Am Ende der Straße

Von Michael Marek und Sven Weniger · 08.11.2012
Die Panamericana ist die berühmteste Straße der Welt. Doch nach 13.000 Kilometern durch Nord- und Mittelamerika endet sie mitten im Dschungel Panamas, im entlegenen Darien Gap. Die Anwohner dort kämpfen für den Ausbau der Straße nach Kolumbien. Doch die Regierung ist skeptisch.
60 Kilometer südöstlich von Panama-Stadt: Es ist heiß und schwül. Nur die Klimaanlage des Autos bietet Abkühlung. Links und rechts der Straße stehen Palmen. Es geht vorbei an flachen Häusern mit exotisch bunter Vegetation in den Vorgärten.

Der Darién ist die südöstlichste Provinz Panamas, kleiner als Schleswig-Holstein, kaum erschlossen, wenig besiedelt. Nur etwa 46.000 Menschen leben im Darien. Hier drängen sich Tiere und Pflanzen in einer Vielfalt und Pracht wie in wenigen anderen Weltgegenden. Gleich dahinter kommt Kolumbien, dort beginnt Südamerika. Und nur diese einzige Straße, die Panamericana, führt bis dahin - zumindest fast.

Es ist keine alltägliche, keine einfache Reise.

Militärpolizei kontrolliert an Checkpoints mehrfach die Papiere. Es sind kleine Posten: einspurige Fahrbahn, großes Stoppschild, ein Holzverschlag in Oliv, kaffeebraune Männer in Tarnuniform, die Sturmgewehre lehnen an der Wand. "Stolz an der Grenze zu leben und unser Land zu verteidigen. Für Gott und Vaterland", so steht es in großen Lettern auf einer riesigen Tafel, wie aus dem Arsenal lateinamerikanischer Politpropaganda.

Der Uniformierte gibt die Pässe zurück. Alles in Ordnung. Es geht weiter auf dem zweispurigen Asphaltband, das den Darién durchschneidet.

"Der Polizeiposten eben war der wichtigste in der Gegend um Metetí, der größten Stadt hier. Früher sollten die Beamten vor allem kolumbianische Guerilleros oder Paramilitärs aufspüren. Heute geht es darum, illegale Einwanderer abzufangen und darum, den Drogenhandel im Grenzgebiet einzudämmen."

Javier Calvo ist Ex-Militär – und Demokrat wie er sagt. Sein gesamtes Berufsleben verbrachte er in einer Versorgungseinheit der Armee. Heute ist er Rentner, sein Sohn arbeitet als Diplomat im Ausland. Der gedrungene, stämmige 63-Jährige aus Panama-Stadt hat eine kleine Finca im Darién und kennt dort viele Menschen.

Nur 300 Kilometer liegen zwischen der Hauptstadt und dem Herz des Urwalds. Ein Katzensprung auf der längsten Straße der Erde. Und doch ein weiter Weg. Immer wieder gibt es Löcher und Blasen im Teer, über die Javiers alter Toyota wie ein Ziegenbock hüpft. Nur wenige Weiße kommen hierher. Die panamaischen Behörden sehen Ausländer nicht gerne im Darién.

Javier kommt auf Manuel Noriega zu sprechen, den berüchtigten Machthaber Panamas und verantwortlich für unzählige Menschenrechtsverletzungen. Noriega war in den 1980er-Jahren Schützling der CIA, fiel den US-Amerikanern aber zunehmend zur Last, nachdem er gemeinsame Sache gemacht hatte mit dem kolumbianischen Medellín-Drogenkartell. 1989 befahl der damalige Präsident George Bush, in Panama zu intervenieren, um Noriega zu stürzen. Der Diktator wurde gefangen genommen und in Florida von einem US-Gericht zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach Verbüßung der Haftzeit wurde Noriega nach Frankreich überstellt. Kürzlich ist der Ex-Diktator nach Panama ausgeliefert worden und wird sich auch in seiner Heimat vor Gericht verantworten müssen.

"Während Noriega an der Macht war, kontrollierte er etwa 80 Prozent des Rauschgiftgeschäfts und den kompletten Waffenhandel. Nachdem er verschwunden war und die Armee aufgelöst wurde, begannen seine ehemaligen Kumpanen auf eigene Rechnung - jeder für sich - Geschäfte zu machen. Dadurch stiegen der Drogenkonsum und Drogenhandel bei uns ebenso sprunghaft an wie die Gewaltkriminalität und Waffenschieberei. Seitdem müssen alle demokratisch gewählten Regierungen gewissermaßen Feuerwehr spielen, um Exzesse wieder einzudämmen, die es nicht gab, als die Militärs das Land kontrollierten."

Die Absetzung des Diktators brachte dem Land und besonders dem Darién Instabilität. Der Dschungel wurde zum Rückzugsgebiet der FARC-Guerilla und der Paramilitärs im kolumbianischen Bürgerkrieg. Seitdem ist der größte Ort des Darién ein militärischer Außenposten: Yaviza gilt bis heute als Versorgungsplatz für im Dschungel versteckte Kämpfer, vor allem aber als Umschlagplatz für Waffen und Drogen aus und nach Kolumbien. Das bestätigt auch der Radio- und Fernsehjournalist José Miguel Guerra:

"Geopolitisch hat der Tapon del Darién eine enorme Bedeutung. Er stellt eine wichtige Barriere dar, um das Einsickern der kolumbianischen FARC-Guerrilla und Paramilitärs nach Panama zu verhindern. Unter Noriega gab es eine Art Übereinkunft mit diesen Gruppen. Man ließ sie in Ruhe, auch wenn sie die grüne Grenze überschritten, um sich mit Nachschub zu versorgen oder auszuruhen. Damals hatte Panama keine Probleme mit der Guerilla. In den 1970er und 1980er-Jahren ging es im Darién äußerst friedlich zu."

Kaffeepause in einer Fonda, eine der einfachen Gaststätten an der Panamericana. Ein paar Wellblechwände, abgenutzte Stühle und Tische, drinnen eine kleine Küche. Tagelöhner, Bauern, Lastwagenfahrer - alle essen hier. Es gibt Huhn und Rind, Reis mit Linsen, schwarze Bohnen, frittierte Bananen. Für drei bis vier Dollar schlägt man sich den Bauch voll.

Die Panamericana ist die Lebensader für die Menschen des Darién. Ohne sie gäbe es in der Provinz keinen Anschluss zum Rest der Welt. Hier findet sich alles: An der Straße liegen die Tankstellen, Geschäfte, Werkstätten und die Mobilfunkshops des allgegenwärtigen Netzbetreibers Claro. Von dort aus geht es zum Bus, zum Markt, ins nächste Dorf, zum nächsten Krankenhaus und Polizeiposten.

Einer der täglichen, starken Regenschauer prasselt herunter. Ein Motorradfahrer flüchtet sich unter das Dach einer Terrasse. Die Siedlungen werden immer kleiner. Hier liegt Arimae, das Hauptreservat der beiden wichtigsten Indio-Stämme des Darién, der Emberá und Wounaan.

Sie wohnen dort in ihren traditionellen, an den Seiten offenen Rundhütten, die auf hohen Stelzen stehen und so geräumig sind, dass sie je eine Großfamilie aufnehmen.

Die Indios leben vom Ackerbau und der Jagd, und sie versorgen sich mit dem, was die Natur ihnen bietet: Fische, Bananen und andere Früchte. Tauschhandel und Subsistenzwirtschaft auf kleinen Parzellen haben jahrhundertelang die soziale Welt der Indios im Darién geprägt. Mit der Panamericana kamen weiße Siedler in ihre Dörfer und weckten in vielen den Wunsch nach einem besseren Leben. Heute fertigen die Emberá und Wounaan für Touristen in Handarbeit kunstvolle Statuen aus dem Cocobolo, einem sehr harten Tropenholz. Körbe, Teller und traditionelle Masken werden aus Naturfasern hergestellt und mit Naturfarben gefärbt. In letzten Jahrzehnten wurde der Lebensraum der indigenen Bevölkerung immer kleiner. Als Paramilitärs, Waffenschieber und Drogenbanden den Darién unsicher machten, flohen viele Emberá und Wounaan aus ihren Siedlungsgebieten,.

"Die Wounaan kommen eigentlich aus Kolumbien. Sie überquerten irgendwann die Grenze zwischen den beiden Ländern. Und weil sich beide Völker stets gut verstanden, haben die panamaischen Indios, die Emberá, sie hier bei sich aufgenommen."
Heute leben etwa 22.000 Emberá und 7.000 Wounaan im Darién. Ihre Dialekte unterscheiden sich. Um miteinander zu sprechen, müssen die Mitglieder der Stämme die Sprache des anderen erlernen. Da die Wounaan hier akzeptiert werden, sind sie ganz offiziell als indigene Panamenier registriert.
Die meisten Bauern siedelten sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts im Darién an und rückten mit dem Ausbau der Panamericana immer weiter in die Regenwaldgebiete vor. Sie halten Rinder, bauen Yams an, Bananen und Reis. Alles wird über die Carretera, die Landstraße, wie hier alle die Panamericana nennen, in die Hauptstadt geschafft und dort verkauft.

<im_78112>ACHTUNG: NUR IN ZUSAMMENHANG MIT SONNTAGSSPAZZIERGANG VERWENDEN</im_78112> Yaviza liegt in einem Bogen des Chucunaque, des längsten Flusses in Panama. Träge und erdbraun fließt er dem Pazifik entgegen. In der Siedlung herrscht lebhaftes Treiben.

Mit seinen 2.000 Bewohnern ist Yaviza einer der größten Orte in der Region. Überall hört man Stimmen, Kinder laufen hin und her. Am Bootsanleger, einer weiten überdachten Betonfläche, liegen Piraguas. Die schlanken Holzboote sind bis obenhin voll mit Bananen. Männer entladen sie und schleppen die Stauden zu zwei Pickups, die bereits warten.

Alles unter den Augen eines Militärpolizisten. Er ist vom Indiostamm der Emberá und fragt, was wir in Yaviza wollen. Der junge Mann schwitzt in der Hitze trotz der Camouflage kein bisschen. "Habt Ihr Euch beim Militärposten angemeldet?", "Nein, aber wir sind auf dem Weg hierher an den Checkpoints kontrolliert worden". Der kleine dunkelhäutige Mann ist zufrieden, bedrohlich wirkt die Staatsmacht in diesem Augenblick mitten im Dschungel nicht.

Ein kanariengelbes Lokal wirkt wie ein bunter Vogel zwischen dem immergrünen Urwald und dem schwarzen Asphaltband. Und dann kommt El Repollito durch die Küchentür. "Kohlköpfchen" nennen alle den massigen Wirt. "Was wollt Ihr essen?", fragt er. "Was hast Du?", "pargo blanco", also Flussbrasse. "Kommt in zehn Minuten wieder, dann ist sie fertig!"

Draußen brütet die Sonne. Ein paar Männer sitzen im Schatten einer Veranda. Einer schmiert eine Kettensäge. "Beste Qualität, aus Deutschland", lacht er, als er hört, woher die Besucher kommen.

Ein großer, hagerer alter Mann setzt sich an den Tisch. Eine ungewöhnliche Erscheinung in einer Gegend, deren Bevölkerung eher gedrungen und kompakt ist.

"Ich heiße Jaime Enrique Lorén. Ich bin Repräsentant der Gemeinden Canclón und Yaviza. Meine Aufgabe ist es, die Lebensbedingungen der Menschen hier zu verbessern. Ich diene also dem Volk."
Kique nennt ihn jeder. Er wurde vor 72 Jahren im Darién geboren. Seit zwei Jahrzehnten kümmert sich Kique um die Belange der Bewohner in dieser Gegend.

"Wir treffen uns vor Ort. Die Leute sagen mir, wo sie der Schuh drückt, und ich kümmere mich dann um alles bei den Regierungsstellen und trage dort unser Anliegen vor: den Ausbau einer Straße, eines Gemeindehauses, Sachen fürs Heimatfest, Süßigkeiten für die Kinder, Weihnachtsdekoration für das Dorf. Das ist die Funktion eines Repräsentanten in Panama."
Kique hat auf seine Finca eingeladen. Auf der großen Terrasse serviert seine Schwester süßen Kaffee und Fruchtkuchen. Im Haus haben sich die Enkel vor dem Fernseher versammelt. Die Nacht bricht schnell herein – hier im Darién.

Brüllaffen orchestrieren den Sonnenuntergang. Kique lehnt sich in seinen Schaukelstuhl zurück.

<im_78110>ACHTUNG: NUR IN ZUSAMMENHANG MIT SONNTAGSSPAZZIERGANG VERWENDEN</im_78110> "Zu Beginn der 1950er-Jahre war es für uns Darienitas eine Odyssee, hier zu leben. Wenn wir aus Panama-Stadt losfuhren, wussten wir nie, wann wir im Darién ankommen würden. Es gab keine Straße, nur eine Art Piste, die sich bei Regen in Schlamm verwandelte. Wenn jemand krank wurde, dauerte es unglaublich lange, bis ein Arzt aus Metetí auf dem Fluss hierher kam; wenn überhaupt. Menschen starben. Wir mussten Jahrzehnte lang für die Asphaltierung der Straße kämpfen. Erst seit zwei Jahren reicht die Carretera nun endlich bis zu uns nach Yaviza."

Und dann? Eben noch breite Carretera, die scheinbar endlose Straße. Nun rücken die Häuser zusammen, als wollten sie ihr die Luft abdrücken. Der Asphalt franst aus. Dann liegt plötzlich ein Fahrweg quer, dahinter wie ein Riegel eine Reihe Holzbuden. Das war es. Kein Abgrund, kein Ozean, kein unüberwindbares Gebirge, das sich in den Weg stellt. Nach 13.000 Kilometern durch Nord- und Mittelamerika endet der Mythos Panamericana mitten im Dschungel Panamas.

Doch die Sackgasse ist längst selbst zu einem Mythos geworden. Ein Stachel im Fleisch motorisierter Abenteurer, die die schmale Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika mit dem Schiff umfahren müssen, ein Hohn auf das Machbare. Kein Landfahrzeug hat ihn bis heute überwunden.

"Ab Yaviza geht alles nur mit Motorbooten. Für die Dörfer tiefer im Darién ist das sehr teuer, weil das Benzin soviel kostet. Daher fordern wir jetzt den Ausbau bis Boca de Cupe nahe der Grenze zu Kolumbien."
Kique, der Volksrepräsentant, mit seiner hageren Gestalt, den scharfen Gesichtszügen, sieht im Dunkeln aus wie ein Kazike aus längst vergangenen Zeiten; ein Häuptling, der für das Wohlergehen der Bevölkerung kämpft und für den Ausbau der Panamericana.

Es ist eine unübersichtliche Gemengelage im Darién: eine Regierung, die die Panamericana gerne ausbauen würde, um das Gebiet zu entwickeln, aber Angst vor Guerilleros und Drogenkartellen hat; Siedler wie Kique Lorén, die ihre landwirtschaftlichen Produkte vermarkten wollen; Ökologen, die die Artenvielfalt des Regenwalds in Gefahr sehen; Indios, die alles so lassen wollen, wie es ist. Und genau dieser Konflikt verschiedener Interessen sorgt dafür, dass die lächerlich kleine Lücke in der längsten Straße der Welt Bestand hat, sagt der Journalist José Miguel Guerra:

"Für Panama wäre es sehr gut, den Tapon de Darién zu öffnen, für die Entwicklung der Region, die Viehwirtschaft. Die Bananen sind die besten des Landes. Außerdem hat man herausgefunden, dass es im Darién Erdöl gibt. Aber durch die Ausbeutung all dieser Ressourcen würde man das Ökosystem ruinieren."

Kolumbien würde gerne mit dem Ausbau der Panamericana durch den Darien Gap beginnen, da auch dort im Grenzgebiet Armut herrscht - aber nur, wenn der Nachbar Panama mitmacht. Aber Die Vereinigten Staaten, nach der Rückgabe des Kanals weiterhin der "Große Bruder" im Hintergrund panamaischer Politik, tun alles, um genau das zu verhindern, weil sie das Einsickern von Rebellen und Drogen befürchten. Wie also wird es weitergehen – hier im Darièn? Jaime Enrique Loréns Antwort darauf fällt ganz pragmatisch aus:

"Meine Meinung zur Sperrung der Panamericana ist immer dieselbe gewesen: Was machen wir, wenn es hier nicht voran geht, wenn jemand krank wird und wegen schlechter Straßenverhältnisse rechtzeitig keine Hilfe kommt, wenn Boote zu lange brauchen, wenn dann jemand stirbt. Was machen wir dann?"
Der Morgen graut, es war eine kurze Nacht. Die Grillen verstummen. Dichter Frühnebel steigt aus den Wiesen. Die Sonne wird ihn schnell auflösen. Auf der Panamericana ist der erste Verkehr zu hören. Nichts bekommt man mit von der verzwickten Geschichte um den Tapón del Darién bei der Reise auf der längsten Straße der Welt.