Als Juden gegen Juden kämpften

Moderation: Ulrike Timm · 11.11.2013
Der ehemalige israelische Botschafter Avi Primor hat einen Roman geschrieben, der den Ersten Weltkrieg aus der Perspektive zweier jüdischer Soldaten beschreibt. Die Juden hätten im Dienst an der Front eine Chance gesehen, endlich als Bestandteil der Nation betrachtet zu werden, erklärt Primor.
Ulrike Timm: Avi Primor war wohl nicht nur für "Die Zeit" der "bedeutendste Botschafter, den Israel nach Deutschland entsandt hat", in den 1990ern war das, und Avi Primor hat seine engen Verbindungen nach Deutschland auch nach seiner Diplomatenzeit gehalten und wird immer wieder gern nach seiner Meinung gefragt, zu deutsch-israelischen Themen oder zu Nahost. Er ist hochgeschätzt und uns vertraut als kluger, besonnener Gesprächspartner und als ein nach allen Seiten hin kritischer Geist.

Inzwischen lehrt Avi Primor an der Universität in Tel Aviv, wo er ein Zentrum für Europäische Studien gegründet hat. Er hat ein halbes Dutzend Sachbücher geschrieben - und jetzt, wann immer er das auch noch geschafft hat, im zarten Alter von 78 Jahren seinen ersten Roman veröffentlicht, "Süß und ehrenvoll", so heißt das Buch, das uns in den Ersten Weltkrieg führt, und davon wird er uns jetzt erzählen.

Herzlich willkommen, Herr Primor, schön, dass Sie da sind!

Avi Primor: Danke, dass Sie mich eingeladen haben, Frau Timm!

Timm: Sie spiegeln diesen Krieg in der Geschichte zweier junger Männer. Ludwig, der Deutsche, Louis, der Franzose, beide sind sie Juden. Wie kam das, dass das dieses Mal kein Sachbuch wurde, sondern dass Sie das erzählen wollten?

"Eine emotionale Geschichte"
Primor: Also ursprünglich wollte ich tatsächlich ein Sachbuch schreiben und erklären, was die Rolle der Juden im Ersten Weltkrieg war. Weil das eine einmalige Erfahrung der Juden in deren Geschichte gewesen war insofern, dass die Juden sich auf allen Seiten ganz leidenschaftlich, ich würde fast sagen, verrückt leidenschaftlich engagiert haben, was nie zuvor vorgekommen ist, also präzedenzlos und auch danach nicht wiederholen konnte.

Im Zweiten Weltkrieg konnten Juden ja nur auf einer Seite kämpfen. Und warum waren die Juden von diesem Krieg in allen Ländern so sehr begeistert? Weil sie darin eine Chance gesehen haben. Sie meinten, wenn sie jetzt in diesem Krieg ihren Patriotismus beweisen, ihr Blut für das Vaterland vergießen, dann werden sie endlich akzeptiert werden, dann werden sie endlich als Bestandteil der Nation betrachtet werden.

Und das, ich wiederhole, überall. Und ich wollte das beschreiben und erklären, und dann aber, als ich recherchiert habe und darüber nachgedacht habe, ist mir eingefallen, dass das eigentlich eher eine emotionale Geschichte ist. Das war nicht immer vernünftig, das war nicht immer rational, das war sehr emotional für die Juden, und Emotionen kann man eher in einem Roman schildern als in einem Sachbuch. Also das war der Kern der Sache.

Timm: Für beide, für Ludwig, den Frankfurter Arztsohn, und für Louis, den Bäckersohn aus Bordeaux, ist ihr Judentum eigentlich viel mehr kulturelle Tradition als wirklich Glaube. Beide kennen aber zumindest latent antisemitische Diskriminierung, und es gibt die Stelle, wo Ludwigs Familie den berühmten Satz von Kaiser Wilhelm erlebt, "Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche."

Und sie erleben das so, als hätte der Kaiser direkt zur jüdischen Minderheit gesprochen. Sie haben von der Hoffnung erzählt, die die Juden damit verbanden. Wie weit gingen diese Hoffnungen wirklich?

"Das Opfer der Juden wurde überall anerkannt"
Primor: Erstens haben Sie recht, der Kaiser hat nicht unbedingt die Juden gemeint. Er meinte die politischen Parteien, er wollte ein vereintes Deutschland hinter sich haben in diesem Krieg, und das ist ja auch normal, wenn man in den Krieg geht. Aber die Juden haben es so empfunden und vielleicht auch mit Recht, weil der Antisemitismus tatsächlich in den ersten Phasen des Krieges fast verschwunden war oder unterdrückt war.

Das hat nicht lange gehalten, aber eine Weile. Also haben die Juden darin schon einen Sieg gesehen. Ja, wir haben schon unser Ziel erreicht mit dieser Erklärung des Kaisers. Ich hab das Buch auch mit dem, was ich als Happy End beschreibe, beendet, wo die Juden auf beiden Seiten eigentlich, nachdem sie einen teuren Preis bezahlt haben, nach all dem Elend, nach all dem, was sie gelitten haben, oder geliebte Leute verloren haben, doch den Eindruck gehabt, dass sie das Ziel erreicht haben.

Man ehrt die Juden, das Opfer der Juden wurde überall anerkannt, und jetzt scheint die neue Zukunft, die wunderschöne Zukunft für die Juden, so denken sie es in Deutschland, so denken sie es in Frankreich. Wir, die Leser, wissen, was danach passiert ist, aber die Protagonisten wissen es nicht.

Timm: Der Irrtum ging ja bis 1933, wo viele Juden sich sicher geglaubt haben, weil sie ja das Eiserne Kreuz an der Brust hatten, für Deutschland gekämpft hatten. Die beiden jungen Männer, der Ludwig und der Louis, die haben ja viel gemeinsam. Die anfängliche Begeisterung für den Krieg, die Sehnsucht nach der geliebten Freundin, die Wirklichkeit, die sie dann erfahren, also Tod, Dreck, Gestank, Hoffnungslosigkeit und Kälte. Und beide schreiben viele, viele Briefe, wie es ihnen geht, das erfährt man aus ihrer Post.

Das sind ganz besonders eindrückliche Passagen in dem Buch, die auch dokumentarischen Charakter haben. Und ich habe gehört, dass Sie Berge von Feldpost gelesen haben, vor allem im Leo-Beck-Institut in Jerusalem. Wie kam das?

"Sieben Millionen Briefe täglich"
Primor: Nein, Leo Beck in Jerusalem war der Anfang, aber danach habe ich in Deutschland in verschiedenen Institutionen Briefe gelesen und in Frankreich genauso. Es gab einen riesengroßen Briefverkehr, man kann sich das gar nicht vorstellen. Also damals gab es ja keine Handys und auch andere Geräte nicht unbedingt, in den Schützengräben, und die Soldaten haben unheimlich viel geschrieben.

Es hat ja nicht in den Schützengräben jeden Tag geknallt. Sehr oft saßen sie da im Elend, im Schlamm mit den Ratten, mit der Angst im Nacken, aber haben nichts zu tun gehabt und haben Briefe geschrieben, an die Familien, an die Freundinnen, an Freunde, an alle - wenn ich Ihnen sagen sollte, die Deutsche Post, die Feldpost hat sieben Millionen Briefe täglich behandelt. Auf beiden Seiten, von den Familien an die Soldaten und umgekehrt.

Die Behörden auf allen Seiten allerdings haben Interesse daran gehabt, dass die Soldaten schreiben und Briefe bekommen, um ihre Moral aufrechtzuerhalten. Die meisten Briefe wiederholen sich, aber immer wieder gibt es schreckliche Beschreibungen oder sehr tiefgreifende Gefühle und Emotionen, die hier zum Ausdruck kommen, und ich habe überall wirklich Tausende, Tausende Briefe gelesen. Und das ist ein winzig kleiner Bruchteil von dem, was es gibt.

Timm: Bevor man die Details der Feldpost in einen Roman destilliert, muss man die erst mal aushalten. Wie viel Wucht hatten diese Briefe für Sie?

Primor: Oh, ich war wirklich hingerissen, muss ich sagen. Es war auch für mich emotional geworden, wie die Leute sich fühlen, was sie spüren. Sehr viel über ihre Beziehungen zu ihren Geliebten, zu den Frauen, und die Frauen zu den Soldaten. Unter diesen Umständen. Das waren nicht immer die normalen Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Das war manches Mal wilde Sex-Gedanken und manches Mal Emotionen, die sie gar nicht bewältigen können. Ja, das hat mich alles sehr, sehr berührt. Ich war manches Mal derartig berührt, dass ich aufhören musste und mir ein bisschen Luft machen. Aber ich kann Ihnen sagen, ich hab vielleicht hundertmal mehr gelesen, als das, was für mich nützlich war, weil die Sachen sich wiederholen.

Timm: Avi Primor ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Er hat einen Roman geschrieben, der den Ersten Weltkrieg aus der Perspektive von zwei jungen jüdischen Soldaten beschreibt, ein Deutscher und ein Franzose. "Süß und ehrenvoll", so heißt das Buch, und man denkt diesen verhängnisvollen halben Nachsatz doch immer mit: "Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben", so sagte man 1914. Und dieser Satz wird bei beiden zu Hause, bei dem Franzosen und bei dem Deutschen, sehr, sehr hochgehalten.

Die Soldaten sind Helden. Und sie selber erleben sich aber eben sehr schnell als "armselige Erdratten denn als stolze Krieger" und quälen sich damit herum, dass sie zu Hause auch kaum mehr verstanden werden für das, was sie in den Schützengräben erleben, auch gar keine Worte finden. Ist das typisch, diese Entfremdung?

Primor: Ja. Das war sehr typisch für die damaligen Soldaten. Allerdings wiederum auf allen Seiten. Also, ich habe mich auf den Hauptprotagonisten des Krieges berufen, weil ich konnte nicht überall alle erklären, alle erzählen, aber die beiden Nationen, die die Hauptlast des Krieges getragen haben, waren die Deutschen und die Franzosen, und da war es typisch so.

Die Soldaten haben sogar in den letzten Jahren des Krieges, als sie in den Urlaub gefahren sind, und meistens haben sie nur einmal im Jahr Urlaub bekommen, schon Angst gehabt vor dem Treffen mit den Freunden, mit der Familie, mit den Leuten in der Stadt, weil sie begriffen haben, dass man sie gar nicht mehr versteht und man das anders in der Heimat denkt als an der Front. Das war auch ein großes Problem für sie.

Timm: Avi Primor, Sie werden in dieser Woche mit der Erich-Maria-Remarque-Medaille ausgezeichnet. Erich-Maria Remarque schrieb "Im Westen nichts Neues", den Antikriegsroman schlechthin. War Ihr besonderer Blickwinkel, der erste Krieg, in dem Juden gegen Juden kämpften, beseelt von dem Gedanken, ich ziehe für mein Vaterland in den Krieg, als gleichberechtigter Bürger - war dieser Aspekt überhaupt vorher schon mal Thema?

Primor: Ja, doch. Also zunächst einmal zum Thema Erich-Maria-Remarque-Preis: Das hat natürlich mit meinem Buch überhaupt nichts zu tun, das ist reiner Zufall. Der Preis wird mir verliehen für meine Bemühungen für Versöhnung.

Timm: Aber die Bücher scheinen sich zu begegnen, wenn man sie liest.

Erich Maria Remarque im Jahr 1939
Erich Maria Remarque im Jahr 1939© AP
"Der Zweite Weltkrieg hat alles überschattet"
Primor: Ja, aber eben so. Das war ein Glücksfall für mich, für das Buch, ausgerechnet Erich-Maria Remarque jetzt. Schauen Sie, ich kann Ihnen erzählen, wie das bei mir entstanden ist. Ich wusste so gut wie nichts von den Juden im Ersten Weltkrieg, wie die meisten Israelis davon überhaupt nichts wissen. Auch die Juden wissen es heute nicht, der Zweite Weltkrieg hat alles überschattet, und man erinnert sich nicht mehr an das, was vorher geschah.

Aber ich habe mal eine Komödie im Theater, das war, als ich Student war in Jerusalem, eine Komödie im Theater, da gab es verschiedene Sketche. Und da gab es einen Sketch, den ich gar nicht verstehen konnte, er war komisch, er war angeblich lustig, aber ich konnte überhaupt nicht verstehen. Da sieht man auf der Bühne einen Soldaten in einem Wald im Nebel, der geht mit seinem Gewehr voran und ist sehr ängstlich, weil er seinen Weg verloren hat und steht da im Wald im Nebel und weiß nicht mehr, was passiert ist, und da plötzlich kommt eine Gestalt von der anderen Richtung ihm entgegen. Und er versteht, dass das ein feindlicher Soldat ist und will ihn erschießen.

Der andere hat sein Gewehr auf der Schulter und versteht, dass er die ganze Sache verpatzt hatte, er kann sich nicht bewähren. Und da sagt er nur ein kurzes jüdisches Gebet, ein Totengebet. Und da sagt der Erste: Oh, Sie sind Jude? Sagt er: Ja, na und? Sagt der: Ich auch! Ach, komisch! Sie sind Jude, auf der anderen Seite, wieso? Da setzen sie sich hin und beginnen zu sprechen, warum wollen wir einander erschießen, was haben wir gegeneinander? Bis der eine sagt, ja, das stimmt, aber dein Kaiser, dein dreckiger Kaiser, hat meinen Kaiser beleidigt. Und dafür - sagt der andere, was soll das? Dein Kaiser hat meinen Kaiser beleidigt! Und wollen sich schon wieder erschießen. Und dann sprechen sie wieder. Letzten Endes erschießen sie sich gegenseitig.

Ich hab diese Geschichte nicht verstanden, aber in meinem Hinterkopf schwebte der Gedanke, dass ich das irgendwann erforschen müsste. Was war das, und wie war das und warum?

Timm: So entstehen Romane. Avi Primor über seinen ersten Roman, er spielt im Ersten Weltkrieg. "Süß und ehrenvoll" heißt er, ist eindrucksvoll zu lesen und bei Quadriga erschienen.

Herzlichen Dank fürs Gespräch!

Primor: Danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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