Antes: Klinische Studien werden bewusst zurückgehalten

Gerd Antes im Gespräch mit Britta Bürger · 02.08.2011
Der Direktor des Cochrane-Zentrums an der Uni Freiburg, Gerd Antes, wirft der Pharmaindustrie vor, Forschungsergebnisse nicht zu veröffentlichen, um Nachrichten über potentielle Schäden oder den fehlenden Nutzen von Medikamenten zu vermeiden.
Britta Bürger: Am Telefon begrüße ich jetzt Gerd Antes, der sich an der Uniklinik Freiburg ausführlich mit der Transparenz solcher Studienpublikationen befasst. Schönen guten Tag, Herr Antes!

Gerd Antes: Schönen guten Tag aus Freiburg!

Bürger: Übt die Pharmaindustrie tatsächlich nur, wie eben eingeräumt, gelegentlich Einfluss aus?

Antes: Nein. Das würde ich so nicht formulieren. Ich glaube schon, das liegt in der Natur der Sache, dass, wenn ich viel Geld investiere, ich natürlich auch versuche, Einfluss auszuüben. Und das ist in vielen Arbeiten untersucht worden, es ist nur sehr schwer, das zahlenmäßig einzugrenzen. Insofern kann man die Frage prinzipiell mit Ja beantworten. In der Anmoderation die Aussage, dass es ohne diese Sponsoren nicht geht, ist auch völlig richtig. Jetzt ist die Frage, wie man das Beste draus macht.

Bürger: Aber können Sie dennoch Belege liefern für diese unseriöse Praxis, wenn nicht konkrete Zahlen – aber Sie sagen, es gibt Untersuchungen?

Antes: Ja, ja! Es gibt eine Fülle von einzelnen Beispielen. Tamiflu ist eins der letzten Beispiele, wo die Firma Roche von den Studien, die zu dieser Frage gemacht worden sind – also, wie wirksam ist Tamiflu bei Grippeerkrankungen –, von ich glaube, wenn ich mich richtig erinnere, acht Studien immer noch sechs unter Verschluss hält. Und das trotz erheblicher öffentlicher Kritik.

Bürger: Welche Informationen wurden der Öffentlichkeit und ja auch den behandelnden Ärzten damit vorenthalten?

Antes: Ja, die Tendenz ist natürlich klar. Dann, wenn ich bewusst was zurückhalte, ist immer der Nutzen natürlich das, was ich laut in die Öffentlichkeit bringe. Und potentielle Schäden oder auch Nachrichten über fehlenden Nutzen werden dann zurückgehalten, sodass das Gesamtbild verzerrt ist.

Bürger: Das heißt, durch die gezielte Unterdrückung von Medikamentenstudien wird den Menschen nicht etwa geholfen, sondern im Gegenteil, sie werden großen Gefahren ausgesetzt, bis hin zu tödlichen Folgen. Das haben Sie an Ihrem Institut an einem anderen drastischen Beispiel untersucht: Da ging es um ein Medikament, das Patienten nach einem akuten Herzinfarkt schützen sollte, allerdings sind viele Patienten nach der Einnahme des Medikaments gestorben. Wie hätte hier Schaden abgewendet werden können?

Antes: In dem Beispiel, was Sie gerade genannt haben – das ist ein sehr bekanntes Beispiel in Fachkreisen aus den 80er-, 90er-Jahren –, ist ein Medikament im sogenannten Off-Label-Use benutzt worden. Das heißt, es ist nicht für den Zweck eingesetzt worden, für den es ursprünglich entwickelt wurde – das war in dem Fall die Minderung von Herzrhythmusstörungen –, sondern als Mittel für akuten Herzinfarkt. Und dann hat es dort zehn Jahre gedauert, bis man erkannt hat, dass tatsächlich eine Schädigung eintritt. Der wahre Skandal an der ganzen Geschichte war, dass nachträglich herauskam – und zwar von denjenigen selbst publiziert, die es gemacht hatten –, dass 1983 eine Studie sehr deutlich drauf hinwies, dass dort etwas schiefgehen könnte, dass diese Studie nicht publiziert worden ist, und zwar ganz klar formuliert, weil es kein ökonomisches Interesse gab, dieses Medikament weiterzuentwickeln.

Bürger: Der frühere Leiter des Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Peter Sawitzki, der hat bereits vor fünf Jahren behauptet, dass durch die Nicht-Veröffentlichung von Medikamentenstudien allein in den USA schon mehr Menschen als im Vietnamkrieg umgekommen seien. Kann man das so stehen lassen, Herr Antes? Das hieße ja, wir reden nicht über einzelne Todesfälle, sondern über mehrere Millionen Tote durch manipulierte Medikamentenforschung!

Antes: Ja, den Satz, den er da aufgegriffen hat, der ist in einem Buch – wenn ich mich richtig erinnere – im Jahre 93 genau so formuliert worden; und dem ist nichts hinzuzufügen. Das stimmt so, ja. Das sind natürlich immer statistische Werte, das heißt, ich kann jetzt nicht sagen, dass genau dieser Mensch gestorben ist, weil er so behandelt worden ist. Aber es gibt sehr zuverlässige Methoden, das im Mittel so zu untersuchen und festzuschreiben, dass daran nicht der geringste Zweifel besteht.

Bürger: Wenn es sich also nicht um Einzelfälle handelt, dann fragt man sich, warum das überhaupt möglich ist. Jede klinische Studie muss schließlich von einer der über 50 Ethikkommissionen in Deutschland geprüft werden. Kann man dem Urteil dieser Kommissionen nicht trauen?

Antes: Doch, aber man muss dort sehr sorgfältig unterscheiden zwischen dem, was die Ethikkommission macht – was die primäre Aufgabe ist, und das ist tatsächlich die ethische Bewertung vor Beginn der Studie. Ethikkommissionen verfolgen nur in Einzelfällen und dann auch eher aus dokumentarischen Gründen, ob eine Studie publiziert worden ist. Und meines Wissens hat keine einzige Ethikkommission die technischen Mittel, die Kapazität und auch die Macht, darauf zu drängen, dass eine Studie publiziert wird. Also, insofern würde ich nicht mal sagen, dass Ethikkommissionen hier ein zahnloser Tiger sind – es ist einfach nicht ihre Aufgabe im gegenwärtigen Stadium, aber es könnte sehr wohl ihre Aufgabe sein.

Bürger: Und wessen Aufgabe müsste es überhaupt sein? Wie könnte mehr Transparenz geschaffen werden?

Antes: In dem Falle ist die Antwort sehr einfach: der Gesetzgeber! Die USA haben schon seit Jahren ein Gesetz, das die Registrierung – also praktisch die Geburtsurkunde, die öffentlich im Internet einsehbar ist –, zu Studienbeginn zu machen, und zweitens die Kernergebnisse auch im gleichen Register zu publizieren. Und leider hat der deutsche Gesetzgeber die Gelegenheit bei der letzten Novellierung des Arzneimittelgesetzes wiederum versäumt, das auch in dieser Klarheit dort aufzunehmen. Das ist eigentlich an der Stelle ein sehr einfacher Weg. Dass es dann funktioniert, ist immer noch nicht damit garantiert, weil es sehr, sehr viele Störfaktoren gibt, die das Leben dann praktisch sehr viel schwieriger machen, als man auf den ersten Blick denkt.

Bürger: Der deutsche Weg ist einer, der europäische ein anderer. Karl Heinz Rahn, der Präsident der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften, hat in dem bereits erwähnten Gespräch auch versucht, die positiven Entwicklungen herauszustellen und in diesem Zusammenhang mit Blick auf Europa folgendes gesagt:

Karl Heinz Rahn: Es gibt auf europäischer Ebene jetzt einen Fortschritt, der doch hoffen lässt. Es gibt ein Register, das sogenannte Eudra CT, auf europäischer Ebene, wo alle Arzneimittelhersteller alle Studien melden müssen, auch die Ergebnisse.

Bürger: Ist das ein Weg, Herr Antes, der tatsächlich Fortschritt bringen könnte, das Verfahren auf europäischer Ebene?

Antes: Zweifellos ja. Man muss nur dort auch gleich wieder etwas Wasser in den Wein kippen: Die Entscheidung, dass das in diese Richtung gehen soll, ist 2003 gefallen, dann hat es acht Jahre gedauert. Und was meistens übersehen wird, was noch wirklich viel fataler ist, das sind nur Arzneimittel, und der wirklich ungeregelte Bereich von Nicht-Arzneimitteln – alle Studien, die es daneben gibt, die fast die Hälfte ausmachen von durchgeführten Studien –, werden dort nicht erfasst.

Bürger: Sie selbst haben das Deutsche Register Klinischer Studien (DRKS) mitinitiiert, darin werden jetzt aber nur Studien auf freiwilliger Basis registriert. Was kann so was überhaupt bringen?

Antes: Die freiwillige Basis, die hat einen Hintergrund, der für einige Forscher sehr schmerzhaft ist: Es gibt seit circa vier Jahren die Bestimmungen, dass die großen Zeitschriften Studien nur noch publizieren, wenn sie zu Beginn registriert worden sind. Das sieht auf den ersten Blick alles erst mal freiwillig aus, aber wir haben schon Tränen gesehen, wenn Forscher nach vielen Jahren sorgfältiger und wertvoller Arbeit ihr Manuskript postwendend zurückgeschickt bekommen, nur deswegen, weil sie die Registrierungsnummer nicht dabei hatten. Diese Gefahr ist viel größer als die meisten ahnen. Das ist zwar noch keine gesetzliche Vorgabe, aber eine praktische, die in vielen Fällen besser funktioniert als eine gesetzliche Vorgabe.

Bürger: Ein erster Weg. Mehr Transparenz und Kontrolle im Gesundheitswesen fordert Gerd Antes von der Universitätsklinik Freiburg, insbesondere was die Veröffentlichung aller klinischen Studien angeht. Ich danke Ihnen, Herr Antes, für das Gespräch!

Antes: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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