Alltag von Behinderten

Ohne Geduld geht gar nichts

Ein Mann fährt in einem Rollstuhl aus einem Zug.
Ein Mann fährt in einem Rollstuhl aus einem Zug. © picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen
Von Christina Rubarth · 14.03.2016
Der Berliner Oliver Kuckuk sitzt im Rollstuhl. Zuhause und im Büro kommt er damit gut zurecht. Schwierig wird es, wenn er mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist und Einkaufen geht.
"Komm se ruhig mit! Die Null?"
"Ausgang, Danke..."
Aus dem zweiten Stock runter in die Tiefgarage, früh um viertel vor Acht. Oliver Kuckuk, Ende 30, kurze braune Haare, in Jeans und warmer Jacke, sitzt in seinem Rollstuhl. Die ältere Dame, die in der 1. Etage dazu kommt, hält sich an ihrem Rollator fest. Beide wohnen in einem großen barrierefreien Wohnhaus mitten in Prenzlauer Berg.
"Schönen Tach noch!"
Die schwere Kellertür öffnet Oliver mit der Faust über einen Schalter an der Wand. Nach einem Autounfall mit 16 ist er querschnittsgelähmt, ein Tetraplegiker. Das heißt: Nicht nur seine Beine kann er nicht bewegen, auch seine Finger kaum steuern.

Ein Assistent hilft beim Anziehen

Hinter der Schiebetür seines weißen VW-Busses steckt ein Mini-Lift mit einer kleinen Hebebühne. Die fährt zu ihm herunter. Oliver rollt drauf, wird hochgefahren, rollt rein ins Auto. Gute 10 Minuten dauert das Einsteigen. Das ist schnell, sagt er.
Ohne Geduld geht gar nichts. Oliver braucht lange für alles, was er tut: morgens und abends hilft ihm ein Assistent beim Waschen und Anziehen. Mindestens 1,5 Stunden braucht er jeden Morgen vom Wachwerden bis zum Frühstückstisch.
Oliver lenkt das Auto mit Automatikgetriebe mit Hilfe einer Drehgabel, gibt Gas und bremst per Handgas. 20 Minuten ist er unterwegs bis nach Marzahn zu seiner Arbeit. Nochmal 10 Minuten später ist er ausgestiegen, rollt zum Büro. Ein kleiner Bungalow mit großer Fensterfront.
"Morgen!"
"Und du möchst rein?"
"Genau."
Oliver begrüßt seinen Kollegen mit der Faust statt mit der ausgestreckten Hand, rollt zu seinem Schreibtisch, Stufen gibt es hier nicht, nur Rampen. Nicht nur für ihn, sondern auch für die Kunden.

Sein Arbeitgeber nutzt sein Alltagswissen

Kadomo, sein Arbeitgeber, baut Autos rollstuhlgerecht um, Oliver berät und verkauft. Kadomo, so könnte man sagen, nutzt Olivers Alltagswissen – und bezahlt ihn dafür.
"Die Expertise, die Behinderte mitbringen, zu nutzen, da ist ja nichts Falsches dran. Immer mehr Firmen entdecken die Behinderung auch als Ressource. Ob's nun der Autist ist, der bei der Computerprogrammierung Fehler besser erkennen kann durch seine Fokussierung, oder der Blinde, der Sachen auditiv besser wahrnimmt."
Kurze Besprechung mit Chef und Kollege: Eine Messe steht an. Selbst in Bereichen, in denen Hilfsmittel für Behinderte produziert werden, sind Behinderte auf dem Arbeitsmarkt unterrepräsentiert, sagt Oliver.
Hundert Meter vor der großen bodentiefen Fensterfront von Olivers Büro sein alter Arbeitgeber: Das Unfallkrankenhaus Berlin. Die Jobsuche hat bei Oliver auch immer viel mit Chancen zu tun, die er zu nutzen weiß. Chancen, die viele Behinderte gar nicht erst bekommen.
"Das ist wie bei der Wohnungssuche, wenn man 'ne rollstuhlgerechte Wohnung sucht. Wenn man anruft und fragt: Kann ich bei Ihnen ein Praktikum machen, dann wissen die gar nicht, ob sie können. Ein Läufer sieht auch nicht, dass die Kante für Rollstuhlfahrer ungünstig ist oder die Tür schwergängig. Also da sind einige Sachen, die ja nicht im normalen Bewusstsein drinne sind."
Ohne Praktika keine Arbeitserfahrung, keinen Job. Dazu kommt, dass es sich für viele Behinderte kaum lohnt zu arbeiten. Sind sie auf persönliche Assistenz und Sozialhilfe angewiesen, dürfen sie maximal 2600 Euro auf dem Konto haben. Das macht Sparen für sie unmöglich.
Oliver fordert eine bedarfsgerechte Versorgung – unabhängig vom Einkommen. Er rollt am Drucker vorbei in Richtung Ausgang. Kommt aber nicht weiter.
"Komm du erstmal her..."
"Ich komm nicht weiter."
Seine Kollegin, auch im Rollstuhl, versperrt ihm den Weg, der Flur ist zu klein. Selbst hier, beim Umrüster, ist nicht alles rollstuhlgerecht.

Herausforderung Einkaufen

Drei Tage später, Samstagnachmittag. Statt mit dem Auto fährt Oliver mit der Tram zum Alexanderplatz, nur eine Station. Das spart Zeit, kostet aber Nerven. Er muss sich festklammern an der Haltestange, in den Kurven ruckelt die Bahn so stark, dass er sonst einen halben Meter zurück rutscht.
"U-Bahnhof Alexanderplatz."
Bahn und Fußweg sind nicht ganz auf gleicher Höhe, Oliver knallt mit den kleinen Vorderrädern mit viel Schwung auf den Asphalt, bremst und kriegt gerade noch die Kurve vor einer Gruppe junger Mädchen. Olivers Freundin ist krank und bleibt zu Hause, er soll für sie einkaufen.
"Eigentlich haben sie hier immer einen ganz Netten..."
Die erste Schwingtür in das Kaufhaus schiebt Oliver mit den Knien auf, bei der zweiten hilft ihm ein Security-Mann. Drinnen holt er sein Handy aus der Tasche. Seine Freundin hat fotografiert, was sie braucht: eine Creme. Er zeigt das Bild der Verkäuferin, die rennt vorne weg, verschwindet hinter den Regalen. Er findet sie wieder, legt die Creme auf seinen Schoß, rollt zur Kasse.
Oliver fummelt an seinem Rucksack, der hinter ihm am Rollstuhl hängt, braucht ein, zwei Minuten, bis er den Reißverschluss geöffnet, das Portemonnaie gefunden, die EC-Karte in der Hand hat. Die Verkäuferin nennt zum zweiten Mal den Preis, jetzt etwas lauter.
"Ich hasse ja ooch die Hektik an Kassen, die da so entsteht, anstrengend."
"Herr Nicksch! Was machst du denn hier?"
Auf dem Weg zurück zur Tram. Oliver trifft seinen Nachbarn Uwe, auch im Rollstuhl.
"Ich hab mich eben schon wieder übelst aufgeregt, son Typ mit som dicken Auto auf nem Rolliparkplatz sich hingestellt hat, ich meinte dann: Und findste das gut oder so? Der hat überhaupt nicht drauf reagiert so, als ob's ihm kackegal wär. Sowas nervt mich extrem..."
Oliver nickt, kennt er. Einfach alle Parkplätze breiter machen. Das wäre richtige Inklusion, sagt er und entscheidet sich für Auto statt Tram nach Hause. Zusammen mit Uwe.
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