Angst vor der Ansteckung

André Schmidt im Gespräch mit André Hatting · 21.10.2011
Die Kernfrage sei jetzt, wer die "Anpassungslasten" der Verschuldungskrise tragen müsse, meint der Wirtschaftswissenschaftler André Schmidt. Darüber gebe es elementar unterschiedliche Ansichten von Deutschland und Frankreich.
André Hatting: Am Wochenende treffen sich Europas Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Es soll mal wieder die Wirtschaftskrise bekämpft werden, aber vor Durchbrüchen und Patentlösungen wird einhellig gewarnt. Je näher der Gipfel rückt, desto geringer die Erwartungen, auch, weil die beiden größten Euroländer Deutschland und Frankreich sich nicht einigen können – aber worüber eigentlich?

Wir sind mitten im Wirtschaftsdickicht. Fast täglich kursieren neue Begriffe: Euro-Bonds, gezielte Insolvenz, Bankenstresstest, EFSF, tja, und zuletzt war sogar von einer Art Wunderwaffe die Rede, einem Hebel. Aber dass selbst deutsche Politiker nicht so genau wissen, was das nun wieder ist und ob er mehr Verpflichtungen bedeutet oder doch nicht, das zeigt der aktuelle Streit darüber. Wenn einer Bescheid weiß, dann André Schmidt, er ist Professor für internationale Wirtschaft an der Universität Witten-Herdecke und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Schmidt!

André Schmidt: Einen wunderschönen guten Morgen!

Hatting: Stimmt das, was ich gerade behauptet habe: Haben Sie den Durchblick?

Schmidt: Ja, ich glaube schon, dass Ökonomen noch in der Lage sind, die Probleme zu verstehen und die Probleme auch … oder über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Was ich nicht verschweigen möchte, ist natürlich, dass unterschiedliche Ansichten bezüglich der Krise bestehen.

Hatting: Das Wintersemester hat gerade begonnen – spielen wir jetzt mal Hörsaal. Erklären Sie uns Studenten doch mal in ganz einfachen Worten: Worum geht es jetzt eigentlich hier?

Schmidt: Also ich glaube, das Elementarste ist, wenn man über komplexe Probleme spricht, dass man die Probleme erst mal sauber identifiziert, und das heißt aber auch, dass man die Begrifflichkeiten der Probleme erst mal benennt. Und etwas, was mir immer an der öffentlichen Diskussion auffällt, ist: Wir sprechen immer in der öffentlichen Diskussion über Eurokrise, und da muss man ehrlich sagen, dass dieser Begriff falsch gewählt ist. Wir haben keine Eurokrise, wir haben eine Staatsverschuldungskrise im Euroraum. Ich glaube, dass das erst mal ganz, ganz wichtig ist für das Verständnis.

Das Zweite ist dann, dass man sich überlegt: Was kann man bei einer Überschuldungskrise tun? Und da gibt es verschiedene Ansätze: Man kann die Einnahmen erhöhen, man kann auf der anderen Seite die Ausgaben kürzen, da gibt es die verschiedenen Möglichkeiten, und dann kann man fragen: Welche dieser Möglichkeiten ist problemadäquat, das heißt, welche geht an die Ursache des Problems? Und im Euroraum, was wir jetzt diskutieren, das ist immer die Kernfrage: Wer trägt die Anpassungslasten dieser Verschuldungskrise, also wer soll die Lasten der griechischen Überschuldung tragen? Und das ist auch der Streitpunkt zwischen Deutschland und Frankreich oder innerhalb der EU.

Hatting: Sind sich da nicht zumindest die Seiten einig, dass die alle irgendwie schultern müssen, diese Lasten, nur geht es da ums Detail, ob nun … wie stark nun der private Sektor beteiligt werden muss. Sie habe ich gerade so verstanden, als sei das genau der fundamentale Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich.

Schmidt: Natürlich gibt es Einigkeit darüber, dass es letzten Endes um eine Kombination der Anpassungslasten geht, und wenn man über die Kombination der Anpassungslasten spricht, muss man auch fragen: Wie wirken diese gewählten Lösungsmöglichkeiten auf die entsprechenden Anreize? Und ich glaube, dass es zwischen Deutschland und Frankreich hier elementare Unterschiede gibt bezüglich der Anreizwirkungen für … und inwieweit man sozusagen die Entstehung weiterer Probleme am langen Ende verhindern will.

Hatting: Herr Schmidt, machen Sie es bitte mal konkret: Welche Anreizwirkungen meinen Sie jetzt genau?

Schmidt: Also die Anreizwirkung letzten Endes … Wie stark sind die Anreize, dass sich ein Land in Zukunft auch weiter verschulden wird, oder ob man sozusagen … Welche Anreize haben die entsprechenden Gläubiger, einzusteigen? Welche Anreize gibt es für die Steuerzahler, in dieses System mit einzusteigen? Und hier sind die elementaren Differenzen, dass beispielsweise Frankreich vor allem darauf abstellt, dass es erst mal um den Schutz der eigenen Gläubiger geht, und dass Deutschland stärker sozusagen die Gläubiger mit ins Boot holen will.

Hatting: Und um diesen Anreiz zu verstärken – so verstehe ich das bislang –, wird darüber nachgedacht, diesen Rettungsschirm zu hebeln, ist das richtig?

Schmidt: Ja, mit dem Hebel oder … Mit dem Rettungsschirm will man ja eins tun: Rettungsschirm heißt, dass man dem überschuldeten Land neue Mittel zufließen lässt, und gleichzeitig aber ja auch darüber nachdenkt, dass Länder oder dass die entsprechenden Gläubiger daran beteiligt werden. Jetzt hat man das Problem, dass es ja nicht nur in Griechenland Probleme gibt innerhalb der EU, sondern eben auch eine Reihe anderer Länder mit Verschuldungsproblemen zu kämpfen haben. Und wenn man jetzt die Gläubiger daran beteiligt, dass die Zweifel der Gläubiger an der Solidität einiger europäischer Volkswirtschaften zunehmen, sodass wir nicht nur in Griechenland ein Problem haben, sondern ein Ansteckungsproblem auf andere Länder.

Wenn man jetzt sozusagen Mittel zuweisen will, muss man darauf achten, dass man möglicherweise auch, wenn es zu solchen Ansteckungseffekten kommt, auch den davon betroffenen Ländern noch Mittel zufließen lassen kann, und das bedeutet, dass man eben versuchen will, die Summe möglichst sehr stark auszuweiten. Und die Idee eines Hebels ist, dass man einen bestimmten Geldbetrag den Ländern zur Verfügung stellt, und dann wie bei einer Teilkaskoversicherung eben nicht für 100 Prozent die Bürgschaft übernimmt, sondern nur für … wenn man sie nur für 50 Prozent nimmt, kann man den Betrag schon verdoppeln, für 20 Prozent … und so weiter, und so fort. Also man will möglichst einen großen Geldbetrag oder einen großen Betrag zur Verfügung stellen, um dann entsprechend mit Maßnahmen eingreifen zu können, und das soll auch glaubwürdig sein, glaubwürdig gegenüber den anderen Marktbeteiligten.

Hatting: Gut. Was ich dabei nicht so ganz verstehe, ist, dass ja vorher mit großem Brimborium ein sogenannter Stresstest für die Banken durchgeführt worden ist. Nach diesem Test hieß es, alles in Ordnung, Europas Banken sind soweit sicher, jetzt denkt man aber öffentlich darüber nach, diesen Banken Kapital zu geben. Also ist es so: Bei jedem neuen Gipfel gibt es eine neue Maßnahme, und das von gestern gilt schon nicht mehr? Woher kommt das?

Schmidt: Das kommt sicherlich daher, dass man sich immer noch nicht einig ist zum Beispiel, wie stark man die Banken in diesen Prozess mit einbeziehen will, und je stärker man sie natürlich mit einbezieht, desto stärker oder desto höher wird natürlich deren Belastung. So, und vor dem Hintergrund, dass man sich … dass man häufig immer wieder wechselt, wie stark sollen die Banken einbezogen werden, desto unsicherer werden natürlich auch die Angaben, wie stark die Banken da mit einbezogen wären, und man eben dann, um auch hier wieder ein glaubwürdiges Signal – Angst vor einer Bankenkrise –, ein glaubwürdiges Signal zu geben, um eine Bankenkrise zu vermeiden, eben eine Rekapitalisierung der Banken in Aussicht stellt.

Hatting: Herr Schmidt, wir haben zu Anfang darüber gesprochen, wie kompliziert das Ganze ist. Ist das vielleicht auch der heimliche Hauptgrund dafür, dass sich die EU so schwer tut mit radikalen schnellen Maßnahmen? Die Staatschefs sind ja in der Regel keine Ökonomen, sie handeln also immer nur so weit, wie ihr Verständnis gerade reicht.

Schmidt: Ja, mit Sicherheit. Also die Frage ist ja auch, noch mal auf die Anreizkompatibilität zu sprechen: Will man sozusagen … Oder wenn man sagt, die Gläubiger sollen haften, dann ist ja die Frage: Warum sollen das die Gläubiger eigentlich tun? Und man hat ja dann auch Wirkungen auf die Finanzierungen anderer Volkswirtschaften. Wenn man sagen will, man schafft die Anpassungslasten nur den Schuldnern, dann gibt man sie natürlich einzig und allein erst mal dem griechischen Volk, oder man sagt, man gibt die Anpassungslasten den Steuerzahlern, dann gibt man sie allen.

Hatting: Es bleibt also sehr schwierig. André Schmidt war das, Professor für internationale Wirtschaft an der Universität Witten-Herdecke. Ich danke für das Gespräch, Herr Schmidt!

Schmidt: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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