Altena im Sauerland

Freiräume in einer geschrumpften Stadt

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Die Stadt Altena im Sauerland - hier in einer Luftaufnahme © imago/Hans Blossey
Von Michael Frantzen · 18.01.2018
Keine westdeutsche Stadt ist seit den 70ern so stark geschrumpft wie Altena in Westfalen. Die Kommune ist verschuldet, zeigt sich aber stämmig: Die Bürger begreifen den Leerstand als Chance für eigene Initiativen, viele engagieren sich ehrenamtlich.
"So are you ready? Eins, zwei, drei, vier."
Für den Anfang gar nicht mal schlecht. Musiklehrer Potlako Mokgadi – Spitzname Tlako - schaut zufrieden in die Runde. Montag-Abend, Altena, die Kleinstadt im Sauerland. Ortsteil Dahle. Bis zum Ruhrgebiet sind es keine zwanzig Kilometer. Draußen schüttet es wie aus Kübeln. Der guten Laune im Clubhaus des Dahler Musikcorps tut das keinen Abbruch. Rund ein Dutzend Hobby-Musiker hat dem Regenwetter getrotzt: Junge und nicht mehr ganz so Junge. Und der Mann, der ihnen Takt beibringen soll.

"Hier is' noch Lebensqualität"

Tlako lacht. Wird schon. Irgendwie ist der gebürtige Südafrikaner, den es als Kind ins Ruhrgebiet verschlagen hat, immer noch über die Runden gekommen – in Altena, seiner Wahlheimat.
"Ich bin ja vor zwanzig Jahren...(lacht)...hierhin gekommen und wollte hier gar nicht bleiben. (lacht) Ich kam aus Dortmund, nen bisschen größer. Bisschen mehr los. Bin dann nach Altena gekommen und hab mir erst nen halbes Jahr gedacht: Näh, also das geht nicht. Hier kann ich nicht wohnen. Enge Gassen. Schluchten. Aber dann hab ich ganz viele Menschen kennengelernt auf einer ganz anderen Ebene wie in der Großstadt und hab mir gedacht: Hier kann ich Kinder groß ziehen. Hier is' noch Lebensqualität."
Musiklehrer Potlkako Mokgadi und Mitglieder des Dahler Musikcorps
Musiklehrer Potlako Mokgadi (li.) beim Dahler Musikcorps © Michael Frantzen / Deutschlandradio
Tlako hat den Worten Taten folgen lassen: Drei seiner vier Kinder leben in Altena, der Jüngste ist sieben - und begeisterter Schlagzeuger. Das musikalische Talent hat er vom Vater. Und der Mutter, wirft der Mitfünfziger lachend ein. Schließlich ist Ulrike, seine Partnerin, auch Musikerin. Zusammen sind sie "Funcascade". Leben können sie von ihrer Band nicht. Deshalb auch der Termin heute Abend.

Pessimisten sehen den Niedergang, Optimisten Chancen

Ausgerechnet Altena! Tlakos Freunde in Dortmund konnten es anfangs nicht fassen. Dazu muss man wissen: Altena hat nicht den allerbesten Ruf. Keine Stadt in Westdeutschland ist seit den 70er-Jahren so stark geschrumpft. Von 34.000 auf 17.000. Die einst bedeutende Drahtindustrie: Bis auf ein paar Ausnahmen verschwunden. Nokia auch. Den Jobs folgten die Leute und deren Kaufkraft. Ein Teufelskreis.
Tlako verzieht das Gesicht. Natürlich kennt er die Fakten. Doch wo Pessimisten Zeichen des Niedergangs sehen, sieht er Chancen. Das Clubhaus etwa: Stand jahrelang leer. Bis der Besitzer meinte: Bevor alles weiter vor sich hingammelt, können es die Dahler Musiker auch nutzen.
"Das war auch so meine Idee: Dass da, wo Leute weggehen, da tun sich aber auch immer neue Möglichkeiten und neue Dinge auf. Das Ende von einer Sache ist immer der Beginn einer neuen. Dass sich hier einfach mehr Freiräume fürs Handeln und fürs Sein auftun."

Vom rollenden Laden zum brummenden Geschäft

Ihre Freiräume nutzten sie auch in der Lennestraße, der Fußgängerzone Altenas:
"Mein Name ist Ulrike Singer und wir betreiben hier seit neustem in Altena die Tante Carola Drogerie."
Ulrike Singer, Filialleiterin von "Tante Carolas Drogerie" in Altena
Ulrike Singer, Filialleiterin von "Tante Carolas Drogerie"© Michael Frantzen / Deutschlandradio
Tante Carola gibt es tatsächlich, liegt aber im Bett. Ende November hat der Laden aufgemacht. Eine klassische Drogerie, mit Fachpersonal und allem, was dazugehört:
"Von A bis Z. Wirklich. Von Allzweckreiniger bis zur Zahnbürste wurde jetzt schon echt alles verlangt hier."
Singer schaut von der Kasse hoch. Das Geschäft: Es läuft. Kein Wunder: Schließlich kennen die Leute in Altena sie. Den Sommer über stand die resolute Sauerländerin auf dem Wochenmarkt mit "Tante Carolas rollender Drogerie". Immer Donnerstags. Bei Wind und Wetter.
"Da kam halt immer wieder diese Anfrage: Macht doch nen Laden hier! Kommt doch! Und: Wir brauchen euch! Es gibt hier nichts mehr. Gar nichts mehr. Gerade für die älteren Menschen, die hier in der Innenstadt wohnen und nicht mobil sind, die keine Möglichkeit haben rauszukommen, die haben echt Probleme. Vor etlichen Jahren gab es hier auch nen Schlecker und Ihr-Platz. Aber: Seit Jahren alles zu."

Zuschüsse wegen Leerstand

Ein Inhaber-geführtes Geschäft statt irgendeiner Kette: In Altenas Fußgängerzone gibt es das häufiger. Singer springt auf und geht zum Eingang. Stolz zeigt sie auf den Aufkleber im Schaufenster mit der Aufschrift "Pop-Up-Laden". Die Idee mit den temporären Läden stammt von Hollstein, dem Bürgermeister; damit nicht noch mehr Geschäfte leer stehen. Allein in der Innenstadt sind es rund zwanzig. Der Deal: Läden wie "Tante Carolas Drogerie" erhalten von der Stadt einen Zuschuss beim Einzug. Laufzeit des Mietvertrags: Drei Monate. Wer will, kann verlängern.
"Es muss doch nicht immer gleich so'n Riesen-Center mit 5000 Quadratmetern sein. Wir haben das ja jetzt hier Tante Carola, so Prinzip Tante-Emma-Laden um die Ecke, aufgezogen. Und das ganz bewusst gemacht. Weil das auch dieses Heimelige, dieses Heimatgefühl widerspiegelt."

Ein neues Café nach zehn Jahren Leerstand

Heimelig ist es auch im "Café Nostalgie" weiter unten in der Fußgängerzone. Umgeben von vergilbten schwarz-weiß-Fotos können sich Besucher auf alte Sofas fallen lassen, in denen man zu versinken scheint. Und mittendrin: Inhaberin Nilüfer Seker. In Altena geboren, als Tochter türkischer Gastarbeiter. Vor zwei Jahren eröffnete die Frau mit den kleinen Lachfalten ihr Pop-Up-Café – in einem Ladenlokal, das über ein Jahrzehnt leer gestanden hatte. Aus dem Pop-Up ist längst eine Institution geworden. Hat ja auch kulinarisch einiges zu bieten:
"Frankfurter Kranz. Apfelkuchen. Kirschkuchen. Mach nen leckeren Schmand mit Baiser. Darf hier nicht mehr fehlen."
Nilüfer Seker, Besitzerin des "Café Nostalgie"
Nilüfer Seker, Besitzerin des "Café Nostalgie"© Michael Frantzen/Deutschlandradio
Ihre eigene Chefin sein: Seker liegt das. Ihrer Mutter auch: 27 Jahre hatte sie einen Obstladen in Altena – bis sie in Rente ging und zusammen mit ihrem Mann zurück in die Türkei.
"Gut, also: Meine Familie: Wir waren neun Personen damals. Und ich bin jetzt die einzige, die noch hier is. Die anderen sind son bisschen: Schweiz, Türkei, Bochum. Ja, klar. Die jüngere Generation – die ziehen natürlich alle weg. Die haben alle studiert. Lehramt. Eine hat sich halt medizinisch weitergebildet. Sind dann halt irgendwie weg. Das macht das Ganze denn auch nen bisschen schwieriger in Altena."

Im Winter herrscht Trostlosigkeit in den Gassen

Seker hält Altena die Stange – trotz allem. Zusätzlich zu ihrem Café betreibt sie im Sommer noch eine Eisdiele. Ganz schön viel Arbeit, doch ihr macht das Spaß. Manchmal aber gerät sie ins Grübeln. Vorzugsweise im Winter, wenn der Nebel durch die Gassen Altenas wabert und mit ihm die Trostlosigkeit.
"Unsere Kindheit war hier damals sehr schön. Wenn ich mir jetzt für meine Kinder hier im Augenblick angucke: Wird nicht mehr viel geboten für die Kinder."

Der Bürgermeister fährt VW statt Mercedes

In Altena gibt es zu wenig Angebote für Kinder und Jugendliche: Das hört Andreas Hollstein häufiger. Mittwoch-Mittag, das Rathaus von Altena. Die Laune des Bürgermeisters ist so la-la. Kein Wunder: Schon seit Tagen schleppt der CDU-Mann eine mittelschwere Grippe mit sich. Gedankenversunken schaut Hollstein aus dem Fenster. Der Regen hat sich verzogen – und gibt den Blick frei auf das Wahrzeichen Altenas mit seinen Türmen, Erkern und wehenden Fahnen: Die Burg.
Die Burg von Altena
Die Burg von Altena, das Wahrzeichen der Stadt.© Michael Frantzen / Deutschlandradio
"Die Aussicht hier ist schön. Aber zu meinem Leiden hier gehört ehrlicherweise: Ich hab einfach verglaste Fenster, aber damals mal den Satz fallen lassen: Erst kommen alle Schulen dran. Und erst als letztes das Rathaus. Es ist im Winter verdammt kalt und im Sommer verdammt warm. Das is so."
Hollstein macht nicht nur bei den Fenstern Abstriche, sondern auch beim Fuhrpark.
"Ich fahr immer noch meinen Polo."

Verschuldete Kommune - trotz Sparmaßnahmen

VW statt Mercedes, wie sein Vorgänger: Mehr geht nicht. Findet Hollstein. Mit achtzig Millionen Euro steht seine Kommune in der Kreide – trotz der ganzen Sparmaßnahmen, die er seit seinem Amtsantritt Ende der 90er durchgedrückt hat.
"Um mal Beispiele zu nennen: Wir haben Sportstätten geschlossen, wir haben Schulen geschlossen. Zwei Grundschulen. Wir haben im Bereich Förderung des Sports und Förderung der Seniorenarbeit gekürzt. Wir haben das Personal hier im Rathaus von 180, die ich damals vorgefunden habe...sind wir heute bei 120. Insoweit sind wir die Infrastruktur angegangen und haben gesagt: Das ist der erste Schritt. Wir haben aber auch gesagt: Wir müssen modernisieren. Wir haben insgesamt 55 Euro Millionen private und öffentliche Investitionen im Innenstadtbereich getätigt."
Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena
Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena© Michael Frantzen / Deutschlandradio
Hollstein steht auf und geht zum Fenster. Er zeigt zur Burg. Seit ein paar Jahren zockelt ein sogenannter "Event-Aufzug" von der Altstadt hoch zur Burg und wieder runter. Seine Idee. Dank des Aufzugs finden jetzt einige der jährlich 130.000 Burg-Touristen den Weg in die Altstadt. Schon mal ein Pluspunkt für seine darbende Stadt – genau wie die neu gestalteten Lenne-Terrassen am Flussufer.

Eine pro-aktive Kommune

Hollstein macht und tut. Der promovierte Jurist ist in Altena geboren, er war Schülersprecher, Trainer beim Tischtennisverein. In die Landes- oder Bundespolitik wollte er nie. Altena ist Heimat. Ist ja auch nicht alles schlecht hier. Sogar die EU interessiert sich für seine Stadt – als positives Fallbeispiel für eine Kommune, die "pro-aktiv" damit umgeht, dass ihr langsam, aber sicher die Bevölkerung abhanden kommt.
"Bei uns ist das nen ganzheitlicher, strategischer Ansatz, den wir entwickelt haben. Ich glaube, dass die einzelnen Maßnahmen wichtig und gut sind, aber die Ganzheitlichkeit der Maßnahmen das Entscheidende ist."
Hollstein lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Eigentlich sollte er sich schonen, die Grippe auskurieren. Doch sein Terminkalender ist voll.
"Bisher hab ich das erklären können, was wir hier machen. Ich glaube, das ist wichtig. Dass man Politik erklärt. Ich glaube, dass da heute auch ein großes Manko auf kommunaler Ebene weniger, aber auf Landes- und Bundesebene ist; dass man Politik nicht mehr richtig erklärt. Und dadurch auch dieses diffuse Gefühl der Vernachlässigung entsteht. Ich glaube, wenn man mit dem Bürger redet – und das ist natürlich in ner Kleinstadt einfach: Man kann an den Stammtischen stehen, wir machen ne Sprechstunde auf dem Markt...dann auch nach vorne kommt."

Das Internet vor Ort schwächelt

Selbst bei der Flüchtlingsfrage. Waren anfangs auch nicht alle begeistert, als er 2015 meinte: Zu den gesetzlich vorgeschriebenen 350 Flüchtlingen nehmen wir noch weitere hundert auf. Bitte! Möglichst schnell. Hollstein ließ sich nicht beirren und tat das, was er am besten kann: Auf die Leute zugehen. Erklären. Dass Altena beispielsweise junge Leute gut gebrauchen kann, speziell Kinder; dank der Flüchtlinge 2015 erstmals seit einer halben Ewigkeit die Bevölkerung wieder leicht stieg.
Den Niedergang ganz stoppen aber konnte er nicht. Mit Beginn des Schuljahrs hat die Berufsschule – ein dicker Kasten in der Nähe des Rathauses – zu gemacht. Kein Bedarf mehr. Und das Internet?! Hollstein schüttelt den Kopf. Schwach wie sonst was.
"Ich glaube, dass diese Demokratie-Krise, die wir haben, mit der Frage des Aufkommens von Populisten, sehr viel damit zu tun hat, dass man einseitig auf modernisierte Regionen im großstädtischen Milieu gesetzt hat."

Viele engagieren sich ehrenamtlich

Ein neuer Tag, eine andere Ecke von Altena: Und auch hier: Regen. Anette Wesemann und Helmut Wehn sind gerade auf dem Weg ins "Stellwerk" – das "Generationenbüro für Altena".
"Das sind die Räumlichkeiten, die wir hier haben. Hier vorne finden denn Sprachkurse statt. Küche ist neu. Auch gespendet vom hiesigen Unternehmer."
Im Stellwerk arbeiten nur Ehrenamtliche. Leute wie Helmut Wehn. Bis zu seiner Pensionierung leitete der gebürtige Siegener das Jugendamt des Märkischen Kreises. Wehn hat Zeit. Viel Zeit. Deshalb ist er hier. Um Neuankömmlingen beim Deutschlernen zu helfen. Oder älteren Leuten bei Problemen mit irgendwelchen Formularen oder dem Internet.

In Berlin träumt man von solchen Mieten

Selbst etwas tun: Anette Wesemann, zuständig für bürgerliches Engagement bei der Stadt, gefällt das.
"Dass es in Altena sehr viele Bürger gibt, die sich engagieren. Von Pflanz-Paten angefangen; dass wir hier die Blumenkübel bepflanzen. Dass wir uns im Netzwerk Demenz um demenziell Erkrankte kümmern. Dass es noch Nachbarschaften gibt. Jeder kennt jeden. Das kann sehr beengend wirken. Wenn man das Gefühl hat...(lacht)...Nachbarin guckt immer aus dem Fenster. (lacht) Und guckt, was ich mache.
Auf der anderen Seite: Wenn man denn junge Familien gründet, hat es auch wiederum was Behagliches. Dieses Gefühl: Da guckt jemand und sieht, wenn mein Kind vor der Tür steht und den Schlüssel nicht findet. Und hier bei uns kann man ja relativ günstig wohnen. Die Durchschnittsmieten liegen vielleicht bei 3,50, 3,80. Da können se in Berlin ja nur von träumen."

Hier kennt jeder jeden über zwei Ecken

Zurück zu Tlako – Altenas musikalischem Botschafter. Es ist kurz vor halb neun. Einmal quer durch die dunkele Stadt ist er gefahren – von der Probe mit dem Dahler Musikcorps zu Norbert und Christoph, seinen Freunden. Zusammen sind sie "Toon Zoo". Eine Hobby-Band. Hat sich so ergeben. Über zwei Ecken kennt in Altena jeder jeden. Tlako grinst: Selbst mit dem Schützenkönig ist er per Du. Alles ganz easy. Kein Vergleich zu früher, seiner Zeit in Dortmund, den rassistischen Sprüchen, den Neonazis, die ihn als Schwarzen auf dem Kieker hatten, und den Polizisten, die ständig nach seinen Papieren fragten.
"Dann bin ich nach Altena gezogen und hab denn das erste Jahr gesagt: Besser niemanden begegnen. Bleibste gesund. Und hab dann nach einem Jahr gemerkt: Noch nicht einer son Spruch gelassen. Im Gegenteil: Der Schützenkönig seinerzeit hat denn gesagt: So! Komm! Wir dekorieren jetzt deine Musikschule. Mit diesen grün-weißen Fähnchen und dann sehen alle, dass du auch in der Gesellschaft bist und dann krisse Schüler. Und so war’s denn... auch."
In der Stadt, die schrumpft und schrumpft und schrumpft – und vielleicht gerade deshalb Tlako mit offenen Armen empfangen hat.
"Jetzt stell ich mir aber vor, dass eine Stadt, die ja Landflucht erlebt, natürlich sich auch freut über die da kommen. Kann ja sein, dass da was Interessantes bei is."
Tlako hat sich hinter das Schlagzeug gesetzt. Er schaut zu Norbert und Christoph: Kann losgehen.
Es wird ein langer Abend. Wenn alles gut läuft, wollen sie dieses Jahr das erste Mal öffentlich auftreten – in Altena, der Stadt der Möglichkeiten.
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