Angst vor der Wahrheit

14.09.2012
In Boualem Sansals "Rue Darwin" spiegelt sich die Hassliebe des algerischen Schriftstellers zu seiner Heimat wider, in der er als einer der wenigen kritischen Schriftsteller bis heute ausharrt. Zentrales Thema des Romans ist die ungemein menschliche Angst vor der Wahrheit.
Als Boualem Sansal 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, war er selbst überrascht: Überrascht, dass ein Schriftsteller aus Algerien, diesem abgeschotteten Land, einen so wichtigen europäischen Preis bekam. Sansal wurde unter anderem dafür ausgezeichnet, dass er sich immer wieder mit seiner Heimat kritisch auseinandersetzt, und das tut er auch in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman "Rue Darwin".

Vordergründig erzählt Sansal von Yazid. Yazid trifft nach vielen Jahren seine Geschwister am Sterbebett ihrer Mutter in Paris wieder. Er meint eine Stimme zu hören, die ihm zuflüstert: "Geh, kehre zurück in die Rue Darwin." In der Rue Darwin im Viertel Belcourt von Algier sind er und seine Geschwister aufgewachsen. Nach seiner Rückkehr nach Algerien macht Yazid sich auf den Weg.

Mit dem Besuch in der Rue Darwin (die Yazid kaum wiedererkennt, weil das Viertel heute fest in der Hand der Islamisten ist) kehren seine Kindheits-Erinnerungen zurück: Yazid und seine Geschwister sind arm, aber glücklich aufgewachsen. Erst als auch noch Farroudja stirbt, eine gute Freundin der Mutter, erfährt er die ganze Wahrheit: Yazid kam erst mit acht Jahren in die Rue Darwin. Vorher hat er im Dorf von Djeda gelebt, und Djeda war eine Art Puffmutter, die außerdem ein weltumspannendes Geschäfts-Imperium leitete und mit den hohen Herren auf der ganzen Welt per du war.

Sie war eine strenge Herrscherin, vor allem in ihrem Bordell: Frauen, die bei ihr schwanger wurden, mussten abtreiben. Aber das ein oder andere Kind kam doch zur Welt, so auch Yazid - "Arbeitsunfälle" nennt Sansal diese Kinder, die Djeda ihren Müttern wegnimmt. Yazids Mutter Farroudja und ihre Vertraute entführen ihn Jahre später in die Rue Darwin, was er immer geahnt hat. Doch die beiden Frauen wollten ihn schonen.

Sansal erzählt nicht nur die Biografie eines Individuums, sondern in dieser Familie spiegelt sich die algerische Geschichte seit den 1950er-Jahren; er beschreibt ein Land, das nie zur Ruhe gekommen ist. Yazid erlebt als Junge die archaische Welt von Djeda, in der ein Frauenleben nichts zählt. Die algerische Unabhängigkeit führt später zum Niedergang von Djedas Imperium. Yazids Geschwister verlassen das von der Einheitspartei regierte Land, das ihnen keine Perspektive bietet und das in den 90ern in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen Regierung und Islamisten schlittert, dessen Auswirkungen noch heute spürbar sind. Sansals Beschreibungen Algeriens sind wieder einmal durchdrungen von Hassliebe zu seiner Heimat, in der er als einer der wenigen kritischen Schriftsteller bis heute ausharrt.

Sein zentrales Thema in "Rue Darwin" ist die ungemein menschliche Angst vor der Wahrheit. "Die Wahrheit in Quarantäne zu halten" hat dazu geführt, dass Yazid nie richtig gelebt hat. Er bricht am Schluss in ein neues Leben auf, und das wünscht sich Sansal auch für Algerien: dass es sich von seinen Lebenslügen befreien möge.

"Rue Darwin" hat stilistische Schwächen, ist ein wenig redundant. Und Sansals anspielungsreiche, vor Doppeldeutigkeiten schillernde Sprache verliert in der Übersetzung von Christiane Kayser an Glanz. Trotzdem ist "Rue Darwin" ein wichtiges Buch, weil niemand so eindrücklich wie Boualem Sansal über seine zerrissene Heimat Algerien schreibt.

Besprochen von Dina Netz

Boualem Sansal: Rue Darwin
Übersetzung von Christiane Kayser
Merlin Verlag
266 Seiten, 24,90 Euro

http://www.litprom.de/weltempfaenger.html
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