Arabischer Frühling

Mehr als Muslimbrüder

Von Jan Schleusener · 22.12.2013
Imad Mustafa zeigt mit seiner Studie, dass der politische Islam keineswegs ein homogenes Phänomen ist. Er porträtiert verschiedene Gruppen und gibt dem Leser damit einen Schlüssel, den Umbruch in der arabischen Welt besser zu verstehen.
In den Nachrichten ist es ruhiger geworden um Ägypten und andere Länder der "Arabellion". Der Sturz des langjährigen Staatschefs Husni Mubarak, die Machtübernahme der Muslimbrüder und der Putsch der Militärs am Nil haben schlagartig vorgeführt, dass islamische Bewegungen nur bedingt politik- und regierungsfähig sind.
Imad Mustafa stellt einige dieser Bewegungen und Parteien vor. Er legt die Ursprünge islamischen Denkens dar und analysiert dessen religiös-ideologische Basis. Auch ihre Einstellungen zur Wirtschaft oder zum Staat Israel kommen zur Sprache.
Das Spektrum reicht von den ägyptischen Muslimbrüdern und ihrer neu gegründeten "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" über die salafistische "Partei des Lichts" bis zu Hamas in Palästina und Hizbollah im Libanon.
Der deutsche Politikwissenschaftler mit palästinensischen Wurzeln will die Texte und Reden islamischer Protagonisten dem Leser klar vor Augen führen - daher zitiert er immer wieder längere Passagen, die damit zum Teil erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen.
Imad Mustafa erklärt sogar sozioökonomische Fragen
Das gibt dem Band fast den Charakter einer kleinen Quellenkunde, die besonders dort interessant wird, wo sie Leerstellen der öffentlichen Diskussion füllt, beispielsweise bei sozioökonomischen Fragen. Bekanntlich ergreifen viele islamische Bewegungen Partei für die Armen und Entrechteten. Daraus aber auf eine sozialistische Ausrichtung zu schließen, hielte der Autor für falsch:
"In wirtschaftspolitischen Fragen folgen sie oftmals einem kapitalistischen Modell, das man getrost als neoliberal bezeichnen kann.
Moderner Islam und freie Marktwirtschaft stellen für islamische Parteien und Bewegungen keinen Widerspruch dar, sondern ergänzen und vervollständigen sich gegenseitig.
Soziale Probleme werden zwar benannt, Lösungsvorschläge erarbeitet, aber immer im Rahmen bekannter und bestehender Konzepte."
Lediglich zwei Prinzipien müssten in einer islamischen Wirtschaftsordnung erfüllt sein: der Schutz des Eigentums sowie das im Koran festgelegte Gebot der Fürsorge. Dem Staat wird eine eher schwache Rolle zugeschrieben.
So postuliert es auch die ägyptische "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei", die Partei des inzwischen gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in ihrem Programm.
"Wirtschaftliche Freiheit und ehrlicher Wettbewerb sind die Grundlage des Fortschritts; daraus folgt für den privaten Sektor eine zentrale Rolle im ökonomischen Leben Ägyptens. Die Durchsetzung öffentlicher Interessen darf nicht auf Kosten individueller Rechte und individueller ökonomischer Freiheiten geschehen."
Zudem lehnt es die Partei der Muslimbrüder strikt ab, über Subventionen die Entwicklung der Wirtschaft zu steuern.
Als einzige Bewegung, die immer wieder die soziale Frage auf die Tagesordnung setzt, nennt Imad Mustafa die libanesische Hizbollah. Sie fordert etwa die Einführung einer Krankenversicherung sowie einer Rentenkasse. Soziales Engagement und militärischer Widerstand seien wichtige Komponenten ihres Dschihad.
Es falle allerdings auf, wie sehr sie die Interessen von Arbeitern, kleinen Angestellten, Arbeitslosen und Armen vertrete, sich in antikapitalistischen und globalisierungskritischen Attacken gefalle. Dagegen aber selten religiös argumentiere.
Ideologisch verzerrte Realität
Am Beispiel der palästinensischen Hamas beschreibt er, dass sich die politischen Bewegungen des Islam im Laufe der Jahrzehnte gewandelt haben. Aus einem religiös und sozial engagierten Netzwerk, das bewusst politisch zurückhaltend auftrat, dafür gesellschaftlich in den Kommunen erstarkte, erwuchs militärisch agierender Widerstand, aus dem sich schließlich eine politische Partei entwickelte.
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Cover: Imad Mustafa "Der Politische Islam"© Verlag Promedia, Wien
So führte der Weg der Hamas, von regionalen Muslimbrüdern neu gegründet, von der ersten Intifada 1993 über die Terrorpolitik mit Selbstmordattentaten in israelischen Städten bis zur Beteiligung an Wahlen und schließlich, nach einem Erdrutschsieg, in Regierungsverantwortung.
"Bemerkenswert an diesem Prozess der strategisch-politischen Anpassung bleibt die Geschwindigkeit, in der er sich vollzog. Es dauerte nur wenige Jahre, bis sich die Hamas von einer militärischen Widerstandsbewegung in eine politische Partei verwandelte, die siegreich aus ihrer ersten Beteiligung an nationalen Wahlen im Jahr 2006 hervorgehen sollte."
Es ist ein großes Verdienst von Imad Mustafas Studie, die Vorstellung zurückzuweisen, der politische Islam sei eine homogene Bewegung. Differenziert beleuchtet er unterschiedliche Positionen, weist meinungsfreudig auf Ungereimtheiten hin und zeigt, wie hier und da die Realität ideologisch verzerrt wird.
Auf die aktuelle politische Großwetterlage blickt er mit Skepsis: Der politische Islam hätte sich in der Opposition bewährt; durch die Übernahme von Verantwortung drohe ihm jetzt eine Entzauberung.
"Die FJP in Ägypten hat das im Sommer 2013 schmerzhaft erfahren. Die Völker sind ungeduldiger geworden, sie wollen Ergebnisse sehen.
Die Erfahrungen des Umbruchs [...] haben den Menschen in der ganzen Region ein neues Selbstbewusstsein gegeben, angesichts staatlicher Repression und Vetternwirtschaft nicht tatenlos zusehen zu müssen."
Dennoch sei es zu früh, mahnt er, einen "Arabischen Herbst" auszurufen, aus Enttäuschung, die Islamisierung mache alle demokratischen Hoffnungen zunichte. Er zeigt, dass es, bei aller berechtigten Skepsis, auch gute Gründe gibt, Zutrauen in die Gestaltungskraft islamischer Bewegungen zu haben.
Wer die Hintergründe und Ursachen des Aufruhrs in der arabischen Welt besser verstehen will, hat dafür nun mit Imad Mustafas Buch den passenden Schlüssel zur Hand.

Imad Mustafa: Der politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah
Promedia Verlag Wien, Herbst 2013
232 Seiten, 17,90 Euro

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