Angela Merkels Ästhetik des Entzugs

Von Christian Schüle · 13.08.2013
Die Kanzlerin ist eine der größten Inszeniererinnen, die es in der deutschen Politik je gab. Sie macht das so geschickt, dass der Zuschauer die Inszenierung gar nicht bemerkt. Peer Steinbrück ist dieser kalkulierten Dramaturgie des Neuen Deutschen Theaters hilflos ausgeliefert.
Angela Merkel ist die derzeit bedeutendste Regisseurin Deutschlands. Sie ist die Begründerin des Neuen Deutschen Regie-Theaters und verkörpert mit ihrem Ein-Personen-Stück, – Hauptrolle, Ton, Licht, Kostüm: die Kanzlerin selbst – auf nahezu perfekte Weise die Inszenierung der Nicht-Inszenierung. Oder andersherum: Die Kanzlerin spielt so wenig Theater, dass ihr minimalistisches Spiel von höchster Intensität ist.

Da hält zum Beispiel der vermeintlich größte Lauschangriff aller Zeiten, die US-amerikanische Totalüberwachung der halben Welt namens "Prism", das vor- und hochsommerliche Deutschland wochenlang in Atem – ein nach Lage der Dinge politischer Skandal von so erheblicher wie grundsätzlicher Tragweite. Da bemerken scharfsinnige Leitartikler dies betreffend nichts weniger als einen "Staatsnotstand" und die Aushöhlung der Grundrechte; da spielt die Opposition Tobsuchtsanfälle, und ihr Kanzlerkandidat wittert Amtseidverletzung, da hat schließlich der stets besorgte Bürger das Gefühl, nun sei das Schlimmste geschehen, was ihm, was uns, was dem demokratischen Rechtsstaat überhaupt widerfahren kann.

Und dann, endlich, nach einer langen Zeit der performativen Schweigsamkeit, betritt die Kanzlerin die Bühne; die Spannung steigt, da hebt sich der Vorhang, Angela Merkel tritt auf und spricht hundert Minuten lang. Über die Flut in Ostdeutschland und die Not der Menschen. Über die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wende. Über sich: Bundeskanzlerin zu sein, sagt die Bundeskanzlerin, sei die inspirierende Aufgabe, immer wieder neue Probleme zu haben. Ach ja: Und Deutschland sei kein Überwachungsstaat. Auf Wiedersehen. Sommerurlaub.

Standing Ovations für Merkels Darstellung
Genau genommen sagt Angela Merkel Manches, aber nichts darin sagt etwas aus. Ihre von allen emotional anschlussfähigen Erregungen bereinigte Bühnensprache ist ein ideales Vehikel zur Eindämmung von Gefahren durch ihre Relativierung. Die formidable Kunst der Physikerin besteht in der Herstellung schwarzer Löcher, in die alles gleichrangig eingesaugt wird.

So raffiniert macht sie das fast immer. Die Fertigkeit, sich trotz höchster Angreifbarkeit unangreifbar, trotz omnipräsenter Sichtbarkeit unlesbar zu machen, ist in unseren Tagen eine bemerkenswerte Darstellerleistung. Für eine Erregungsdemokratie, in der Petitessen gern zum Politikum hinaufgejazzt werden, hat die Kohärenz dieser Performance unter theatertheoretischen Gesichtspunkten Standing-Ovations verdient.

Während Merkel sich den Formen des antiken Polittheaters – dem Bühnenspiel der "Schlacht", des Schlagabtauschs, des Krawalls – verweigert und durch die prinzipielle Defensive jeden Herausforderer zum Angriff auf jene Bühne zwingt, die sie selbst nicht betritt, wirkt sie wie das Gegenteil einer Inszenierung. Doch das täuscht. Die Kanzlerin ist eine der größten Inszeniererinnen, die die deutsche Politik je hatte.
Kein viriler Melancholiker wie Willy Brandt mit salbungsvollen Worten und großen Gesten. Kein Volksschauspieler wie Helmut Kohl mit Chuzpe und Kumpanei-Gehabe. Kein Testosteron-Performer wie Gerhard Schröder mit Rampensau-Eitelkeit und mannstoller Breitbeinigkeit. Merkel beherrscht die Ästhetik der inszenierten Nicht-Inszeniertheit derart gekonnt, dass der Zuschauer die Inszenierung gar nicht merkt. Sie, die Kanzlerin, entzieht sich jeder Erwartung, bis die Nicht-mehr-Erwartung geradezu erwartet wird. Das ist bei aller vermeintlichen Kleinheit großes Theater – das Theater der Scheinbarkeit. Und die Eitelkeit dieser Bescheidenheit ist erstaunlich.

Peer Steinbrück nun, der gern von sich selbst überwältigte Klartextredner aus der alten Großartigkeits-Schule, ist der kalkulierten Dramaturgie dieses Neuen Deutschen Theaters hilflos ausgeliefert, weil er die Codes der inszenierten Nicht-Inszenierung nicht beherrscht. Mit Angela Merkels Regietheater unter ihrer eigenen Intendanz aber hat ein neuer Langspielzeitzyklus begonnen: die Theatralisierung des Politischen ist der Entpolitisierung des Theatralischen gewichen. Das Faszinierende an all dem besteht in der demoskopisch nachgewiesenen Tatsache, dass nach wie vor weit über die Hälfte aller Deutschen eine Minimalistin zu ihrer Führungsfigur haben will. Höchst bedenklich, nicht wahr, dass wir keine Alternativen zur Ästhetik des Entzugs entwickelt haben…

Christian Schüle, 42, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und den Essay "Vom Ich zum Wir" (Piper). Demnächst erscheint sein Essay "Wie wir sterben lernen" im Pattloch Verlag München.
Christian Schüle
Christian Schüle© Privat
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