Alles nur geklaut

31.03.2011
Der Autor kopiert, zitiert ohne Quellenangabe, verfremdet, fälscht, bedient sich hemmungslos aus Sozial- und Geisteswissenschaften, plagiiert ohne jegliche Skrupel. Und ist stolz auf sein Zettelwerk. Geistiges Eigentum – das war einmal.
Der amerikanische Schriftsteller David Shields hat ein ebenso wüstes wie witziges, provozierendes wie widersprüchliches Buch über die Zukunft der Literatur vorgelegt, über Wahrheit in der Kunst, über Kunst im Zeitalter interaktiver Medien. Er macht aus seiner Verachtung für den traditionellen linearen Roman, die in sich geschlossene Geschichte, keinerlei Hehl: "Plots sind was für Tote." Wer heute noch Romane schreibt, so behauptet er immer wieder, ist hoffnungslos veraltet und – was noch schlimmer ist - langweilig. Die Realität sieht seiner Meinung nach anders aus: Sie besteht aus Fragmenten, die sich nicht mehr in einer Erzählung zusammenfassen lassen.

So ist denn auch sein Buch keine in sich geschlossene Abhandlung, sondern ein Sammelsurium von 618 Gedankensplittern, Kurzkapiteln, bald einem Satz, bald eine Seite lang. David Shields präsentiert kein in sich geschlossenes Theoriengebäude, sondern Ideen, Ansichten und Einsichten, Aphorismen, Anekdoten, persönliche Einschätzungen. Ständig schwankt man zwischen Zustimmung und Ablehnung. Neben hemmungslosen Übertreibungen stehen Grundwahrheiten. Das Meiste ist geklaut, allerdings ohne den leisesten Hinweis auf den Urheber.

Die Methode ist Absicht. Kunst ist für David Shields Montage und Collage, namenlose Aneignung fremder Ideen. Künstler hätten sich stets aus dem Fundus der Kunstgeschichte bedient. Nur dass heute das Kopien fremder Kunst ein Kinderspiel ist. Die alten Regeln gelten nicht mehr. Das Urheberrecht hemmt seiner Ansicht nach die menschliche Kreativität. Und die nährt sich heute aus der Melange.

Angesichts der Reality-Shows im Fernsehen, der Bekenntnissendungen sind für David Shields Biografie und Auto-Biografie "der Lebenssaft der Kunst". Da fließt alles zusammen: Wirklichkeit und Erfindung, Wahrheit und Lüge. Die beste zeitgenössische Literatur ist für David Shields der nichtfiktive Text. Er begeistert sich für den lyrische Essayisten, denn der kann "all die Freiheiten fiktionaler Texte genießen, ohne aber dessen Bürde der Nicht-Realität tragen zu müssen".

David Shields "Manifest" nimmt eine alte Debatte wieder auf: Wie kann Kunst Realität wiedergeben? Das Bild, das er von der Mediengesellschaft und auch von sich selbst entwirft, ist erschreckend: eine Generation, die verlernt hat zuzuhören, Slogans Argumenten vorzieht, deren Aufmerksamkeitsdauer keine Minute beträgt; eine Ideologie, in der Arbeiten wie die des Freiherrn zu Guttenberg entstehen. Shields geforderte Kunst ist die des Zappelphilipps. Er ist ihr Propagandist. Man muss seine Meinung nicht teilen – aber man sollte sie kennen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Besprochen von Johannes Kaiser

David Shields: Reality Hunger – Ein Manifest
Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck Verlag, München 2011
224 Seiten, 19,95 Euro
Mehr zum Thema