Am Anfang war der Kredit

26.05.2012
Der amerikanischer Anthropologe und Vordenker der Occupy-Bewegung David Graeber sieht die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte von Schulden. So beschreibt er, wie lange vor Erfindung des "realen" Geldes eine florierende virtuelle Kreditwirtschaft entstand. Ein spannender Blick auf die Wurzeln der aktuellen Schuldenkrise.
Ein Gespenst geht um in Globalistan - das Gespenst der Schulden. So könnte David Graebers monumentales Manifest "Schulden: Die ersten 5000 Jahre" auch anfangen. Denn erstens tritt der Anthropologe und "Occupy"-Aktivist ohne falsche Bescheidenheit wie Marx' und Engels' legitimer Enkel auf. Zweitens ist sein Buch durchaus eine Art neues Kommunistisches Manifest.

Nur ist sein "Basiskommunismus" nicht teleologisch, sondern phylogenetisch: nicht die Ziellinie, sondern der Startblock vor dem Schuss. Für ihn ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Schulden. Ihm geht es um nichts Geringeres als weltweite Gespensteraustreibung.

Die beginnt mit einem Generalangriff auf die von Adam Smith gelegten Fundamente der ökonomischen Lehre. Deren Mantra: Erst kam der Markt mit Tauschwirtschaft, dann das Geld als bequemeres, allgemeines Wertäquivalent - und erst danach die Kreditwirtschaft samt dem heute so grotesk virtuellen Geld.

Dies aber sei pure Ideologie; die Ökonomen ignorierten stur seit je alles, was Anthropologen und Ethnologen längst erforscht hätten. Nie wurde irgendwo auf der Welt eine als Tauschmarkt funktionierende "primitive" Gesellschaft entdeckt. Aber Jahrtausende vor der Erfindung des realen Geldes, der quasi-amtlich zertifizierten Münzen, florierte die virtuelle Kreditwirtschaft. Beweis: 5000 Jahre alte Scherben aus Mesopotamien, auf denen in sumerischer Keilschrift säuberlich Schulden und Zinsen gelistet sind.

So herum wird also ein Schuh draus, meint Graeber: Am Anfang war der Kredit, die Verschuldung. Und tatsächlich begreift man so, nach diesem 400-Seiten-Parforceritt durch die Geschichte der Schulden, besser, was da 2008 als "Finanzkrise" fast die Welt zum Stillstand gebracht hätte. Denn Graeber erzählt anschaulich, überbordend materialreich, welche moralischen Folgen über die Jahrtausende aus dem Kredit(un)wesen entstanden.

Die fatale Verknüpfung von Schulden und Sünde, von Erlass und Vergebung in allen großen Religionen etwa wirkt bis heute als psychologischer "Überbau". Dessen "Basis" ist eine Schuldenwirtschaft, in der "bewaffnete Männer" immer dabei sind und Werte wie Vertrauen zu abstrakten, quantifizierbaren Verbindlichkeiten werden. Deshalb liegen die Ursprünge des Geldes in Verbrechen und Vergeltung, Krieg und Sklaverei, kurz: in Gewalt.

Schulden machen abhängig, je nach Höhe und "bewaffneter Macht dahinter" - mal den Schuldner, mal den Gläubiger. Dennoch gilt weiter das ökonomisch-moralische Mantra: "Schulden muss man zurückzahlen!" Graeber macht am Beispiel des IWF und seiner Kreditpolitik schlagend klar, wie man damit moralisch ungerührt über Leichen geht - ganz wörtlich, und nicht nur in der "Dritten Welt".

"Schulden" ist ein Fundamentalangriff auf den Kapitalismus ohne fundamentalistischen Furor. Manchmal quer durch Epochen und Geografie hüpfend, manchmal "primitive" Stammesvorbilder romantisierend, manch schöne Dialektik schnöde rechts liegen lassend, aber immer risikofreudig im Denken und also zu eigenem Denken - und Widerspruch - einladend. Kann man Besseres über ein Manifest sagen?

Besprochen von Pieke Biermann

David Graeber: Schulden: Die ersten 5000 Jahre
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl, Stephan Gebauer
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
600 Seiten, 26,95 Euro

Links zum Thema bei dradio.de:
"Schulden basieren immer auf einem Versprechen" - Anthropologe Graeber über die Beziehung zu einem Gläubiger und seine Rolle bei der Occupy-Bewegung
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