ein Zugewinn gewesen.

"Würde mir den Versuch wünschen, das SGB II zu vereinfachen"

Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir auf die Arbeit der Agenturen, der Jobcenter schauen, stellen wir fest, der Großteil der Beschäftigten dort ist gar nicht mit Betreuung, mit Vermittlung beschäftigt, sondern mit der Berechnung der Leistung, das heißt, mit der Verwaltung von Arbeitslosigkeit – ein nicht ganz neuer Befund, aber auch da tut sich wenig. – Warum?
Detlef Scheele: Da geht es im Wesentlichen um das SGB II. Ich glaube, im Bereich der Versicherung ist das ein bisschen anders.
Deutschlandfunk Kultur: SGB II heißt langzeitarbeitslos.
Detlef Scheele: Ja, also im Bereich der Grundsicherung. Da hat es ja in den letzten und in dieser Legislaturperiode den soundso vielten Versuch gegeben, das Gesetz zu vereinfachen, das neunte SGB-II-Änderungsgesetz hat den einen oder anderen Fortschritt gebracht. Das will ich gar nicht gering schätzen. Also, dass so ein Bescheid auf zwölf Monate ausgestellt werden kann statt auf sechs Monate, ist ein Zugewinn.
Es hat weitere Rechtsänderungen gegeben, die es etwas einfacher machen. Aber ich habe auch an anderer Stelle gesagt: Ich würde mir auch in der nächsten Legislatur einen Versuch wünschen, das SGB II hinsichtlich seiner Administration deutlich zu vereinfachen.
Deutschlandfunk Kultur: Warum ist das so schwierig?
Detlef Scheele: Das ist so schwierig, weil sich 16 Länder, die kommunalen Spitzen, und die Bundesregierung einigen müssen. Wir sind nur beratend dabei. Und das ist bei der Frage der Sanktionen beim letzten Mal zu einer Auseinandersetzung unter den Ländern gekommen, die zu keinem Ergebnis geführt hat.

"Kürzen auf Null im jugendlichen Bereich ist nicht sinnvoll"

Deutschlandfunk Kultur: Wäre es zum Beispiel sinnvoll, die Sanktionen auszusetzen, die Sanktionen ganz zu streichen? Viele Experten sagen, das bringt nichts. Das führt nur zu Konflikten. Besser wäre es, darauf zu verzichten.
Detlef Scheele: Ich glaube, dass es aus generalpräventiven Gründen gar keine Chance gibt, auf Sanktionen zu verzichten. Es kann keine Sozialleistung geben, für die es Regeln gibt, sie in Anspruch zu nehmen. Da muss es auch eine Regel geben, was passiert, wenn man sich nicht an die Regel hält. Also, da gibt’s gar kein Vertun.
Was ich aber immer vertreten habe und was ich auch in meiner früheren Tätigkeit als Senator vertreten habe, das Kürzen auf Null im jugendlichen Bereich und das Kürzen in die Kosten der Unterkunft, also in die Wohnkosten, das, glaube ich, ist nicht sinnvoll. Denn wenn ein Mensch auch noch seine Wohnung verliert, ist es extrem schwierig, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Also, darüber haben aber die Länder kein Einvernehmen erzielen können. Ich wäre dafür gewesen.
Deutschlandfunk Kultur: Wir reden über das Existenzminimum. Kann man ein Existenzminimum eigentlich kürzen? Darf man das?
Detlef Scheele: Na ja, das ist ja alles verfassungsrechtlich ausgeurteilt. Das, glaube ich, muss man so hinnehmen, wie das Verfassungsgericht es betrachtet hat. Wenn gekürzt wird, treten an die Stelle der Geldleistung Sachleistungen. Und das scheint verfassungsrechtlich in Ordnung zu sein.

Wenn Arbeitslose und neue Jobs nicht zusammenpassen

Deutschlandfunk Kultur: Wir reden über Langzeitarbeitslose. Knapp eine Million sind es, derzeit noch gut 900.000. Jetzt ist ja die Frage: Wie viele von denen haben überhaupt realistische Chancen, wieder einen regulären Job zu bekommen? Was macht man mit denen, wo man sagen muss, aller Voraussicht nach sind die Chancen gering, dass die nochmal richtig Fuß fassen?
Detlef Scheele: Also, eine kleine Gruppe unter den 900.000, und das IAB sagt, es sind 100.000 bis 200.000, ist mehrere Jahre arbeitslos gewesen, keine Berufsausbildung, hat weitere vermittlungshemmende Merkmale. Wir haben uns neulich in einer kleinen norddeutschen Stadt das angeguckt. Da haben dann siebzig Prozent der Arbeitslosen keine Berufsausbildung. Und die neuen Arbeitsplätze, die da durchaus auch entstehen, sind aber in einem eher höher qualifizierten, mindestens mittleren Bereich, so dass es kaum einen Zusammenhang zwischen der Gruppe der Arbeitslosen und den Anforderungen auf den neu entstehenden Arbeitsplätzen gibt.
In solchen Fällen würde ich mich dafür einsetzen, dass wir das Mittel der öffentlich geförderten Beschäftigung zumindest temporär wiederkehrend für einen solchen Personenkreis einsetzen.
Deutschlandfunk Kultur: Was für Jobs sollten das sein, die öffentlich gefördert werden?
Detlef Scheele: Das sollten ernsthafte sozialversicherungspflichtige Jobs sein, die zur sozialen Stabilisierung und zur sozialen Teilhabe beibringen und, wenn man die Arbeit verrichtet hat, im besten Fall es so ist, dass der Mensch auch ein bisschen stolz nach Hause geht über das, was er gemacht hat.
Deutschlandfunk Kultur: Also eine Rückkehr zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der 90er-Jahre? Die sind ja nicht ganz ohne Grund abgeschafft worden.
Detlef Scheele: Ich bin ein Gegner von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nein, das brauchen wir nicht. Jetzt geht es darum, diesem kleinen Personenkreis eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und nicht etwa denen, die noch vermittlungsfähig sind oder weiterbildungsfähig sind. Für die sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schädlich gewesen. Sie haben ihre Vermittlungschancen verschlechtert und haben sie eher aus dem Arbeitsmarktgeschehen ausgegrenzt.
Wenn man sich aber an den Personenkreis wendet, der nach Lage der Dinge relativ chancenlos ist, dann haben sie diesen negativen Effekt nicht. Und wenn wir sozialversicherungspflichtig tätig werden und wenn wir das auch im Wettbewerb dürfen, zum Beispiel über eine strenge Zielgruppenauswahl oder über Beiräte, dann – glaube ich – kann man Arbeitsgelegenheiten schaffen, die bessere Effekte haben hinsichtlich dieser Teilhabewirkung und Stabilisierungswirkung als die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der 90er, die ja relativ gießkannenmäßig übers Land verteilt worden sind. Das finde ich nicht gut.

Befristete öffentlich geförderte Jobs - "für ein bisschen Normalität"

Deutschlandfunk Kultur: Und das sollten dann aber Jobs sein, die dauerhaft, also unbefristet finanziert werden?
Detlef Scheele: Nein. Das würde ja ein zweiter öffentlicher Dienst sein, der einmal volllief. Und dann wäre es vorbei. Da bin ich dagegen.
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, wenn man das zwei Jahre macht, hat man wieder das Problem. Dann sind sie wieder ohne Job.
Detlef Scheele: Na ja. Ich glaube, dass man nicht alles mit einem Instrument erreicht. Es muss, wenn man die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpft, einen Instrumentenmix geben: erstens Prävention, darüber sprachen wir, zweitens bessere Vermittlung für die, die vermittlungsfähig sind, drittens abschlussbezogene Fortbildung auch für Langzeitarbeitslose und viertens als Ultima ratio für einen kleinen Kern – Größenordnung hatte ich gesagt – auch öffentlich geförderte Beschäftigung.
Deutschlandfunk Kultur: In der Hoffnung, dass die über den Weg doch noch den Weg in den regulären Arbeitsmarkt finden?
Detlef Scheele: Im Einzelfall wird das der Fall sein, aber das Ziel ist nicht in erster Linie Integration. An Integrationsquoten wird man so ein Programm nicht messen können, sondern es dient dazu, dass teilweise Regionen von Städten nicht abgehängt werden, dass Kinder in solchen Familien sehen, dass ihre Eltern morgens zur Arbeit gegen, also sozusagen ein bisschen Herstellung – künstlich, wenn man so will – von Normalität, damit Leute sich nicht gänzlich ausgegrenzt fühlen.

Integration von Flüchtlingen – "größtes Problem ist die Sprache"

Deutschlandfunk Kultur: Sie hören Tacheles im Deutschlandfunk Kultur mit Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit. Herr Scheele, eine neue Herausforderung ist auf die Arbeitsagenturen, auf die Jobcenter hinzu gekommen, die Integration von Flüchtlingen. Allein im Jahr 2015 sind knapp eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Die müssen integriert werden, müssen erstmal die Sprache lernen, müssen qualifiziert werden.
Wenn Sie jetzt zwei Jahre nach dem großen Schwung, der gekommen ist, Zwischenbilanz ziehen, wie weit sind wir denn?
Detlef Scheele: Wir sind ungefähr da, wie wir es vorausgesagt haben. Wir haben ja immer gesagt: Im ersten Jahr nach Einreise kriegt man zehn Prozent der Geflüchteten in Arbeit, fünf Jahre fünfzig Prozent und sechzig, 65 Prozent nach zehn bis zwölf, 13 Jahren.
Das haben wir geschafft. Wir haben zurzeit 135.000 Flüchtlinge, die arbeiten, 40.000 mehr als vor einem Jahr. Das sind ungefähr die zehn Prozent. Insofern fühlen wir uns in unserer vorsichtigen optimistischen Grundhaltung bestätigt.
Deutschlandfunk Kultur: Was ist das größte Problem nach wie vor?
Detlef Scheele: Das größte Problem ist nach wie vor die Sprache. Da ist es so, dass viele Flüchtlinge, die sich jetzt noch in Sprachkursen befinden, aber diese jetzt auch verlassen, mit dem Integrationskurs nicht das Sprachniveau B1 erreichen, sondern bei A2 hängen bleiben. Da gibt es jetzt nach dem Aufenthaltsgesetz Ergänzungskurse, die seit 1. April laufen, so dass wir glauben, auch diesen Mangel dann beheben zu können und auch schon dabei sind ihn zu beheben. Das ist aber gegenwärtig das Hauptproblem.
Deutschlandfunk Kultur: Die Voraussetzungen der Flüchtlinge sind sehr unterschiedlich. Es gibt durchaus auch sehr qualifizierte Menschen. Die meisten aber sind von ihrer schulischen und auch beruflichen Qualifizierung doch eher nicht so weit, haben erst recht nicht ein Zertifikat, das sie ausweist als Mechatroniker oder Fachkraft. – Wie gehen Sie damit um?
Detlef Scheele: Also, erstmal stimmt Ihr Befund. Der überwiegende große Teil der Flüchtlinge bringt keine in Deutschland verwertbare berufliche Qualifikation mit. Das muss einen auch nicht wundern. Denn die Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen, kennen eine Berufsausbildung gar nicht. Und es sind auch nicht Arbeitsmigranten gekommen, sondern es sind Menschen aus humanitären Gründen gekommen, so dass man – wenn man das alles sozusagen sich beschaut – man sich darüber nicht wundern darf.
Wir setzen gerade bei den jungen Flüchtlingen darauf, dass die, die schon in Deutschland in sogenannten Willkommensklassen zur Schule gegangen sind und ganz gut Deutsch sprechen, dass wir mit denen tatsächlich eine Ausbildung zustande bringen.
Dazu kooperieren wir mit den Handwerk und Industrie- und Handelskammern vor Ort. Wir haben auch, finde ich, gute Instrumente über die Einstiegsqualifizierung, über ausbildungsbegleitende Hilfen und assistierte Ausbildung. Da bin ich relativ optimistisch, dass man bei diesem Personenkreis tatsächlich eine Arbeitsmarktintegration erreichen kann. Ich habe mir jetzt einige Projekte angesehen. Das finde ich ganz schön.
Aber man muss sagen, es sind dann immer drei, vier Flüchtlinge hier und drei, vier Flüchtlinge da. Es gibt kein Massenprojekt.
Deutschlandfunk Kultur: Die Wirtschaft war ja durchaus angetan, zumindest am Anfang, und hat gesagt, ja, wir brauchen ja dringend Fachkräfte und beteiligen uns da auch. Inzwischen sehen wir, es sind doch nur wenige bislang vermittelt. Und wenn, dann sind das sehr einfache Tätigkeiten. – Wird sich daran etwas ändern?
Detlef Scheele: Also, bei denen, die jetzt eingereist sind in 2015/16 wird sich, wenn man von den auszubildenden Jugendlichen absieht, glaube ich, wenig daran ändern, dass es sich um einfache Helfertätigkeiten in Gastronomie, Handel, Verkehr, Logistik handeln wird.
Das muss dann ja nicht das Ende bedeuten. Wir können berufsbegleitend qualifizieren. Dafür haben wir Instrumente. Die sind erprobt. Die können wir unternehmen. Also, es muss nicht heißen, einmal Helfer immer Helfer. Aber realistisch gesehen ist alleine die Arbeitsmarktintegration ein großer Erfolg.

Kompetenzerfassungssystem wird erprobt

Deutschlandfunk Kultur: Es ist ja schon eine ganze Menge passiert. Die Große Koalition hat ein Integrationsgesetz verabschiedet. – Würden Sie sagen, der Rahmen stimmt, um da weiterzuarbeiten? Oder wo würden Sie sagen, da fehlt auch aus dem politischen Raum noch Arbeit?
Detlef Scheele: Nein, ich glaube, dass die Bundesregierung in diesem und im letzten Jahr mit einer ganzen Reihe von Gesetzgebungsverfahren, insbesondere durchaus das Integrationsgesetz mit der 3+2-Regelung für geduldete Jugendliche, die eine Ausbildung machen wollen, einen vernünftigen Rahmen geschaffen hat. Wir sind auch in den Jobcentern für den zusätzlichen Andrang von Flüchtlingen personell und finanziell ausgestattet worden.
Es kommt jetzt darauf an, sozusagen sich durch das große Thema Flucht, Migration qualifikatorisch durchzukämpfen – Bundesagentur für Arbeit, Sozialpartner, Kommunen. Ich finde, wir sind auf einem zwar noch langen, aber ganz ordentlichen Weg.
Deutschlandfunk Kultur: Viele haben auch schon lange gearbeitet, etwa als Mechaniker in Aleppo. Und die kommen jetzt hier hin, sind hier formal nur Helfer, ungelernt und kriegen auch nur ungelernte Jobs. – Kriegt man das hin, dass man diese Fähigkeiten hier auch nutzt und sagt, du kannst mehr als nur Helfer sein?
Detlef Scheele: Also, wir erproben zurzeit ein Kompetenzerfassungssystem, das bild- und videogestützt, sogenannt spracharm funktioniert. Dann sitzt man dann drei bis vier Stunden vor so einem Test, zum Beispiel Mechatroniker. Und da laufen Videos, zum Beispiel die Scheinwerfereinstellung oder der freie Radwechsel. Und dann werden dem Flüchtling eine Reihe von Fragen gestellt, was da zu sehen war, was falsch und was richtig war. Wir stimmen das mit den Kammern ab und machen das mit Hochschulen, die sich mit Diagnostik befassen.
Und wir können jetzt an zwei Berufsfeldern, wir wollen auf dreißig kommen, sogenannte Testergebnisse aufstellen, bei denen man auch die Kompetenzen ausweisen kann, dass wir zumindest wissen, was sich hinter der Bekundung, ich habe in Aleppo Autos repariert, verbirgt. Verbirgt sich darunter eine Kenntnis über den europäischen Automarkt oder befindet sie sich gar nicht darunter? Wir würden, wenn wir das haben, danach zur richtigen Kompetenzerfassung in Innungswerkstätten schicken.
Also, wir haben ein Instrument, aber es muss ehrlicherweise erstmal entstehen. Denn vorher gab's das nicht.

Weiterbilden mit Blick auf Digitalisierung

Deutschlandfunk Kultur: Nicht alles, was jetzt neu eingeführt wird, erweist sich als Treffer. Die Arbeitsministerin zum Beispiel hat 100.000 Ein-Euro-Jobs angekündigt für Flüchtlinge, die eingerichtet werden sollen. Gerade ein Fünftel sind tatsächlich eingerichtet worden. Und man will das nicht weiter verfolgen. Das war ein Rohrkrepierer.
Detlef Scheele: Nein, das war kein Rohrkrepierer. Die Wirklichkeit hat das an sich gute Programm überholt. Also, die Anerkennungsverfahren des BAMS sind schneller geworden. Und das Flüchtlingsintegrationsprogramm von Frau Nahles wendet sich an Menschen im Verfahren aus den Hauptherkunftsländern mit guter Bleibeperspektive.
Diese Anerkennungen sind aber inzwischen durch, sind anerkannte Asylbewerber. Dann sind sie nicht mehr teilnahmeberechtigt. Darum hat die Bundesregierung, hat das BMAS auch mit uns einvernehmlich verabredet, das Programm zurückzufahren, weil es den Bedarf nicht mehr gibt. Aber es gab den Bedarf ganz unzweideutig.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Scheele, die Wirtschaft befindet sich in einem strukturellen Wandel, Stichwort Digitalisierung. Wir sehen, dass Qualifizierungen sehr schnell veralten, dass neue Jobs entstehen, aber auch alte Jobs verloren gehen. Einige fürchten, dass die Massenarbeitslosigkeit wieder zurückkehren könnte, weil für viele keine Arbeit mehr da ist. – Wie ist Ihre Prognose?
Detlef Scheele: Also, diese Befürchtung hinsichtlich der Massenarbeitslosigkeit teile ich ausdrücklich nicht. Also, wir wissen durch Untersuchungen unseres eigenen Institutes über die Digitalisierungsfähigkeit der 350 deutschen Ausbildungsberufe ungefähr, was passiert. Wir können es auch regional sagen. Das verarbeitende Gewerbe ist stärker betroffen als andere Dienstleistungsunternehmen, die Stadtstaaten weniger als Flächenländer. Das wissen wir und wir befinden uns am Anfang des Prozesses.
Wenn man jetzt vorausschauend vorgeht, dann kann man – glaube ich – durch Weiterbildung betrieblich, zunächst sind die Arbeitgeber in der Verpflichtung, ihre Mitarbeiter weiterzubilden, das wollen sie auch ausdrücklich, aber auch mit Hilfe der Bundesagentur für Arbeit vorausschauend eingreifen und so weiterbilden, dass der Arbeitsplatz nicht verloren geht.
Nach unseren Prognosen, von den 43 Millionen Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland mögen anderthalb Millionen über die nächsten zehn, fünfzehn Jahre verschwinden. Es entstehen anderthalb Millionen neu, sagen die Forscher. Wenn man jetzt klug mit Weiterbildung, das ist das Stichwort der Zukunft, das muss man wirklich sagen, wenn man jetzt klug mit Weiterbildung umgeht, müssen dabei nicht allzu viel Menschen auf der Strecke bleiben.

"Der Wandel am Arbeitsmarkt ist wirklich nichts Neues"

Deutschlandfunk Kultur: Hat sich das in den Betrieben schon rumgesprochen? Gerade wenn wir zum Beispiel in kleinere Unternehmen schauen, ins Handwerk schauen, da passiert wenig.
Detlef Scheele: Na ja, ich habe mir am Donnerstag einen dieser Pilotstandorte angeguckt von dieser lebenslangen Berufsberatung. Da habe ich mit den, wie das so schön neudeutsch heißt, Netzwerkpartnern an einem Tisch gesessen, den Chefs der IHK, der Arbeitgeber und des Zentralverbands des Handwerks in Düsseldorf – und wir eben. Und da, finde ich, ziehen wir gerade mit Blick auf Klein- und Mittelbetriebe und un- und angelernte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter absolut an einem Strang. Da hatte ich nicht den Eindruck, dass es da Nachhilfe brauchte.
Deutschlandfunk Kultur: Wie realistisch ist die Gefahr, dass das, was wir jetzt schon teilweise sehen, nämlich dass es so eine Spaltung auf dem Arbeitsmarkt gibt? Wer gut qualifiziert ist, der hat gute Chancen, der wird gut verdienen. Wer nicht so qualifiziert ist, der wird abgehängt. Das wird sich möglicherweise noch beschleunigen, dieser Prozess.
Detlef Scheele: Also, das ist so eine Gefahr, die will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Nur ich glaube, es gab früher im Fernsehen diesen 7. Sinn, oder so hieß das da, da hieß es immer: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Und möglicherweise ist es ist ja so: Wenn wir Gefahren jetzt sehen, ziehen wir die richtigen Schlüsse daraus und es werden nicht mehr Menschen abgehängt. Ich bin da ganz optimistisch.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt kann nicht jeder zum Programmierer umgeschult werden. Es gibt nun einfach einige, die sind nicht so schnell, nicht so fit. – Für die wird’s auch in digitalen Zeiten einen Platz geben?
Detlef Scheele: Ich finde, das ist eine komische Diskussion. Ich komme aus Hamburg. Wir haben den Neubauschiffbau über die Jahre vollständig verloren und keine Massenarbeitslosigkeit. Ich bin Mitbegründer des Museums der Arbeit in Hamburg, eines sozialgeschichtlichen Museums der Industriegeschichte. Da ist die Geschichte der Druckindustrie dokumentiert. Wir haben die Druckindustrie verloren. Das haben wir auch hingekriegt.
Also, Wandel am Arbeitsmarkt ist wirklich nichts Neues. Fahren Sie die Mecklenburgische Küste runter, da ist keine Neubauwerft mehr. Und es hat unter Schmerzen, das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen, funktioniert.
Wir sind diesmal aber, das ist mein Eindruck, weit, weit mehr im Konsens zwischen den verschiedenen Gruppen – Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Gewerkschaften, BA, Bundesregierung. Ich glaube, dass wir uns ganz gut auf den Wandel einstellen gerade.

"Man kann nicht jedes Problem mit dem gleichen Instrument angehen"

Deutschlandfunk Kultur: Wenn man ins Ruhrgebiet schaut, wird man da ganz andere Diskussionen führen.
Detlef Scheele: Nein, man führt im Ruhrgebiet keine anderen Diskussionen. Nun war Düsseldorf am Rande des Ruhrgebietes. Das will ich gerne geografisch einräumen. Aber ich habe mir ausdrücklich zu dem Stichwort Langzeitarbeitslose Gelsenkirchen und Oberhausen, Duisburg und eben auch Bremerhaven angeguckt. Da wird man den Personenkreis nicht über Qualifizierung zu fassen kriegen, sondern dann sind wir wieder bei öffentlich geförderter Beschäftigung bei denen, die sozusagen schon sich abgehängt fühlen.
Also ich glaube, man kann nicht jedes Problem mit dem gleichen Instrument angehen. Man muss immer gucken, was ist das richtige Instrument für die richtige Zielgruppe. Und weite Teile einiger Stadtteile in Duisburg oder in Gelsenkirchen haben mit der Digitalisierung nichts zu tun, weil sie gar nicht arbeiten.

Bedingungsloses Grundeinkommen – nicht für alle sinnvoll

Deutschlandfunk Kultur: Gerade vor dem Hintergrund sich verändernder Wirtschaft, vor der Unsicherheit, wie viel Arbeit wird in Zukunft noch da sein, gibt es ein Modell, das mehr Zuläufer findet: das Bedingungslose Grundeinkommen, die Idee also: Der Staat sorgt erstmal, dass alle gut leben können. Und, ich sage es jetzt mal flapsig, wer dann noch arbeiten will, der ist eingeladen. Es würde auf jeden Fall aus einem Zwangssystem quasi ein Anreizsystem machen. – Das klingt doch verlockend.
Detlef Scheele: Na ja, ich weiß jetzt nicht, warum man auf mein Gehalt noch ein Grundeinkommen drauf legen muss. Also, da gibt’s schon mal die erste soziale Schieflage. Also, man gibt jedem Menschen unabhängig von seiner Vermögenslage und von seinem Gehalt ein bedingungsloses Einkommen oben drauf, das finde ich sozial überhaupt nicht vertretbar.
Und ich finde auch, dass die Frage, dass damit eine Wahlfreiheit entsteht zwischen Arbeiten und Nichtarbeiten ziemlich kurz gesprungen ist, um es mal deutlich zu sagen. Denn die Menschen, die wir zurzeit sehen, die Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben und die lange arbeitslos waren, die würden mit dem bedingungslosen Grundeinkommen kein Stück besser gestellt. Denn sie würden den Anspruch auf Hilfeleistung verlieren.
Und ich verstehe die Arbeitsverwaltung, unsere Instrumente nicht als Zwangssystem, sondern ich verstehe sie als Unterstützungssystem. Das bedingungslose Grundeinkommen sorgt dafür, dass Menschen keine Unterstützung mehr bekommen. Und es kann auch sein, dass sich Menschen für ein Leben ohne Unterstützung entscheiden und es nicht besonders schlau war, wenn sie das tun, gerade wenn sie mit Kindern zusammenleben.
Also, es ist auch ein Instrument, mit dem sich der Staat von seiner Verantwortung zur Hilfeleistung frei kauft. Und da bin ich dagegen.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn man unterstellt, Menschen wollen arbeiten und wollen sich da auch verwirklichen, würde das diesen Wunsch auf eine neue Grundlage stellen.
Detlef Scheele: Ja. Wir haben ja über den Personenkreis geredet. Und ich glaube, dass diejenigen, die mit wenig Geld sich verwirklichen können, gut ausgebildete Menschen sind, die für sich die Entscheidung getroffen haben, sie wollen einen anderen Lebensstil pflegen. Sie kommen mit wenig Geld aus und arbeiten irgendetwas, veräußern irgendetwas und können damit leben.
Der Personenkreis, über den wir eben im Ruhrgebiet gesprochen haben, hat aber gar nicht die Entscheidung getroffen, dass er mit wenig Geld leben will und damit gut auskommen kann. Das ist eigentlich der typische Mensch, der in einer Helfertätigkeit strukturiert am besten tariflich entlohnt zurechtkommt. Und da sollte man ihm hin helfen und sollte ihm nicht tausend Euro geben und ihn in Ruhe lassen. Dann bleibt er nämlich da sitzen. Und das ist schlecht.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Scheele, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Detlef Scheele, 1956 im Hamburg geboren, war Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium und Senator für Arbeit und Soziales in Hamburg, bevor in den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit berufen wurde, an deren Spitze er seit April 2017 steht.

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