Andrea Komlosy: "Grenzen"

Die Teilung der Welt

"Grenzen" von Andrea Komlosy
Cover "Grenzen" von Andrea Komlosy © Promedia Verlag/picture alliance/dpa/Foto: Maren Hennemuth
Von Gesine Palmer · 09.06.2018
Die einen haben die Macht, Grenzen zu errichten, die anderen wollen sie überwinden. Die Wiener Sozialhistorikerin Andrea Komlosy analysiert in "Grenzen" alle Aspekte der gegenseitigen Abgrenzung von Menschen. Ein Buch mit lesenswerten Denkanstoß.
Einer der erstaunlichsten Texte aus dem Nachlass von Franz Kafka, "Die Truppenaushebung", beginnt mit dem Befund: "Die Grenzkämpfe hören niemals auf."
Das Buch von Andrea Komlosy widmet sich dem Niemalsaufhören der Grenzkämpfe mit wohltuender Nüchternheit. Es will in drei großen Kapiteln erklären, was es mit dem Phänomen Grenze auf sich hat. Die Verfasserin, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, will zugleich als Vertreterin einer bestimmten politischen Haltung kenntlich sein. Sie grenzt sich deutlich von allen politisch rechtsgerichteten Forderungen und Plänen ab, harte Grenzregimes an den Außengrenzen Europas durchzusetzen.
Im selben Atemzug freilich überführt sie die politisch linke Rede von einer Welt ohne Grenzen ihrer fundamentalen Gedankenlosigkeit, zunächst an kleinen, alltäglichen Beispielen:
"Ob wir uns in eine Menschenmenge einordnen, unser angestammtes Fleckchen im Kleiderschrank verteidigen, unser Badetuch am Strand oder den Gebetsteppich neben der Autobahnstation auflegen: wir stecken ständig Bereiche ab und ziehen Trennlinien zwischen uns und andere. Leben bedeutet, auf allen möglichen Ebenen Grenzen zu setzen (bordering). Bordering ist eine menschliche Eigenschaft."

Die Grenze ist ein soziologisches Phänomen

Was so im Kleinen jeder Mensch an sich beobachten kann, zieht sich durch die Geschichte menschlicher Gesellschaften, Völker und Staaten bis heute. Grenzen bleiben umkämpft. Nur dass sich, wie Komlosy im ersten Kapitel diskutiert, inzwischen noch weitere, noch abstraktere Formen der Territorialität entwickelt haben: Organisationsstrukturen internationaler Konzerne, überstaatliche politische Strukturen und schließlich Clouds und andere virtuelle Räume.
"Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt."
Mit dieser Definition aus Georg Simmels "Soziologie des Raumes" kann Komlosy für die gegenwärtigen Debatten bemerkenswert viel anfangen. Sie erarbeitet im zweiten Kapitel, "Typologie der Grenzen" ein sehr brauchbares Begriffsinstrumentarium für vertiefende und differenzierende Diskussionen vieler komplizierter Grenzkämpfe.
Im Falle der wirtschaftlichen und sozialen Grenzen unterscheidet sie zwischen horizontalen und vertikalen. Und plötzlich versteht man, wie Eliten aus Sorge um ihre Privilegien immer neue Grenzen zwischen sich und potentiellen Aufsteiger und Aufsteigerinnen ziehen. Und wie umgekehrt das Anlaufen gegen solche Grenzen und ihre gelegentliche Überwindung immer wieder nicht nur ein territoriales, sondern eben auch ein innergesellschaftliches Phänomen in allen Gesellschaften dieser Welt ist.
Denn die quergezogenen Grenzen gegen den Aufstieg sind semipermeabel, also nur von einer Seite aus durchlässig. In der Welt, so sagt Komlosy, gibt es die einen, die sich abgrenzen dürfen, und die anderen, die alle Grenzen ungestraft überschreiten.

Für Kapital sind Grenzen passierbar, für Menschen nicht

Freilich, schon in diesen beiden ersten Kapiteln zeigen sich ein paar Probleme des Buches, die dann im dritten Kapitel über Grenzregime und Politik der Grenze unübersehbar werden. Mit spitzer Feder spießt Komlosy die Ungleichheit im Gebrauch von Grenzen auf. Westlichen Konservativen hält sie vor: Die Rückkehr einer Ideologie der Abgrenzung bedeute nicht "das Ende der grenzenlosen westlichen Einmischung in aller Welt".
"Die westlich dominierten Finanzorganisationen verordnen Kapitalverkehrsfreiheit, Freihandel und Nichtdiskriminierung. Sie nehmen damit den Regierungen des globalen Südens die Instrumente aus der Hand, ihre Märkte zu schützen und ihren BürgerInnen Arbeit und Einkommen zu verschaffen."
Diejenigen, die üblicherweise dafür sprechen, an den Staatsgrenzen oder an der EU-Grenze "oder ubiquitär überall dort, wo böse Feinde vermutet werden", harte Grenzen hochzuziehen, um "soziale Errungenschaften, kulturelle Eigenheiten, die Sicherheit und das vermeintlich friedliche Zusammenleben der Einheimischen zu gewährleisten", werden durch dieses Argument nicht mit einer illusionären, für sie aber angstbesetzten Ideologie der totalen Grenzenlosigkeit angegangen, sondern vielmehr an ihrem eigenen Pochen auf das Recht auf Grenzen gepackt.

Kluge Argumentation und schlampiges Lektorat

Zugleich wird das übliche Gerede von "Fluchtursachenbekämpfung" anhand der Analyse wirtschaftlicher Grenzen einer gewissen Verlogenheit überführt. Echte Bereitschaft, die eigene Politik der wirtschaftlichen Grenzen zu ändern, ist seltener, wäre aber glaubwürdiger. Das sind sehr kluge Argumentationsbewegungen.
Leider werden diese lichten Seiten des Buches von mancher Schlamperei und einigen Übertreibungen und Verzerrungen eingetrübt. Einige Fehler dokumentieren einfach nur die Überforderung aller wissenschaftlichen Autoren durch die Pflicht zu übergroßen Literaturlisten oder ein überraschend schlechtes Lektorat, etwa die durchgängige Benennung des Philosophen Giorgio Agamben mit falschem Vornamen. Bei ihr heißt er Sergio.

Beschreibung bleibt unscharf

Andere Fehler gehen auf das Konto einer allgemeinen Unentschiedenheit im Umgang mit Normativität. So kritisiert sie einerseits, dass die Ideologien der Grenze als Wunsch ebenso wie die der Grenze als Feindbild die Grenze instrumentalisieren – um anschließend selbst vernünftigerweise festzustellen:
"Grenze ist ein Instrument in der Ausgestaltung menschlicher Beziehungen und kann damit in jedem Sinne benutzt werden."
Denn ja, natürlich ist dies so. Wer sie wie Komlosy im Sinne fortschreitender Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller verwenden will, tut gut daran, eine weitere abstrakte Grenze etwas gründlicher zu reflektieren, nämlich die zwischen normativem und deskriptivem Denken.
Beschreibend kann man sagen: Die universalistische Idee, die eine selbstbestimmte Grenzpolitik für alle will, ist ihrerseits in territorialen Grenzen zu Ansehen und institutioneller Relevanz gekommen. Nämlich in dem Gebiet, das wir üblicherweise als "die westliche Welt" bezeichnen. Jetzt ist sie aber hier normativ geworden. Das Verlangen nach Freiheit und Gleichheit kann man nicht mit der Beschreibung von Fakten begründen. Freiheit und Gleichheit sind Normen, von denen aus man nun auch innerhalb dieses Gebietes das Faktum der Unfreiheit und der Ungleichheit kritisiert.

"Der Westen" hat immer den Schwarzen Peter

Das darf durchaus auch die Soziologin tun. Aber in all dieser berechtigten Kritik sollte sie vielleicht mit bedenken, dass diese sich dann auch auf nichtwestliche, machtvolle Akteure beziehen lassen müsste. Wo "dem Westen" alle Macht und zuweilen auch ein böser Wille zugeschrieben werden, während alle anderen Weltmächte als Opfer des Kolonialismus erscheinen, da erscheint dann leicht das Menschenrecht einerseits als Maske, unter der westliche Staaten andere delegitimieren, und andererseits als ein nur dem Westen kritisch entgegengehaltenes Ideal, das nicht weiter begründet wird.
Auf dieser Grundschwäche scheinen mir die Fehler des Buches zu beruhen. Dennoch ist es zur Lektüre empfohlen. Denn allein durch die Vielzahl der Differenzierungen kann es dem Denken der Leserinnen und Leser sehr auf die eigenen Sprünge helfen.

Andrea Komlosy: "Grenzen: Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf"
Promedia Verlag, 2018
248 Seiten, 19,90 Euro

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