Als die Massen politisch wurden

Rezensiert von Ulrike Ackermann · 21.04.2013
Nichts Geringeres als eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts legt Jan-Werner Müller mit seinem 500-Seiten-Opus vor. Sie setzt ein mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und endet mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989.
Seine zentralen Fragen sind: Wie legitimiert sich politische Herrschaft im Zeitalter der Massendemokratie? Welche Ideen treiben die Realpolitik an und wie werden sie umgesetzt? Der Soziologe Max Weber stand hier Pate und begegnet uns immer wieder in dem Buch.

Der Erste Weltkrieg ist die große Zäsur. War das 19. Jahrhundert noch geprägt vom liberalen Fortschrittsdenken und politisch eingefasst von Monarchien, so begann nun ein Zeitalter, in dem die Massen in die Politik eintraten und eine permanente Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Konzeptionen der "Herrschaft des Volkes" einsetzte.

Die 1918 etablierte liberale parlamentarische Form der Demokratie blieb eine ständig umkämpfte Politikform und war noch so fragil, dass die totalitären Ideologien in Gestalt der Diktaturen in Europa erst einmal obsiegen konnten.

"Wir müssen wieder ein Bewusstsein dafür entwickeln, warum und auf welche Weise Ideologien derart attraktiv sein konnten – ohne damit natürlich irgendetwas entschuldigen zu wollen",

so Müller. Anhand unterschiedlichster Ideengeber, wie Karl Kautsky, Antonio Gramsci oder Georg Lukacs, beleuchtet der Autor das ideengeschichtliche Laboratorium der Zwischenkriegszeit.

Es folgte die Epoche der radikalen Ideologien mit ihren Vorstellungen vom neuen Menschen, von der Volksgemeinschaft und der Klassenjustiz samt ihren Vernichtungsbestrebungen und Massenmorden.

"Doch selbst die politischen Experimente, die sich in schroffem Gegensatz zur liberalen parlamentarischen Demokratie verstanden – wie, auf der einen Seite, der real existierende Staatssozialismus mit seinem Versprechen einer vollendet kommunistischen Gesellschaft und, auf der anderen Seite, der Faschismus -, spielten auf der Klaviatur demokratischer Werte."

Zugleich sind für Müller die gesellschaftlichen Homogenisierungs- und Reinigungsprojekte Hitlers, Mussolinis und Stalins trotz ihrer Differenzen klassische totalitäre Ordnungsmodelle.

Nach 1945 entstand im Nachkriegseuropa ein neues Gleichgewicht von Demokratie und liberalen Prinzipien; die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde installiert. Das Konzept der wehrhaften Demokratie, aber auch die Skepsis gegenüber der Volkssouveränität prägten die neue Politik in Westeuropa nach den totalitären Erfahrungen:

"Sie war nicht charismatisch, jedoch fest an der Exekutive und pragmatischen Führungsfiguren orientiert; sie war nicht darauf ausgerichtet, Sinn zu stiften, beruhte aber theoretisch auf mehr als nur wirtschaftlichem Erfolg (…).
Sie wurde nicht von einer umfassenden liberalen Vision getragen, war aber doch dem Versuch gewidmet, die Bürger durch gemeinsame Werte zu integrieren, die in der Absage an die faschistische Vergangenheit und die aktuelle kommunistische Bedrohung aus dem Osten wurzelte."


Die Christdemokratie wurde – mit Ausnahme Großbritanniens - zur entscheidenden politischen Kraft, die erfolgreich den Wohlfahrts- und modernen Verwaltungsstaat im Nachkriegseuropa aufbaute.

Adenauer, Gasperi und Schuman waren denn auch die wesentlichen Architekten der Europäischen Gemeinschaft. Geprägt von dem Misstrauen gegenüber der Volkssouveränität, schmiedeten sie mit technokratischen und administrativen Maßnahmen ein Projekt, das bis heute vornehmlich von den Eliten vorangetrieben wird.

Jan-Werner Müller spricht von einem christdemokratischen Zeitalter, dem nach rund 20 Jahren die Kulturrevolution von 1968 begegnete. Herbert Marcuse, Ernst Bloch und später Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann werden ausführlich gewürdigt, der französische Strukturalismus und die Postmoderne beschrieben.

Der Autor porträtiert Ideengeber, deren Einfluss bis hinein in Feminismus und Ökobewegung reichen. Auch die Stadtguerilla und die RAF finden Erwähnung. Aber erfreulicherweise zeichnet er auch die Ideen der ostmitteleuropäischen Bürgerbewegungen und einiger Dissidenten nach, die den Eisernen Vorhang niederrissen und zum Fall der Mauer beitrugen.

Bis auf den Streit zwischen den Ökonomen und Sozialphilosophen John Maynard Keynes und Friedrich August von Hayek bleiben allerdings liberale und antitotalitäre Denktraditionen erstaunlich unterbelichtet. Oder ist dem Autor unser Erfolgsmodell der liberalen Demokratie zu wenig partizipativ und zu marktfreundlich? Denn er warnt davor:

"(…) eine Geschichtsschreibung aus Siegerperspektive könnte übersehen, dass das, was sich in Europa durchsetzte, eine ganz besondere Art von liberaler Demokratie war – eine, die viele der im Lauf des 20. Jahrhunderts formulierten demokratischen Ideale nicht erfüllte."

Einzig der Titel will nicht so recht passen. Denn das europäische 20. Jahrhundert, um das es Jan-Werner Müller geht, war nur zeitweilig demokratisch und der östliche Teil des Kontinents kam erst 45 Jahre später mit den friedlichen Revolutionen 1989 in der Demokratie an.

Was diese Ideengeschichte allerdings aufzeigt, ist das ständige Ringen um Demokratie und Freiheit. Beide müssen sich im übrigen bis heute immer wieder neu behaupten. Gerade jetzt, wenn Europa erneut an einem Scheideweg steht.

Cover: "Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter"
Cover - "Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter"© Suhrkamp Verlag Berlin
Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Michael Adrian
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
519 Seiten, 39,95 Euro
Mehr zum Thema