Alterstests für Flüchtlinge

Sprechende Körper, stumme Subjekte

Darstellung einer Hand
Graphische Darstellung einer menschlichen Hand. Bei Jugendlichen soll der Handwurzelknochen Hinweise auf das Alter geben. © imago/StockTrek Images
Von David Lauer · 07.01.2018
Wenn das Alter bei Flüchtlingen unklar ist, fordern manche einen medizinischen Alterstest wie eine Röntgenaufnahme der Handwurzelknochen. Der Philosoph David Lauer warnt in seinem Kommentar vor der Entwicklung einer unmenschlichen Welt, wo nur noch Daten ausgelesen werden und nicht miteinander gesprochen wird.
Minderjährige Flüchtlinge genießen besondere Rechte. Wer sie in Anspruch nehmen will, muss seine Berechtigung nachweisen. Verlangen wir nicht dasselbe von allen Bürgerinnen und Bürgern? Ob man Alkohol, ein Interrailticket oder einen Seniorenfahrschein kaufen, ein Konto eröffnen oder in einen Club eingelassen werden will: Man muss nachweisen, dass man alt oder jung genug dafür ist – in der Regel, indem man einen Ausweis vorlegt. Und wenn kein Ausweis existiert? Darf man dann nicht andere Nachweise verlangen? Und wieso nicht von allen? Muss ich mich nicht auch bei jeder Flugreise abtasten lassen, egal wie unbescholten ich bin? Und ist eine harmlose Röntgenaufnahme nicht völlig im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, wenn sie zum Schutz aller beiträgt?

Die Subjekte werden zum Schweigen gebracht

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn hinter dem in manchen Stellungnahmen vernehmbaren Versuch, eine medizinische Körpervermessung als eine Art Ausweiskontrolle mit anderen Mitteln zu begreifen, steckt eine Verharmlosung. Niemand fordert, die Angaben von Migrantinnen und Migranten, die sich als minderjährig bezeichnen, völlig ungeprüft zu lassen. Ein staatlich ausgestellter Ausweis, falls vorhanden, kann diese Angaben verbürgen. Es ist aber ein fundamentaler Unterschied, ob man sich mit dem, was eine Person sagt, prüfend auseinandersetzt, oder ob man diese Person als auskunftsfähiges Gegenüber einfach umgeht und sich ohne konkretes Verdachtsmoment an ihrem Körper zu schaffen macht. Das ist so, als würde man beim Kauf des vergünstigten Jugend- oder Seniorentickets nicht mehr nach dem Ausweis gefragt, sondern gleich an einen Lügendetektor angeschlossen. Die Körper werden zum Sprechen, die Subjekte aber zum Schweigen gebracht.

Gefahr einer posthumanen Welt?

Der französische Philosoph Michel Foucault hat die Macht- und Wissensbeziehungen, die – wie er schreibt – "die menschlichen Körper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen", als eine "politische Ökonomie des Körpers" bezeichnet. Die Verwertung und Auswertung des Körpers im Dienste politischer und ökonomischer Zwecke begreift er als das Signum der Moderne. Im Zusammenhang mit Big Data, Hirnscannern und ähnlichen Technologien erreicht diese Unterwerfung des Körpers gegenwärtig neue Dimensionen. Ungehemmt bricht sich in den entsprechenden Diskursen die Fantasie Bahn, dass sich in der schönen neuen Welt Körper und Gehirn eines Menschen so restlos werden "auslesen" lassen wie eine Chipkarte. Kommunikation wird dann überflüssig sein, weil wir die harten, unwidersprechlichen Fakten über den anderen immer schon vor uns haben: Wir müssen gar nicht mehr fragen. Eine solche Welt wäre in der Tat eine posthumane, eine nachmenschliche oder schlicht unmenschliche Welt. Den Menschen mit seiner unheimlichen Freiheit, die Wahrheit über sich für sich zu behalten – ob zu guten oder zu bösen Zwecken –, gäbe es in ihr nicht mehr.
Bedeutet das nun, dass die Forderung nach medizinischen Alterstests unvermeidlich auf eine solche Welt zusteuert oder dass sie in jedem Falle unverhältnismäßig ist? Nein. Aber es bedeutet, dass jene, die sich gegen diese Forderung wehren, mehr auf ihrer Seite haben als weltfremdes Gutmenschentum, wie ihnen nun unterstellt wird. Ihre Sorge gilt in letzter Instanz vielmehr dem Menschentum selbst.
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