Apokalypse demnächst

15.06.2012
Eigentlich wissen wir, wie die Lage ist: unsicher, krisenhaft, Staaten verlieren an Bedeutung, die Unterschiede zwischen Arm und Reich nehmen zu. Doch was, wenn die Situation eskaliert? Genau das passiert in Christian Schüles Roman.
Der Roman ist die fortgedachte Lage, in der wir uns befinden: Unsicherheit, Finanzkrise, Wirtschaftskälte, Entlassungswellen, der Bedeutungsverlust von Staaten bei gleichzeitigem Erstarken anonymer Marktmacht, die weiter aufgehende Schere zwischen Arm und Reich. Es liegt etwas in der Luft, etwas, das nicht nach Evolutionärem riecht, sondern ein Geschehen mit Paukenschlag befürchten lässt.

Diese augenblickliche Grundstimmung nimmt Christian Schüle zum Ausgangspunkt seines Gedankenexperiments. Was, wenn sich die Menschen das alles nicht mehr gefallen lassen? Den Verlust von Sicherheit und Werten, den immer unverfrorener zur Schau getragenen Reichtum der - noch - Jungen, Erfolgreichen, den Zynismus flüchtigen Wirtschaftens ohne Anspruch auf Dauerhaftigkeit, wo Werbung alles und Inhalt nichts ist.

Schüle siedelt die Handlung in seiner unmittelbaren Heimat Hamburg an. Da treten sie noch auf, die Pfeffersäcke, wie man dort die wohlhabenden Handelsherren nennt. Doch sie werden zunehmend durch die aalglatten Typen ersetzt, deren Oberflächlichkeit mit gestanzten Phrasen genährt wird, denen im Leben nichts wichtig zu sein scheint, außer der eigene Erfolg, um damit eigene narzisstische Bedürfnisse befriedigen zu können.

Hans-Joachim Hegenbarth scheint so einer zu sein, und sein engster Mitarbeiter, Jan-Philipp Hertz, ist ihm ähnlich. Bis sich ihre Wege trennen: Ersterer bleibt im Boot, der andere wird abserviert. Schluss mit den Sakkos aus feinem Zwirn und den handgenähten Schuhen, all den Symbolen, mit denen in finanziell ebenbürtigen Kreisen unterschwellig kommuniziert wird.

Das neue Wirtschaften verschont niemanden, die Unbarmherzigkeit eines Systems, in dem der Mensch dem Menschen zum Wolf wird und diejenigen, die noch "drinnen" sind, im Hamsterrad um ihr Leben laufen, lässt auch altgediente Firmenpatriarchen straucheln. Doch mit einem Mal nehmen diese Verlierer den Kampf auf.

Der Autor führt die gegenwärtige Entwicklung lediglich um eine kleine Drehung weiter, er lässt die Situation eskalieren. Auslöser sind Anschläge auf Fahrradboten, "die Pest unserer Tage. Sie kämpfen wie Partisanen gegen die stabile Ordnung." Diese Ordnung wollen einige wieder herstellen, beispielsweise die Revitalisten. Und so kommt es zur Rebellion in Hamburg.

So wie es der Autor erzählt, ist es lediglich der logische Tropfen, der das Fass globalen Unbehagens zum Überlaufen bringt. Ehrliche und falsche Erlöser treten auf, manche nisten sich sogar in ehemaligen Kirchen ein. Es ist so etwas wie ein Zerrspiegel, in dem Christian Schüle die heutige Welt zeigt. Nur ein wenig ist der Spiegel verrückt, aber dadurch wird ihre Dekadenz, das Hohle der Werbesprüche spürbar und sichtbar. Indem Schüles Fiktion eng an der Wirklichkeit des Hamburg von heute bleibt, wird der Roman beklemmend, zur Warnung, nicht so weiter zu machen wie eben jetzt.

Dabei handelt es sich weder um einen utopischen Roman noch um einen Krimi. Schüles Text zeichnet ein hohes Maß an Fantasie aus, mit der er seine Protagonisten und ihre Biografien ausstattet. Der Autor hat die Gesellschaft genau beobachtet und stellt die neureichen Möchtegerns detailverliebt in ihrem aufgesetzten Habitus bloß. Streckenweise gelingen ihm auch durchaus witzige Betrachtungen, wenn es einmal nicht um die Beschreibung des Überfluss-Ambientes jener sich über den Luxus Definierenden, sondern um Szenen des mitunter gnadenlosen Alltags handelt. Sprachlich gelingen ihm erheiternde Konstruktionen, über selten unterlaufende Journalistensprache wie den Anglizismus, dass etwas "Sinn macht", sieht man dann hinweg.
Besprächen von Stefan May

Christian Schüle: Das Ende unserer Tage
Roman, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012
457 Seiten, 22,95 Euro
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