Andreas Stichmann: "Die Entführung des Optimisten ..."

Die Rettung der Welt als Start-up

Andreas Stichmann: "Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk"
Die Leute auf dem Hof laden sich gegenseitig heillos überzogene Sehnsüchte auf. © Rowohlt Verlag / Montage DKultur
Von Frank Kaspar  · 05.04.2017
Seapunks nennen sich die Verschwörer im Roman "Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk", die die Welt retten wollen. Andreas Stichmann erzählt von einer Landkommune, die durch einen Neuankömmling aus dem Gleichgewicht gerät.
Keine Bewegung ohne geheimes Erkennungszeichen. Das Mädchen mit den blauen Haaren hebt den kleinen Finger. "Auf geht's, Seapunks", soll das heißen. So nennen sich die Verschwörer, die die Welt retten wollen. Ein Traum, wenn es so einfach wäre, die Verhältnisse zu ändern – oder wenigstens sich selbst. Das falsche Leben mit einem Finger aus den Angeln zu heben. Aber auf dem Hof, wo das Mädchen seine Sozialstunden leistet, müsste schon viel passieren, damit überhaupt etwas in Bewegung kommt.
Ein müder Sozialarbeiter. Eine Mutter mit Migräne. Ein Schatzsucher ohne Erfolg. Ein Mädchen ohne Familie. Sie alle finden, dass es so nicht weitergeht. Etwas Besseres als den Trott finden sie überall. Doch das Leben entlässt sie nicht aus den gewohnten Bahnen. Bis David auftaucht alias Sydney Seapunk, "ein molliger Mann mit kleinen nervösen Augen", Aussteiger, Coach und Visionär, ein Mann mit Plänen.
Vordergründig erzählt der Roman von der Vorbereitung eines Verbrechens, das vier Millionen Euro Lösegeld in Aussicht stellt. Die Hälfte davon soll dem "Sonnenhof" zugutekommen, einer Lebensgemeinschaft von Bewohnern mit Behinderung und ihren Betreuern. Die andere Hälfte ist als Spende für eine Hilfsorganisation gedacht und soll ein Zeichen für gesellschaftliche Umverteilung setzen.

Alle spielen voreinander Theater

Die Geschichte setzt sich aus sechs verschiedenen Perspektiven zusammen. Jede hat ihren eigenen Ton, ihre besondere Sichtweise und ihre Scheuklappen. Mit feinem Gespür für Blicke und Gesten schildert Andreas Stichmann, wie die Leute auf dem "Sonnenhof" und ihr seltsamer Gast einander begegnen und belauern, wie sie voreinander Theater spielen und sich gegenseitig heillos überzogene Sehnsüchte aufladen. Niemand will hier vom anderen nur den kleinen Finger. Aber jeder hält vor den anderen etwas zurück.
Manchmal wirken der Jargon der Charaktere und ihre Ticks allzu deutlich. Man merkt die Absicht, ist genervt. Gerade aus dem Zusammenprall der Perspektiven schlägt der Autor aber auch die hellsten Funken: "David redet. Sie spürt ihn als Nerv-Feld neben sich", heißt es über Ingrid, die Gründerin des Wohnprojekts. David/Sydney predigt den Alt-Kommunarden sein Verständnis von Aktivismus: "Revolutionen seien Schnee von vorvorgestern", jetzt komme es darauf an, "die bessere Welt als ein Start-up-Unternehmen zu begreifen".

"Jahrhundert der Empathie"

So trifft die Befindlichkeit der achtziger Jahre auf den Zwangsoptimismus unserer Gegenwart, wo jeder sein eigenes Start-up sein soll. Sydney Seapunk ruft das "Jahrhundert der Empathie" aus. Das heißt nicht unbedingt: mehr Menschenliebe. Einfühlung braucht auch, wer andere manipulieren will. Der selbsternannte Weltretter erweist sich darin als Meister. David ist ein Mephisto der Psychotechnik – und ein armer Teufel, der vor den eigenen Erinnerungen davonläuft.
Andreas Stichmann hat einen lebensklugen und tragikomischen Roman über Leute geschrieben, die vor lauter Sensibilität kaum noch einen Weg zueinander finden.

Andreas Stichmann: "Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017
240 Seiten, 19,95 Euro

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