Angst, Hass und Gewalt

Rezensiert von Lamya Kaddor · 22.04.2012
Samar Yazbek ist eine Frau, die sich früh für den Kampf entschieden hat. Mit 16 verließ sie ihren Ehemann, weil er sie schlug, und jetzt mit Anfang 40 verließ sie ihr Heimatland Syrien, weil sie ein ehrliches Buch geschrieben hat.
An Brisanz gewinnt ihre Geschichte, wenn man weiß, dass sie der alawitischen Religionsgemeinschaft angehört, also derjenigen der Familie Assad, die seit mehr als 40 Jahren eisern an der Macht ist. In Syrien war das bislang eine gut Ausgangsbedingung, um mehr Freiheiten und mehr Privilegien als andere zu erlangen.

Aber die bekannte Moderatorin und Filmemacherin machte sich auf den Weg, die Wahrheit zu erfahren. Und brachte sich damit in Lebensgefahr. Bereits zu Beginn der Aufstände in Syrien am 15. März 2011 fasste sie den Beschluss, auf die Straße zu gehen, und das Beobachtete und Erlebte in einem Tagebuch niederzuschreiben.

Sie spricht mit Demonstranten, aber auch Polizisten und Militärs, und sie lässt aus der Haft entlassene Dissidenten zu Wort kommen. 100 Tage der syrischen Revolution sind auf diese Weise festgehalten worden. Das Buch "Schrei nach Freiheit" liest sich so klar wie ein nüchterner Tatsachenbericht, und trotzdem geht er unter die Haut.

Unterstützt wird Samar Yazbek von dem bekannten Schriftsteller Rafik Schami, der in Deutschland im Exil lebt und kein Blatt vor den Mund nimmt. In einem Vorwort kritisiert er das Regime so scharf, wie es selten aus dem Mund eines Syrers zu hören ist. Denn es war schon immer gefährlich, die Mächtigen in Damaskus beim Namen zu nennen – nicht nur im Lande selbst, auch im Ausland.

"Baschar al-Assad lügt, wenn er Reformen verspricht, nicht aus Spaß, sondern weil er nicht anders kann. Der erste Schritt der Reform hieße nämlich: die Auflösung aller fünfzehn Geheimdienste, Freilassung aller fast 100.000 politischen Gefangenen und Bestrafung der Mörder von über 4.000 unschuldigen Menschen. Solange das nicht geschieht, ist es absurd, über die Erhöhung der Gehälter und die Verbesserung der Krankenversicherung zu reden. Aber die Auflösung der Geheimdienste würde den Sturz des Regimes bedeuten."

Mit dieser Einschätzung dürfte Rafik Schami richtig liegen – das bestätigt auch Samar Yazbek. Die Kämpfe, die sich Oppositionelle, Revolutionäre, Schlägertrupps, Polizisten, Soldaten und sonstige Regierungsanhänger und Regimeprofiteure liefern, gleichen vielerorts bereits einem Bürgerkrieg. Es ist schon jetzt nicht mehr klar, wer genau gegen wen kämpft. Klar ist nur, dass alle zuvorderst ihre eigenen Interessen verfolgen.

Die syrische Gesellschaft zeichnete sich einst durch ihre Vielfalt und Toleranz aus, die trotz staatlicher Repressionen im Alltag der Bürger gelebt wurde. Inzwischen gewinnt man den Eindruck, dass die hoch gepriesene Pluralität sich selbst zerstört. Zu viele Gruppen treffen aufeinander, die entweder ihre Pfründe sichern oder anderen etwas streitig machen wollen. Eine Einigung scheint schwierig.

Samar Yazbek schildert Entwicklung und Zustand des Bürgerkriegs in akribischer Manier. Da sie aber dem Regime auf die Finger schauen will, wird sie von ihm zur "Verräterin" gestempelt, verfolgt, festgenommen und letztlich für vogelfrei erklärt. Ihr Name landet auf einer Todesliste.

Sie hält fest, was sie für wichtig hält und was sie schon lange beschäftigt. Ihre Worte sind einfach und zugleich fantasievoll, obschon sie Situationen beschreiben, die lebensbedrohlich, grausam oder unheimlich sind:

"Heute ist der ‚Freitag der Würde’. In den syrischen Städten gehen die Menschen auf die Straßen. Mehr als zweihunderttausend Demonstranten tragen in Deraa ihre Toten zu Grabe. Die Menschen aus den Dörfern im Umland von Deraa marschieren in Massen zum südlich gelegenen Friedhof. Fünfzehn Menschen werden getötet. In der Stadt Homs drei Tote, in Latakia Tote und Verwundete, in der Hauptstadt Damaskus im Midan-Viertel demonstrieren die Menschen."

Wie sie hier die Anfänge der Revolution schildert, so kommt sie immer wieder der Chronisten-Pflicht der Journalistin nach. "Politische Konzentrate" nennt Rafik Schami ihre aufschlussreichen Erlebnisberichte. Dabei belässt es die mutige Frau allerdings nicht:

"Ich fürchte den Tod nicht mehr! Wir atmen den Tod. In aller Ruhe erwarte ich ihn, rauchend und Kaffee trinkend. Ich denke darüber nach, dass ich dem Scharfschützen auf dem Dach ins Auge blicken kann. Ohne mit der Wimper zu zucken, starre ich ihn an. Ich gehe auf die Straßen und schaue zu den Dächern der Gebäude hinauf. Ganz gemütlich bewege ich mich vorwärts. Ich gehe die Bürgersteige entlang und überquere einen der Plätze, ich überlege, wo der Scharfschütze jetzt stecken könnte. Ich denke darüber nach, einen Roman über einen Heckenschützen zu schreiben, der eine Frau beobachtet, die ganz ruhig durch die Straße läuft. Ich stelle sie mir als zwei einsame Helden in einer Geisterstadt vor."

Es mutet mitunter zynisch an, solche Passagen zu lesen. Doch Samar Yazbek verlangt damit vom Leser, die Augen nicht weiter zu verschließen. Sie stellt sich quasi in den Dienst des syrischen Volks und zwingt, geradewegs auf das Leid der Menschen zu blicken. Das ist nicht immer leicht zu ertragen. Man wird erdrückt durch Folter und Grausamkeiten, Angst und Hass, die sie ungeschönt und direkt vermittelt. Denn das ist die bittere Realität in Syrien:

"Sie traten mit ihren Schuhen auf uns ein und warfen uns auf den Boden. Wir wurden eine Ewigkeit geschlagen. Dann mussten wir uns hinhocken, wie auf einen Stuhl. Wir mussten uns auf unsere Zehen stützen, unter uns war nichts. In diesem Augenblick dringen die Zehen ins Fleisch ein, das ganze Gewicht des Körpers konzentriert sich in den Zehen. Und die ganze Zeit schlugen sie uns."

Die Autorin treibt im Grunde eine zentrale Frage um: Die Frage nach den Tätern, den Mördern. Sie findet darauf nur schwer eine Antwort. Immer wieder erlebt sie Situationen, in denen Massen junger Männer aus Bussen steigen und dann wie Bestien auf Demonstranten und Unbeteiligte losgehen. Sie kann diese Schlägertrupps – die so genannten Schabbiha – nicht identifizieren, merkt aber nach einer Weile, dass es immer dieselben Busse mit denselben Männern sind:

"Ich sah, wie sie sich um einen jungen Mann scharten, es waren mehr als zehn Männer, die auf ihn einprügelten und -traten. Und plötzlich sah ich eine junge Frau auf dem Boden, auf die ein Geheimdienstler einschlug, während er die scheußlichsten Beleidigungen ausstieß. Mit pochendem Herzen stand ich da."

Für eine Frau wie Samar Yazbek, die über Jahre im Glauben an die Toleranz der syrischen Gesellschaft gelebt hat, ist die Tatsache unbegreiflich, dass hier Syrer andere Syrer – gleich welcher religiösen Zugehörigkeit – mit derart brutaler Gewalt überziehen. Fassungslos hält sie am Ende ihres Berichts kurz vor ihrer Flucht aus Syrien Folgendes fest:

"Baschar al-Assad und seine Familie haben mein Volk getötet, verhaftet, zu Vertriebenen und zu Flüchtlingen in Lagern im Ausland gemacht. Was kann ein Verbrecher seinem Volk mehr antun?"

Und dagegen wehren sich die Syrer – aus eigenem Antrieb. Der Protest werde nicht aus dem Ausland gesteuert. Da ist sich Samar Yazbek ganz sicher.

Samar Yazbek: Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution
Mit einem Vorwort von Rafik Schami
Nagel & Kimche Verlag, Februar 2012
Buchcover "Schrei nach Freiheit" von Samar Yazbek
Buchcover "Schrei nach Freiheit" von Samar Yazbek© Nagel & Kimche Verlag