Anschlag in Halle

Orte des Terrors, Orte des Mitgefühls

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Blumen und Kerzen stehen in Halle neben der Tür zur Synagoge, vier Tage nach dem rechtsextremistischen Anschlag auf die Gemeinde
Blumen und Kerzen vor der Synagoge in Halle: Gewalt von Rechtsextremisten, folge einer topographischen Ordnung, meint Wolfgang Kaschuba. © picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Eine Aufforderung von Wolfgang Kaschuba · 15.10.2019
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Tausende zeigten nach dem Anschlag in Halle ihre Solidarität mit den Opfern rechtsextremer Gewalt. Vergleichbar sollten wir mit den Orten dieses Terrors umgehen, fordert der Ethnologe Wolfgang Kaschuba – egal ob Synagoge, Moschee oder Döner-Imbiss.
"Topographie des Terrors", so heißt die Erinnerungsstätte an das Hauptquartier der Gestapo in Berlin - im Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Holocaust.
"Topographie des Terrors" könnte aber auch als Überschrift stehen über den Verbrechen und Anschlägen der Rechtsextremen - wie nun zuletzt in Halle am 9. Oktober.
Denn "Topographie": Das ist die Lehre von den Orten. Die Vorstellung einer festen räumlichen Ordnung, wie sie etwa in unseren Städten sichtbar wird: Wo Verkehr, Häuser, öffentliche Räume, aber auch Kirchen und Denkmäler sich zu einer symbolischen Gliederung des Stadtraumes fügen.

Rechter Terror markiert die Orte

Vor allem die systematische "Verdenkmalung" der deutschen Städte im 19. Jahrhundert schuf solch eine feste topografische Ordnung: Mit den Namen und Skulpturen deutscher Kriegs- und Geisteshelden wurden lokale Räume und Straßen zu Orten heroisch-nationaler Erinnerung.
Solch einer topographischen Ordnung folgt heute auch der rechte Terror - in einem etwas anderen Sinn. Denn er zielt auf vermeintlich "exterritoriale Orte" in unserer Gesellschaft, auf "Orte der anderen", der Fremden - wie Synagogen und Moscheen, Migrantenvereine und Antifa-Initiativen, Frauenhäuser und Schwulen-Cafés, Döner-Stände und religiöse Schulen.
Sie alle scheinen den Rechten als "exterritorial" markiert: als nicht "zu uns" gehörig - wegen ihrer angeblich "fremden" Kultur, Religion, Herkunft. Dies seien doch Orte, die uns "echten" Deutschen nicht wirklich vertraut seien, die uns nach wie vor "befremden" würden: beim Betreten einer Synagoge oder Moschee, eines türkischen Cafés oder afrikanischen Imbisses.

Anknüpfung an Unwissen und Emotionen

So appelliert diese rechte "Topographie des Terrors" auch an unsere symbolische Ordnung des Raumes. Sie suggeriert, dass doch wir alle solch einer heimlichen Einteilung in "unsere" und "andere" Orte folgen. Und sie versucht damit, an altem Differenzdenken und dumpfen Bauchgefühlen, an Unwissen und Emotionen anzuknüpfen. Unsere diffusen und verdrängten "sozialräumlichen" Vorurteile sollen den Rechten gezielt als Echokammern dienen für ihre fremdenfeindlichen Haltungen.
Offenbar nicht ohne Erfolg: Weil wir im Alltag tatsächlich viele dieser "Orte der anderen" meiden. Weil wir so zu oft noch dazu neigen, auch die anderen damit auszugrenzen. Weil wir sie damit aus dem "Wir" ins "Die" verschieben und sie dort austauschbar machen als "Fremde".
Auch deshalb murmelt der Mörder von Halle nach der fehlgeschlagenen Erstürmung der Synagoge in seine Helmkamera: "Dann eben die Kanaken!" Und erschießt einen Mann im Döner-Imbiss.
Gegen diese rechte "Topographie des Terrors" also, die uns heimtückisch in Komplizenschaft oder Geiselhaft nehmen will, hilft nur eine entschiedene politische und symbolische Gegenstrategie.

Orte der "anderen" in gemeinsame Lebenswelt einbeziehen

Dabei müssen wir diese Orte der "anderen" sehr viel bewusster noch in unsere gemeinsamen Alltage und Räume einbeziehen, müssen sie buchstäblich "vergesellschaften" und "eingemeinden" in die symbolische Ordnung, in die "Topographie" unserer gemeinsamen Lebenswelt.
Nur so, durch zivilgesellschaftliche Integration, kann unser Alltag sicherer für alle werden. Die Polizei ist gegen vorher unauffällige Einzeltäter wie in Halle vielfach hilflos. Auch wenn Synagogen und Moscheen noch besser gesichert sein müssen als bisher.
Doch nur wir selbst sind es letztlich, die gemeinsam unsere Räume und Orte, unsere Lebenswelten und Lebensstile sichern müssen und sichern können: gegen diese Einzeltäter wie gegen ihre Helfer im Hintergrund, von den Rechtspopulisten bis zu den Rechtsextremisten.
"Exterritorial", also ausgebürgert werden müssen hingegen endlich Hass und Gewalt - und deren Träger und Täter!

Wolfgang Kaschuba, geb. 1950 in Göppingen, war von 1992 bis 2015 Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Er ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für empirische Migrations- und Integrationsforschung der HU und Vorsitzender des Fachausschusses Kultur und des Beirates Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der Deutschen UNESCO-Kommission. Letzte Buchpublikation: "Tempelhof. Das Feld. Die Stadt als Aktionsraum" (Berlin 2014).

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