"Als sei ich der Leibhaftige gewesen"

Günter Grass im Gespräch mit Sigried Wesener · 05.03.2010
Nach Durchsicht seiner Stasi-Akten kommt der Schriftsteller Günter Grass zu dem Schluss, dass die Staatssicherheit der DDR seine Person und seinen Einfluss extrem überschätzt hat. Sie habe sich verhalten, als habe er DDR-Autoren zur Konspiration oder zur Flucht überreden können. Nichtsdestotrotz spiegelten die Stasi-Akten, die jetzt als Buch erscheinen, einen Teil der deutsch-deutschen Kulturgeschichte mit all ihren Streitfällen wider.
Susanne Führer: Jahrelang wollte Günter Grass gar nicht wissen, was in seiner Stasiakte steht, dabei ist Akte eigentlich das falsche Wort, denn die Protokolle der Bespitzelung umfassen immerhin über 2000 Seiten. Nun hat er sich das doch alles angesehen, am Montag erscheint ein Buch über die Bespitzelung Günter Grass' durch die Staatssicherheit. Und meine Kollegin Sigried Wesener hat mit dem Literaturnobelpreisträger darüber gesprochen, hier ein Auszug aus dem Gespräch:

Sigried Wesener: 28 Jahre stand in Berlin die Mauer, 28 Jahre waren Sie, Günter Grass, im Visier der Staatssicherheit der DDR. Inwieweit stimmen die eigenen Erfahrungen, die eigenen Erinnerungen mit denen, die die Staatssicherheit da aufgeschrieben hat, überein?

Günter Grass: Also ironischerweise müsste ich ja dem Staatssicherheitsdienst dankbar sein, weil diese 2000 Seiten, die mir nach und nach ins Haus geschickt wurden, eine wunderbare Gedächtnisstütze sind, zumindest was die Daten betrifft, und die groben Einzelheiten.

Man merkt es an den Berichten, dass die eingesetzten Informanten über Literatur nicht viel Bescheid wussten: Die Namen der westdeutschen Autoren sind zum Teil falsch geschrieben, selbst die der DDR-Autoren. Und die Einschätzung, um nur dieses eine Detail in den 70er-Jahren rauszugreifen, also wie wir mehrere Jahre bis zur Ausweisung Biermanns immer wieder von Westberlin mit Autoren rüberfuhren und in Privatwohnungen bei den einzelnen DDR-Autoren, bei Schädlich, bei Kunert, bei Sarah Kirsch und so weiter, uns trafen und aus Manuskripten vorgelesen haben. Sie sind nie hineingekommen, sie haben uns immer nur bis zur Wohnung begleiten können und zurück, wenn wir um Mitternacht wieder zum Palast der Tränen mussten, und nach Westberlin rübergingen.

Was natürlich für mich neben all dem Langweiligen und Dürftigen, was in den Berichten steht, interessant war, dass sich ja doch ein Stück deutsch-deutscher Kulturgeschichte mit all den Streitfällen widerspiegelt, es geht nicht nur um meine Person, sondern um das, was verhandelt wurde, und was streitbar verhandelt wurde, und was ignoriert wurde, übrigens auf beiden Seiten.

Wesener: Aber stimmt der fremde Blick mit dem eigenen Blick überein?

Grass: Nein, das stimmt nicht überein. Also ich meine, allein schon die Überschätzung meiner Person und meines Einflusses, also als sei ich der Leibhaftige gewesen, der versucht hat, dort Konspiration aufzubauen, oder die DDR-Autoren zu überreden, in den Westen zu kommen, was nicht stimmte. Das waren die Ängste und Vermutungen, die Hybris, die innerhalb des Staatssicherheitsdienstes waltete und zu diesen aberwitzigen Anstrengungen geführt hat, die gescheitert sind, der Staatssicherheitsdienst, trotz des aufgeblähten Apparates, war nicht in der Lage, diesen Staat so zu schützen, wie sie es vorhatten.

Sein eigentlicher Erfolg, das ist meine Einsicht danach, war nach dem Fall der Mauer, als es zur Einheit Deutschlands kam und auf einmal aus westlicher Sicht, nachdem die Stasiakten auftauchten, die gesamte Bevölkerung der DDR unter Stasiverdacht stand, weil man auf fahrlässige Art und Weise, bis in die Gauck-Behörde, das hat sich jetzt mittlerweile Gott sei Dank gegeben, das, was in den Berichten steht, wie Wahrheit gewertet hat. Man hat außer Acht gelassen, dass ein Großteil dieser Informanten unter Druck standen, oder den Ehrgeiz hatten, ihrem Führungsoffizier, dem Stasi-Führungsoffizier gefällig zu sein, möglichst was abzuliefern. Das wurde dann, niedergelegt in Akten, die erhalten sind, zum Schaden der DDR-Bevölkerung als Wahrheit gewertet.

Wesener: Sie haben ja immer gewarnt davor, dass man eben diese Akten nicht für bare Münze nur nehmen sollte, sondern diese Prosa der Staatssicherheit hinterfragen müsste. Welchen Stellenwert nimmt dennoch die Stasiakte in Ihrem Werk, für Ihre eigene Arbeit ein?

Grass: Das sind natürlich zum Teil auch Überraschungen. Ich habe zwar vermutet, dass ich irgendwann mal überwacht werde, aber nicht von 1960/61 an, und eine der Überraschungen war, dass Hermann Kant von dieser Zeit an schon zu den Topinformanten gehörte, also einer der Intellektuellen, innerhalb der Schriftstellerszene der DDR war er von Anfang an dabei. Eine andere Enttäuschung ist der Verleger Hans Marquardt, den ich eigentlich als Verleger schätzte, weil er innerhalb der DDR relativ mutig war.

Wesener: Mit dem Sie bis 1989 auch Kontakt hatten?

Grass: Ja, nahezu befreundet und hat uns eingeladen. Wir waren dort ein, zwei Tage zu Gast, und dass er die Gespräche, die wir dort geführt haben, auf sehr angeberische Art und Weise – auch das muss man dazu sagen – als Bericht an den Staatssicherheitsdienst gegeben hat, das ist schon übel. Ich habe mich ja jahrelang geweigert, überhaupt Einsicht zu nehmen in diese Akten, weil ich nachweisbar keinen unmittelbaren Schaden erlitten habe.

Wesener: Sie kennen aber die vollständige Akte?

Grass: Es kommen immer wieder neue Sachen, also man hat mir auch signalisiert, es ist noch nicht alles gefunden worden.

Wesener: Schon fünf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer waren Sie quasi im Visier der Staatssicherheit. Es ist auf jeden Fall überraschend, Günter Grass, dass Sie über diese lange Zeit den Blick Richtung Osten gewandt haben, dass Sie immer wieder in die DDR gefahren sind, dass Sie mit Intellektuellen in der DDR gesprochen haben, während andere ja sich doch eher nach Westen ausgerichtet haben, auch nach Amerika. Wie kam diese lange Zuneigung nach Osten?

Grass: Im Gegensatz zu Darstellungen, wie sie in westdeutschen Zeitungen, mich betreffend, vor allen Dingen nach '89 zu finden waren, habe ich selbst dann, als niemand mehr in Ost und West an eine Vereinigung glaubte, immer daran festgehalten, dass wir eine Kulturnation sind. Dass man zwar machtpolitisch, was im Kalten Krieg deutlich der Fall war, wirtschaftlich, in allen möglichen Bereichen, ein Land trennen kann, aber die Kultur, die Künste insgesamt, und insbesondere auch die Literatur, ist grenzüberschreitend. Es hat immer und sei es streitbar, einen Dialog zwischen Literaten in Ost und West gegeben.

Wesener: Später gab es in den 80er-Jahren, Günter Grass, die offiziell organisierten Treffen - Berliner Begegnungen. Was war für Sie wichtiger, diese privaten Schriftstellertreffen oder später diese offiziellen, dann auch öffentlich publizierten und wahrgenommenen Begegnungen?

Grass: Die offiziellen Berliner Begegnungen, das war eine Initiative, die von Stephan Hermlin ausging, und damit hat er sich in der DDR-Führung viele Feinde gemacht, das war nicht zu verhindern, und auch Hermlin hat es nicht zu verhindern versucht, dass bei dieser Berliner Begegnung eben nicht nur über Pershing-II-Raketen, sondern über die sowjetischen SS-20-Raketen gesprochen wurde.

Und man muss dazu sagen, dass eben dann doch also einige Schriftsteller, die dort auftauchten, überängstlich waren, also auf DDR-Seite. In der DDR gab es derzeit schon diese Bewegung "Schwerter zu Pflugscharen", da gab es viele junge Leute, die sich gefährdet haben, indem sie gegen die Raketensysteme beider Machtblöcke waren, also gegen SS-20 wie Pershing-II-Raketen.

Was ja auch gleich zu Beginn berichtet wird, mein Auftritt auf dem Schriftstellerkongress, gut, da war meine Rede, in der ich für Uwe Johnson Partei ergriffen habe, und die Zensur in der DDR beklagt habe, das war sicher ein Thema, aber das andere Thema war Stephan Hermlin. Der wurde damals heftig angegriffen, die haben ihn wegen seinem bürgerlichen Kulturverständnis angegriffen, und er hat fabelhaft darauf reagiert und hat aus seinem Wissen, aus seiner Kenntnis heraus gezeigt, was das bedeutet, bürgerliche Literatur, und dass man dazu stehen müsse.

Und aus dieser Haltung heraus, und aus der Haltung als Kommunist, der er war, dazu hat er sich ja bekannt, nahm er eine abgewogene Oppositionsrolle ein. Er hat sich übrigens auch – was viele Kritiker Hermlins aus dem Westen immer vergessen – er hat damals gegen die Ausbürgerung von Biermann mit protestiert, das gehört auch dazu.

Wesener: Das ist ja eine wichtige Zäsur, nicht nur in der deutschen Kulturgeschichte, nämlich die Ausbürgerung Wolf Biermanns, das Jahr 1976 ... Und alle Gesprächspartner in der DDR waren nachher Kollegen in der Bundesrepublik für Sie. Wie empfinden Sie dies im Nachhinein, war Ihnen wichtig, die Oppositionsrolle dieser Autoren zu stärken, sie bestärken, ihre Literatur weiter zu betreiben, wie sehen Sie das im Nachhinein?

Grass: Das betrifft nicht nur die Schrift. Es wird ja auch in den Stasiberichten erwähnt, bei den Lesereisen habe ich immer drauf bestanden, dass es eine Diskussion gibt. Und in der Schlussphase mit dem Verlag Volk und Welt organisierten und genehmigten Lesereise, ob in Erfurt oder Halle ...

Wesener: 1987 war die.

Grass: Ja. ... kamen dann Fragen aus dem Publikum: Sollen wir Ausreiseantrag stellen, ja oder nein. Was für mich als aus dem Westen kommend, was ich auch zugegeben habe, schwer zu beantworten ist, aber meine Antwort war dann die: Ich kann jeden verstehen, dem das hier zu eng ist und der sich freier bewegen will und dem Druck auf Dauer nicht träglich ist, aber wenn alle, die in Opposition zu den Verhältnissen stehen, das Land verlassen, ist die Opposition geschwächt, dann bleibt es bei diesen Verhältnissen. Und ich habe ähnlich den Schriftstellern gegenüber mich geäußert.

Und es kommt ja nun noch eins hinzu, das ist sicher eine nachträgliche Einsicht, die man gewinnt: Viele Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik wechselten, verloren die Reibfläche, die auf ihre Art und Weise widerständig und sei es verklausuliert und zwischen den Zeilen sich geäußert hatten, waren nun im Westen, der ihnen im Grunde fremd war, an dem sie sich nicht reiben wollten und konnten und haben ihr Thema verloren und auch damit natürlich ein Stück literarisches Niveau.

Wesener: Und möglicherweise auch ihr Kritikbewusstsein.

Grass: Der eklatante Fall Biermann. Biermann, der auf eine treffend und witzige und auch gekonnte Art und Weise, wie sie in Deutschland selten ist, sich an den Verhältnissen der DDR und sich als Kommunist verstehend in kritischer Opposition zu dieser Art von Realsozialismus geäußert hat, ist im Westen wie zahnlos gewesen. Das bedaure ich, empfinde ich als Verlust.

Wesener: Sie haben zu Beginn gesagt, Günter Grass, dass Sie Ihre Rolle, die Ihnen die Staatssicherheit zugedacht hat in diesen Akten, überzogen empfinden heute. Waren Sie sich über die Wirkungen Ihrer Auftritte, Ihrer Besuche damals im Klaren?

Grass: Nein. Es war ein kollegiales Verhältnis und das, was ich auch vorher sagte, das Bedürfnis, nicht den Kontakt zu verlieren, und natürlich mein Verständnis dieser Teilung Deutschlands, der Fortbestand der Kulturnation, das war mir wichtig. Das hat sich ja auch in anderen Reden, das ist ja auch eine These, die auch in Westdeutschland auf Widerstand stieß. Diese Zweistaatlichkeit ist ja nicht nur von der DDR betrieben worden. Vom Mauerbau an, auch die Mauer ist ein gesamtdeutsches Machtwerk gewesen. Man muss aufpassen, dass dies nicht nachträglich so eine besserwisserische Geschichtsschreibung hineinkommt, die den Westen so darstellt, als habe man dort immer an die Wiedervereinigung gedacht. Also was Separatismus betrifft, da konnten sich Ulbricht und Adenauer das Wasser reichen.

Wesener: Dennoch hatten Sie zeitweilig, zumindest in den 60er-Jahren, wie der Staat DDR ein Feindbild, das war die Adenauer-Republik. Sie sprechen immer wieder von der grauen und sehr dumpfen Adenauer-Zeit. Gab es irgendwelche Versuche, Sie anzuwerben von der Staatssicherheit, Sie auch wiederum in den Dienst zu nehmen, möglicherweise auch abzuschöpfen?

Grass: Nein, hat es nie gegeben. Man merkt ja an den Berichten, was den Staatssicherheitsdienst und die Führungsleute dort verunsichert hat, dass ich nicht in ihre Raster hineinpasste, weil ich mich ja nicht nur kritisch der DDR gegenüber, sondern auch kritisch in Verhältnissen der Bundesrepublik gegenüber geäußert habe. Und es kommt sicher hinzu, dass ich mich auch deutlich als Sozialdemokrat zu erkennen gab und sich für einen demokratischen Sozialismus aussprach. Also ich muss jetzt noch mal daran erinnern, als manche in West und Ost, ja, überhaupt nicht mehr daran geglaubt haben, dass es zu einer Einigung zwischen den beiden Staaten kommen konnte, habe ich dafür gesprochen. Ich habe mit Stefan Heym noch vor dem Verfall der DDR – das steht übrigens nicht in den Stasiakten – in Brüssel bei einer Veranstaltung des Goethe-Instituts haben wir uns Gedanken gemacht, was passiert eigentlich, wenn die Mauer eines Tages weg ist.

Wesener: Sie sind Ihrer Zeit häufig weit voraus, mit Ihren Fähigkeiten, vorauszuschauen, auch Finger in die Wunden und wirklich auf die Wunden zu legen und haben schon in den 90er-Jahren ja diesen Roman geschrieben, "Ein weites Feld", der von der Kritik auch sehr kritisch und sehr verschieden und sehr ...

Grass: Und wie der niedergemacht worden ist.

Wesener: ... verrissen wurde und kritisch aufgenommen wurde.

Grass: Ich erinnere mich, ja.

Wesener: Spielt für Sie diese Erfahrung mit Geheimdiensten, Agententum, da ist ja auch die Figur von Joachim Schädlich aufgenommen, dieser "Tallhover" in "Hoftaller". Spielt das literarisch für Sie noch eine Rolle, ist es für Sie literarisch überhaupt noch interessant und ein Stoff, über den Sie nachdenken mögen?

Grass: Ja, nach wie vor. Also ich halte erstmal meinen Roman "Ein weites Feld" für ein gelungenes Buch und für eins meiner besten, und ich bin sogar sicher, dass es sich halten wird, also trotz der vernichtenden, Vernichtungsversuches, der regelrecht vonstatten ging, als das Buch erschien. Wer das Buch genau liest, wird ja sehen, dass ich mich ja nicht einfach verengt habe auf den Zeitraum des geteilten Deutschlands nach '45, sondern durch Fontane den ersten deutschen verhängnisvollen Einheitsversuch mit Bismarck, also auf Blut und Eisen gründend, auf drei Kriege gründend, mit einbeziehe und diese Geschichtsebene miteinander verschränke und überhaupt an dieser Art des Schreibens mein Vergnügen finde und auch zu Ergebnissen komme. In dem Sinne wird natürlich das, was Sie fragend angesprochen haben, bei mir weiterhin bleiben. Nicht nur bei mir. Ich glaube, dass auch zunehmend in der Literatur eine – das ist ihre Aufgabe – eine differenzierende Rolle spielen wird.

Wesener: Ein neues Prosabuch, ein neuer Prosaband ist in Arbeit. "Grimms Wörter", so ist der Titel des Romans.

Grass: Ja, der erscheint im Herbst. Das ist eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache und ist auch im Grunde, es geht sicher um die Grimms und um die Entstehung des deutschen Wörterbuchs, aber auch in literarischer Form eine Fortsetzung meines autobiografischen Schreibens. Auch das hat natürlich, wenn man vom 19. Jahrhundert also und diese Zeitspanne in Blick nimmt, in der die Grimms gewirkt haben, spielen Vorläufer, Spitzel und Überwachungssystem eine Rolle. Ganze Demagogen verfolgen, das Metternich'sche System ist ja fortgesetzt worden, und zwar nicht nur im Osten, im Westen auch. Also CIA ist eine grauenhafte Organisation, eigentlich noch übler zu bewerten, weil sie in einem demokratischen Staat entstehen konnte.

Führer: Günter Grass im Gespräch mit Sigried Wesener. Das vollständige Interview können Sie am Montag in unsere Sendung "Fazit am Abend" ab 19:07 Uhr hören, und ab Montag ist dann auch die Dokumentation der Bespitzelung in den Buchhandlungen. Das Buch heißt "Günter Grass im Visier – Die Stasi-Akte" und erscheint im Christoph Links Verlag.
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