Alphateilchenbeschuss von Goldfolie

Von Frank Grotelüschen · 20.12.2010
Atome besitzen einen Kern, der von lauter Elektronen umschwirrt wird. Diese Weisheit findet sich heute in nahezu jedem Schulbuch für Physik. Zu verdanken haben wir sie Ernest Rutherford, einem neuseeländischen Physiker und Nobelpreisträger. Am 20. Dezember 1910 gelang ihm dazu das entscheidende Experiment.
"Dieses Problem hat mich den größten Teil meiner wissenschaftlichen Laufbahn beschäftigt. Und während dieser Zeit durfte ich einen erstaunlichen Zuwachs unseres Wissens erleben."

Das Problem, von dem Ernest Rutherford im Jahr 1935 geradezu liebevoll sprach, ist das der Alphateilchen. Das sind schnelle Heliumkerne, die von manchen Atomen beim radioaktiven Zerfall ausgesendet werden. 1896 hatte der Franzose Henri Becquerel die Radioaktivität überhaupt erst entdeckt – und zwar zufällig. Zunächst war völlig unklar, was hinter dem neuen Phänomen steckte. 1903 fand Ernest Rutherford die Ursache: Radioaktivität kommt dadurch zustande, dass manche Atomsorten instabil sind und zerfallen können. Eine umwälzende Erkenntnis, denn:

"Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Chemiker mehr als 80 verschiedene Elemente entdeckt. Und die Atome dieser Elemente galten als absolut stabil und unteilbar."
Für sein Gesetz des radioaktiven Zerfalls erhielt Rutherford 1908 den Chemie-Nobelpreis. Doch bald drängte sich dem neuseeländischen Physiker die nächste Frage auf: Wie im Detail sahen diese zuweilen instabilen Atome eigentlich aus?

"Da gab es relativ vage Vorstellungen – man hatte eigentlich keine richtigen."

Karsten Büsser, Physiker am Forschungszentrum DESY in Hamburg:

"Man hat sich das Atom im Wesentlichen als das kleinste Stück eines Stoffes vorgestellt, das da war."

Um Näheres über die Natur der Atome herauszufinden, baute Rutherford Ende 1910 an der Universität Manchester ein neues Experiment auf: Er schoss Alphateilchen auf eine hauchdünne Folie aus Gold. Die Folie war so dünn, dass die Teilchen wie Geschosse durch sie hindurchfliegen und allenfalls ein wenig abgelenkt werden sollten. Die Messreihe schien abgeschlossen, da bat Rutherford seinen Assistenten Ernest Marsden, die Leuchtschirme – also quasi die Kameras für Alphateilchen – nicht wie üblich hinter, sondern vor die Goldfolie zu stellen. Eigentlich sollte hier kein einziges Alphateilchen zu finden sein. Doch einige Tage später, am 20. Dezember 1910, erschien Marsden mit einer verwirrenden Nachricht: Seine Leuchtschirme hatten ein paar Alphateilchen aufgefangen – und zwar vor der Goldfolie.

Karsten Büsser: "Da hat Rutherford gesagt, das kann er sich kaum vorstellen. Das ist, als wenn man eine Artilleriegranate auf ein Stück Papier abfeuert, und die Granate kommt wieder zurück!"

Rutherford ließ die Versuche wiederholen, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Um es zu verstehen, fing der Physiker an zu rechnen.

Karsten Büsser: "Dann war Rutherfords große Leistung, dass er mathematisch das erste komplizierte Atommodell nachgewiesen hat. Aus seinen Rechnungen kam raus, dass es im Atom einen sehr kleinen, aber sehr schweren Kern geben muss, der fast die gesamte Masse des Atoms in sich vereinigt. Und dass der Rest der Materie im Wesentlichen leer ist. Das war schockierend, und das war auch bahnbrechend."

Deshalb flogen die meisten Alphateilchen in Rutherfords Versuch durch die Goldfolie hindurch wie durch Luft. Einige aber trafen direkt auf den Kern eines Goldatoms und prallten von ihm ab – als würde man mit einem Squashball frontal auf eine Bowlingkugel treffen.

Ernest Rutherford: "Die Idee einer nuklearen Struktur von Atomen, die ich 1911 vorschlug, hat sich als äußerst nützlich erwiesen."

Rutherfords Entdeckung war die Grundlage für jenes berühmte Atommodell von Niels Bohr, das einem winzigen Planetensystem ähnelt – ein winziger, schwerer Atomkern, umschwirrt von lauter Elektronen. Karsten Büsser:

"Letztlich hat das dann die Tür zur Quantenmechanik geöffnet. Wo man also wirklich gesehen hat, dass so kleine Teilchen ganz anderen Gesetzen gehorchen als die, die wir im Großen haben."

Und auch Rutherfords Methode, schnelle Teilchen auf Materie zu feuern und dadurch ihr Innenleben zu erkunden, setzte Maßstäbe: Noch heute schießen Physiker mit großen Beschleunigern winzige Teilchen aufeinander und analysieren, wie sich diese gegenseitig ablenken – der berühmte Rutherfordsche Streuversuch, nur sehr viel genauer.

Karsten Büsser: "Die Auflösung, die wir haben, ist heute so viel besser, dass wir nicht mehr den Atomkern im Atom finden. Sondern wir gucken uns die Bauteile der Bauteile des Atomkerns an. Und das sind die Quarks."

Physikalische Errungenschaften, die Ernest Rutherford nicht mehr erlebte. Er starb 1937 – 27 Jahre nach seiner bahnbrechenden Entdeckung.