Antirhetorik einer mörderischen Wirklichkeit

Von Eberhard Spreng · 26.04.2010
Kolumbiens Jugend und seine junge Kunst lässt sich den Mut zum Träumen nicht mehr nehmen. Das verdeutlicht das Festival "Libertad y Desorden – Arte Joven de Colombia", das derzeit im Hebbel am Ufer in Berlin stattfindet.
In der vorwiegend von Afrokolumbianern bewohnten Pazifikregion Cauca feiert man immer am 28. Dezember ein bizarres Fest: Wild kostümierte Gestalten laufen mit Peitschen durch die Straßen und teilen an fast alle Peitschenhiebe aus, die ihnen in die Quere kommen.

"Los Santos Inocentes", das "Fest der unschuldigen Kinder" lautet skurrilerweise ein Brauch, bei dem sich ein ursprünglich katholisches Fest - die Erinnerung an den Kindermord von Bethlehem – mit der Verarbeitung der kolumbianischen Bürgerkriegserfahrungen mischt.

Vertreibungen der Landbevölkerung, willkürliche Exekutionen und Massaker gehören zur Erfahrungswelt der Menschen in der Stadt Guapi; ihre Region ist mehr als andere von Kämpfen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Regierungssoldaten gezeichnet. Das Mapa-Teatro, eine in Bogotá installierte Theatergruppe, verbindet in seiner Arbeit die traditionelle Kultur der Afrokolumbianer mit der modernen Wirklichkeit Kolumbiens, einer die Vorstellung übersteigernden Brutalität. Das kurze, aus Musik, Performance und Videoprojektion kollagierte Theaterstück endet wortlos mit der Projektion eines beklemmenden schriftlichen Bekenntnisses: Paramilitärs listen in protokollarisch nüchterner Sprache die Bilanz ihre Mordtaten auf: Namen, das Todesdatum, eine knappe Prosa des Tötens, die Antirhetorik einer mörderischen Wirklichkeit.

Aber nicht alle Worte der Toten sollen folgenlos verhallen. In einer von zwei Videoinstallationen des Carlos Motta sehen wir Darsteller, die auf zentralen Plätzen in Bogotá die Reden von linken oder liberalen Politikern verlesen, die in der Vergangenheit im Rahmen von Wahlkämpfen ermordet worden sind. Dieses "Re-Inactment" will Gerechtigkeit wenigstens auf der narrativen Ebene wiederherstellen und steht, zumal während des kolumbianischen Präsidentschaftswahlkampfs, emblematisch für das Programm "Freiheit und Unordnung" im Berliner HAU: Es geht um die Wiederaneignung der kolumbianischen Geschichte und der kolumbianischen Öffentlichkeit mit den Mitteln der Kunst, wie der Co-Kurator Matthias Pees erklärt.

"Uns hat interessiert, wie sich in der Arbeit von Künstlern eine Form von Auswegsuche, Versuch von Utopie, Versuch von zivilgesellschaftlicher Aneignung dieser Diskurse und Rückeroberung dieser Diskurse zeigt. Ein Kampf gegen Ohnmacht, ein Kampf gegen Ausgeliefertsein an einen Zustand, der ein Dauerzustand geworden ist und bei dem keine Politik Abhilfe verspricht."

Einen geradezu privaten Zugang zur kolumbianischen Wirklichkeit hat der aus Medellín stammende Autor und Regisseur Jorge Hugo Marín in seinem Stück "Familienangelegenheiten" gefunden. Das Publikum sitzt in einem kleinen Hinterhofidyll und blickt durch eine Glaswand in ein Wohnzimmer, in dem sich die erwachsenen Söhne und die Tochter einer alten Frau einfinden.

Es geht um die Frage, wer die hilfsbedürftige Mutter bei sich aufnehmen soll. Hyperrealistisch und doch nie in den platten Boulevard abgleitend, spielen die vorzüglichen Akteure der frisch gegründeten Compagnie diese Geschichte einer modernen kolumbianischen Familie, während die Schauspieler des Teatro Petra ihre Version des Shakespeareschen "Titus Andronicus" als milde ironisches bis grotesk komisches Defilee vorführen.

Ein zerknirschter Titus beklagt die Verstümmelung seiner Tochter Lavinia. Anstelle der großen Shakespeare-Bühne erblickt der Zuschauer von den beiden kleinen Arenarängen, die den schmalen Schauplatz säumen, nichts als drei Küchentische, an denen mit dem Gemüse das gemacht wird, was beständig den Menschen droht. Das Gemetzel dieses wohl blutrünstigsten Stückes des elisabethanischen Autors ist hier eine Sache von Messer und Karotte, Staudensellerie und Tomate. Selten sah man Shakespeare so aufs Küchenformat konzentriert, sah Wort und Mord so nah zueinandergerückt in ein und derselben Aktion.

Und noch einmal nahm ein Künstler des Festivals "Libertad y Desorden" Shakespeares Dramatik für die kolumbianische Gegenwart in Besitz. "Cundinamarca ist nicht Dänemark – Hamlet oder der Dialog mit den Geistern" spielt mit vielfältigen semantischen und symbolischen Überblendungen: Da ist die phonetische Nähe der Hauptstadtprovinz "Cundinamarca" zum spanischen Wort "Dinamarca", das "Faule im Staate Dänemark" und das Faule im Regierungssystem Kolumbiens, da ist eine weiße Wand, auf der der Actionpainter Juan Aldana mit schwarzer Farbe unentwegt Schriftzüge malt und wieder auswischt, während Videobeamer ihrerseits Schriftzeichen projizieren und in der Unschärfe verschwinden lassen – ein subtiles Spiel mit virtuellen und realen Übermalungen und Auslöschungen. Hamlets Geister nehmen hier nur Gestalt an als Symbole und Zeichen, sind semantische Reste einer beständig zerfallenden Welt.

Mil Santos ist ein in Berlin lebender Sänger aus Kolumbien. In sein Konzert kamen viele aus der kolumbianischen Gemeinde mit grünen Luftballons. Sie bekundeten damit anlässlich des Präsidentschaftswahlkampfes ihre Sympathie für den Kandidaten der gerade mal sechs Monate alten Grünen Partei: Bogotás Ex-Bürgermeister Antanas Mockus, dessen Umfragewerte spektakuläre Zuwächse haben. Einem schier unendlichen Bürgerkrieg und der gesellschaftlichen Zerrissenheit zum Trotz: Kolumbiens Jugend und seine junge Kunst lässt sich den Mut zum Träumen nicht mehr nehmen.

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