Alles auf Grün. Die neue Lust am Landleben

Von Kolja Mensing · 23.03.2011
Schon Rousseau wollte zurück zur Natur - auch, wenn der Trubel in den Städten und Dörfern damals noch nicht so groß gewesen sein dürfte. Heute hat die Bewohner unserer Metropolen eine neue Landlust gepackt. Wer es sich leisten kann, zieht hinaus aufs Dorf.
"Es gibt eine neue Landlust insofern, als wir immer in solchen Zeiten das Bedürfnis haben, auf das Einfache und das Ursprüngliche zurückzukommen."

Berlin, Hauptbahnhof. Es ist morgens um halb zehn. Rollkoffer, Geschäftsleute, die mit dem Blackberry schnell noch ihre E-Mails checken, gestresste Familien, die von einem Bahnsteig zum nächsten hasten. Unter den Füßen vibriert der Stahlbeton, wenn die ICEs aus Hamburg, Frankfurt oder Köln einfahren.

"Menschen sind in der Tat sehr verschieden. Es gibt viele Leute, die finden es wirklich inspirierend, wenn sie wissen, sie sind in der Mitte von noch Hunderttausend anderen Menschen; das ist mir ein völliges Rätsel, warum... Ich kann das höchstens mal, wenn ich in New York oder Istanbul bin, mal so kurz erleben, aber nicht immer; und auch nicht in Frankfurt – und ehrlich gesagt auch nicht in Berlin."

Deutschland ist schnell und hektisch geworden. Doch während die Großstadt-Maschine auf Hochtouren läuft und der Lärmpegel steigt, träumt das Land heimlich von einem anderen Leben – auf einem Restbauernhof im tiefsten Schwarzwald oder in einem Ackerbürgerhaus in einem gottverlassenen Brandenburger Straßendorf.

"Ich finde es zum Beispiel einen unglaublichen Luxus, dass man hier jeden Tag schöne Dinge sieht – und man muss überhaupt nichts tun."

"Das Schönste sind eigentlich diese Kraniche da; das ist schon toll."

"Und im Sommer, auch mal abends, dann sind die Grillen unterwegs und geben ihre Laute von sich, aber es ist unglaublich still; und es duftet auch ganz stark, es riecht so nach ... Wenn der Erich gerade mit der Sense durch war, dann riecht es nach frisch gemähtem Gras, toll! Ganz viel Luft. Und Wiesen."

So viel Grün war schon lange nicht mehr. Hochglanz-Zeitschriften wie "LandLust" erzielen Rekordauflagen, Fernsehformate wie "Land & Liebe" und "Bauer sucht Frau" machen Quote. In diesem Frühjahr ist der Trend auch auf dem Sachbuchmarkt angekommen. "Landleben" oder "Schöner Mist" heißen die Bücher, Untertitel: "Mein Leben als Landei" oder "Ein Selbstversuch in der Provinz": Schriftsteller und Journalisten machen sich auf, um draußen auf dem Land endlich einmal durchzuatmen, um nach echter Nachbarschaft zu suchen – und natürlich nach Ruhe.

"Ich finde Berlin ist gar keine so besonders laute Stadt, aber es sind ja trotzdem ständig Geräusche um einen herum. Es ist ja nie wirklich ganz still, und dort steigt man aus dem Auto, und es ist ganz still... und man denkt, man hat einen Hörsturz."

MUSIK: The Decemberists – "Down by the Water"

Die Sonne scheint, ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. Die Lüneburger Heide zeigt sich an diesem Tag von ihrer besten Seite. Nur ruhig ist bei Hilal Sezgin nicht. Nachbar Peter sägt Holz. Alltag auf dem Land:

"Der Tag beginnt natürlich mit den Tieren. Im Sommer ist es ein bisschen früher, im Winter ist es ein bisschen später; wenn ich aufstehe, versuche ich schon als erstes die Tiere zu versorgen, also, ich lass die Gänse raus, ich lass die Hühner raus, ich füttere die Schafe, ich gucke, dass alle Tiere genug Futter haben und genug Wasser haben; mit dem Wasser ist es manchmal mühsamer als das mit dem Futter."

Hilal Sezgin, Jahrgang 1970, ist Schriftstellerin und freie Journalistin. Sie arbeitet für "Die Zeit", die "Frankfurter Rundschau" und die "taz", sie veröffentlicht Romane und Sachbücher – und lebt seit fünf Jahren in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. Im Nebenberuf ist sie jetzt Bäuerin.

"Aber es passt eigentlich ganz gut mit dem Schreiben, weil: Man schreibt ja nicht ununterbrochen durch, man steht ja auch immer mal wieder auf, und dann will man was anderes machen. Und in der Stadt habe ich dann, glaube ich, ja, einfach nur getrödelt oder so, aber man weiß ja auch in der Stadt eigentlich nicht wohin, ja, dann geht man so ein bisschen Schaufenster gucken, aber wozu?"

Hilal Sezgin ist türkischstämmig. Ihre Zeitungstexte und viele ihrer Bücher beschäftigen sich mit dem Verhältnis der Deutschen zum Islam und mit der Zukunft der Einwanderungsgesellschaft. Auch in der Sarrazin-Diskussion hat sie mitgemischt: Großstadt-Themen, die in Frankfurt, München, Hamburg oder Berlin auf ihre Debattentauglichkeit abgeklopft werden. Auch Hilal Sezgin hat eine Zeitlang als Redakteurin mit regelmäßigem Bürodienst gearbeitet. Vor fünf Jahren fiel dann die Entscheidung, es als Freiberuflerin zu versuchen – und zwar auf dem Dorf. Damals hat die Journalistin erst einmal recherchiert. Denn Idylle ist in Deutschland längst nicht überall zu haben.

"Ich hab ja auch mir die Wahlergebnisse vorher angeguckt. Es gibt ja auch in Niedersachsen unheimliche Nazi-Käffer, da wäre ich aber nie hingezogen."

Sie hat das perfekte Haus gefunden: die ehemalige Stellmacherei eines Gutshofs, auf einem kleinen Dorf in der malerischen Umgebung von Lüneburg. Aus dem Fenster sieht man auf sanft geschwungene Äcker und Weiden, gleich hinter dem Haus beginnt der Wald. "Landleben. Von einer die rauszog", heißt Hilal Sezgins Buch über ihren Ausstieg.

"Ich lief das erste Jahr hier wie verliebt durch die Gegend, ich fand alles schön, ich war wie betrunken!"

Hier, im ehemaligen Zonenrandgebiet, wurde einst um die Zukunft der Gesellschaft gekämpft. Das Wendland – Gorleben! – ist nicht weit. Dort gab es vor dreißig Jahren heftige Proteste gegen ein Atommüll-Lager. Das Erbe dieser Zeit: Die Lüneburger Heide hat einen Öko- und Esoterik-Boom erlebt. Homöopathen, Yogalehrer und Bio-Bauern sind hier überproportional vertreten, die Träume der siebziger Jahre hängen bis heute in der Luft. Doch Hilal Sezgin nicht ist aufs Land gezogen, um die Welt zu verändern. Ihr Buch "Landleben" ist echte Bekenntnisliteratur: Hier findet jemand ganz klassisch zu sich selbst, zwischen Schreibtisch und Schafstall.

"Wie kommt es, dass ich um sieben Uhr morgens mit einem riesigen Hammer im morastigen Land stehe und versuche, einen Zaunpfahl einzuschlagen; das gab es in meinem Leben vorher logischerweise nicht."

MUSIK: Blur – "Country House"

"Was ist jetzt? Jetzt ist halt Klimawandel, Angst vor dem Islam, Angst vor Integration; das Erdöl geht zu Ende, Dioxin ist in den Eiern, das ist ja alles ganz furchtbar, und das ... logisch hat dann diese Flucht, dieses Landleben auch etwas Eskapistisches, also, das liegt ja auch auf der Hand, dass es so ein Gegenentwurf, also auch eine Rettung sein soll."

U-Bahnhof Kochstraße, am Checkpoint Charly, eine der lauteren Kreuzungen in Berlin. Hier sitzt – im Rudi-Dutschke-Haus – die Redaktion der taz.

"Wart mal, jetzt hab ich kurz einen Anruf. Eine Sekunde. Die Sonntaz, Martin Reichert."

Martin Reichert ist Redakteur der Wochenendbeilage. Seit einigen Jahren führt er ein Doppelleben. Die Woche verbringt er in Berlin, in seiner Wohnung im Bezirk Neukölln, und am Freitagabend fährt er raus nach Kremmen, einem kleinem Dorf nördlich von Berlin. Dort wohnt sein Freund – mittlerweile sein Ehemann – in einem alten Fachwerkhaus.

"Ich hatte natürlich auch den Vorteil, dass mein Mann Eingeborener ist. Also, der wusste dann auch, wie man sich da benimmt, wie man mit denen reden muss und so, und ne Zeitlang waren wir auch ne Attraktion; dann kamen die Leute, wenn Besuch da war, und die haben den Besuch durch‘s Dorf geführt, dann hieß es: Guck mal hier, und hier wohnen die Schwulen." (lacht)

"Landlust" heißt das Buch, mit dem Martin Reichert in diesem Frühjahr auf Lesereise geht. Der Titel ist Ironie. Brandenburg, das Ruppiner Land, das ist etwas anderes als die Lüneburger Heide: die Natur karg, die Menschen gewöhnungsbedürftig. Nach Idylle mit Tier sucht man bei Reichert vergeblich. Im Gegensatz zu Hilal Sezgin hat er für das Landleben erst einmal nur Spott übrig.

"Ich habe mir einfach gedacht, ja, Leute, da draußen sieht’s aber doch eigentlich ganz anders aus als ihr denkt. Und ich wusste auch aus eigener Erfahrung, dass ich – wenn dann der Besuch kam, aus der Stadt – das Landleben auch inszeniert habe, teilweise, ´ne weiße Tischdecke dann und Blumenstrauß auf den Tisch und so, also, dass die Erwartungen auch erfüllt werden."

Martin Reichert ist Ende dreißig. Wie viele aus seiner Generation ist er in den neunziger Jahren aus einer westdeutschen Kleinstadt in die neue Hauptstadt geflüchtet. Nach der Wende wurde Berlin als Metropole neu erfunden, mit Techno, Zwanziger-Jahre-Glamour und Hochhäusern am Potsdamer Platz. Damals wurde Urbanität zum Phantasma. Vielleicht traut Martin Reichert der neuen deutschen Idylle auch deshalb nicht über den Weg.

"Das Land aus der städtischen Perspektive ist eine Projektion, die wird genährt unter anderem natürlich von der Werbung, das sickert ja auch alles in unser Bewusstsein, teilweise auch über Filme oder übersteigerte Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit."

Martin Reichert amüsiert sich über die naiven Vorstellungen, die man sich in der Stadt vom vermeintlichen Paradies in der Provinz macht: Rustikale Küche und unberührte Natur, freundliche Schafe und glückliche Hühner...

"... und die Wirklichkeit, also, tut mir leid, die sieht wirklich anders aus; da sind die Mastanlagen, da wo die freilaufenden Hühner sind – die sind in so riesigen Monster-Knästen aus Beton –; man sieht die Hühner auch nicht, sondern man sieht auch nur die Mauern; die harmonischen Bauernhöfe, das sind halt industrielle Betriebe, und diese wunderschönen Weizenfelder, bei denen handelt es sich um ausgedehnte Monokulturen, einfach, wo einem beim Anblick schon klar wird, dass hier irgend etwas nicht stimmt."

Die A24, auf der der Verkehr mitten durch die Naturlandschaft dröhnt, die Neonazis auf den Dörfern: Martin Reichert zählt in seinem Buch genüsslich die Schattenseiten der Provinz auf – und sieht sich verwundert in Berlin um. Das wahre Landleben findet seiner Meinung nach zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr auf dem Dorf statt, sondern in der Stadt - zum Beispiel in Berlin:

"Das kann man ja auch im beliebten Prenzlauer Berg – also, da wird ja immer viel auch darüber gemeckert und geschrieben, aber es ist ja auch so ein Labor der neuen deutschen Bürgerlichkeit, finde ich – und die Leute bauen dann ja wirklich Kartoffeln neben der Biotonne an; und am augenscheinlichsten ist es natürlich beim Konsum von Lebensmitteln."

... sprich: in einem der Bio-Supermärkte, in denen Bamberger Hörnle angeboten werden, für fünf Euro das Kilo, und sortenreiner Birnensaft aus dem Havelland. – Martin Reichert ist ein professioneller Zyniker, und er steht nicht allein da. Auch der Musikjournalist Axel Brüggemann bemüht sich gerade, in seinem Buch "Landfrust" die Provinz zu entzaubern. Aber: Während die Redaktion der "Sonntaz" die Themen für die nächste Ausgabe plant, wird Reichert in letzter Minute doch noch weich. Auch er hat da draußen auf dem Land ein Stück Paradies gefunden.

MUSIK: Belle and Sebastian – "Piazza, New York Catcher"

"Wenn man dann im beginnenden Herbst alleine ist da draußen, weil die ganzen Besucher aus der Stadt halt wegbleiben, dann hat man das Land wieder für sich, dann kann man lange Spaziergänge machen und einfach die Kraniche beobachten, wie die sich formieren und versammeln und langsam auf der Abreise sind. Wir gehen meistens spazieren zur blauen Stunde; ja, und dann hat man so Brandenburg für sich."

""Es ist Kopfkino; wir träumen davon, wir sehnen uns danach, aber Sehnsüchte sind ja auch dann besonders interessant, wenn sie nicht immer in Erfüllung gehen; und ich glaube, wir haben so eine Sehnsucht nach Land, möchten aber, wenn es dann wirklich zum Zuziehen geht, tatsächlich überhaupt nicht dorthin."

Wer wissen will, wie unsere Welt in ein paar Jahren aussehen wird, muss Eike Wenzel fragen. Der promovierte Medienwissenschaftler hat im Zukunftsinstitut von Matthias Horx gearbeitet. Jetzt ist er gerade dabei, einen eigenen "think tank" aufzubauen: das "Institut für Trend- und Zukunftsforschung". Wenzel lebt in Heidelberg, in der Metropolregion Rhein-Neckar. Nach Ludwigshafen ist es nicht weit, und für das Gespräch ist er nach Mannheim in ein Studio gekommen.

"Diesen alten Gegensatz von Stadt und Land, den gibt es heute in dieser Form nicht mehr."

Das ist die neue Provinz: vernetzte Ballungsräume. Überall ist Stadt – nur 15 Prozent der Deutschen leben tatsächlich auf dem Land. Der Trend ist global:

"In Indien, glaube ich, gehen alle neun Minuten ... geht eine Familie aus dem Land in die Stadt; das sind Dimensionen, die können wir uns überhaupt nicht vorstellen. Wir werden erleben, dass wir bis 2050 zu 80 Prozent in urbanen Zentren leben werden."

Zurück nach Deutschland. In den letzten Jahren wurde mit Blick auf die neuen Bundesländer viel über den so genannten "brain drain" gesprochen: Junge, talentierte Menschen flüchten in Scharen aus den ländlichen Regionen. Teile von Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg verwandeln sich in Geisterlandschaften. Für Eike Wenzel ist das kein rein ostdeutsches Problem. Der Zukunftsforscher wirft einen Blick auf das gesellschaftliche Schlachtfeld von Morgen:

"Wir beobachten jetzt, dass auch in Westdeutschland immer mehr Leute aus ländlichen Gebieten tatsächlich in Städte gehen müssen, um sozusagen Qualifikationen zu erarbeiten, neue Jobs zu bekommen, interessante Jobs zu bekommen, das heißt also: Wir werden in der Zukunft vor allen Dingen den Kampf auch um neue Lebensqualitäten in den Städten führen – und wir werden dort aber auch über Bedürfnisse reden, Sehnsüchte reden, die wir früher vor allem uns beim Landleben geholt haben."

In Deutschland reichen diese Sehnsüchte zurück bis in das frühe 19. Jahrhundert, in die Zeit der Romantik – etwa zu Ludwig Tieck, einem der Wegbereiter der modernen Landlust: In seinem Märchen vom "Blonden Eckbert" verklärte er die "Waldeinsamkeit", er schwärmte von "mondbeglänzten Zaubernächten", dem "schwebenden Ton eines Waldhorns" – und einer reinen, "gütigen Natur", in der "die Ahndungen der Kindheit" wohnen.

"Provinz, Land ist nicht korrumpiert, ist einfach, ist offen, ist nicht verstellt, ist nicht neurotisch, dort kommt man zu sich, dort kommt man zu seinen Ursprüngen, und dort kommt man auch zu den Ursprüngen des Menschseins."

"Die Luft ging durch die Felder, / Die Ähren wogten sacht, / Es rauschten leis die Wälder, / So sternklar war die Nacht": Joseph von Eichendorff, die "Mondnacht", 1837. – Der Traum von einem anderen Leben in der Natur ist seitdem immer wieder geträumt worden: von romantischen Landschaftsmalern, vom Wandervogel – und nach dem Zweiten Weltkrieg von Landkommunarden und Althippies.

"Da sind unsere Gefühle, gerade bei uns Deutschen ... sehr stark konservativ."

Im 21. Jahrhundert ist der Traum produktfähig geworden: Fernsehsender und Zeitschriftenverlage entwickeln neue Formate rund um die Sehnsucht nach einem Leben jenseits der "suburbs"; bio-zertifizierte Waren haben es bis in die Regale der Discounter geschafft. Zielgruppe sind die neuen urbanen Mittelschichten, die einen grünen Lifestyle pflegen, ohne dafür selbst im Grünen wohnen zu müssen. Eike Wenzel spricht von "Sinnmärkten".

"All diese Bedürfnisse nach ,community‘, aber auch nach Einfachheit, nach Entschleunigung, all das werden wir in den Städten suchen, die sich jetzt mittlerweile auch in diese Richtung leicht zu verändern beginnen; aber das werden wir natürlich auch in Medienprodukten suchen und finden, und deswegen funktioniert unter anderem auch das Konzept ,Landlust‘ so gut."

Die Bücher, die sich in diesem Frühjahr dem Leben auf dem Land widmen, passen in dieses Konzept. Es sind zeitgemäße Heimatromane im Gewand populärer Sachbücher: Sie erzählen von der Arbeit im Stall und von großen Gefühle unter freiem Himmel – und füttern damit die Sehnsüchte der Leser und Leserinnen. Selbst der zynische Blick von Martin Reichert macht da nichts kaputt: Für das Leben da draußen, egal wie es wirklich aussieht, hat ohnehin niemand Zeit.

"Wir leben städtisch, wir leben modern, wir leben urban, wir leben teilweise ,always online‘, setzten uns sonntags nachmittags auf die Couch in unserer Innenstadtwohnung, schlagen Landlust oder wie die ganzen Nachahmer-Magazine jetzt heißen – es gibt wohl mittlerweile zehn oder fünfzehn, –, schlagen das auf, träumen vom Landleben, finden das ganz toll, wollen auch ganz gerne dahin, merken aber, dass wir zwischenzeitlich ´ne Verabredung haben, nehmen Landlust unter den Arm, gehen in die U-Bahn und fahren zum Theater."
MUSIK: Arcade Fire – "The Suburbs"

Der Kollwitzplatz: das Herz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Samstags ist hier Wochenmarkt, ein "Sinnmarkt", im wahrsten Sinne des Wortes. Verschlafene Familienväter kaufen Obst und Gemüse bei Brandenburger Bio-Bauern, über dem Arm einen stilechten Weidenkorb, ein Öko-Strom-Anbieter lässt Flyer verteilen. Um die Ecke wohnt Kerstin Höckel, Jahrgang ´72.

"Heimatroman finde ich eh ein cooles Wort. Das ist ein Heimatroman. Das ist ein Heimat-Suche-Roman."

Sie schreibt Bücher, die irgendwo zwischen Roman, Autobiographie und erzählendem Sachbuch angesiedelt sind – und von jenem Lebensgefühl berichten, das unter dem bösen Wort "Bionade-Biedermeier" mit Prenzlauer Berg gleichgesetzt wird: Es geht um unerfüllte Kinderwünsche, um spirituelle Sinnkrisen – und jetzt um die romantische Sehnsucht nach dem Landleben.

"Okay, ich probier’s mal: ,Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt.’"

Der Titel von Kerstin Höckels aktuellem Buch ist ziemlich lang, die Geschichte einfach. Ein Paar aus Berlin entdeckt auf dem Weg nach Italien im Schwarzwald einen alten Bauernhof, der zum Verkauf angeboten wird. Alpenblick inklusive. Sie kaufen den Hof, verbringen den Sommer dort, planen eine Hochzeit – doch dann kommen die Probleme. Die Beziehung schwächelt, der Hof, der zu einem Dorf namens Frommholz gehört, soll wieder verkauft werden. Aber so leicht gibt die Erzählerin nicht auf:

"Na, ja, und sie kämpft dann sowohl um die Beziehung mit ihrem Kerl als auch um dieses Haus. Also, sie liebt beide. Man kann gar nicht sagen, wen sie mehr mag," (lacht) "das Haus oder den Typen."

Klingt wie ausgedacht, ist es aber nicht: Kerstin Höckel erzählt eine Geschichte, die sie mehr oder weniger genau so erlebt hat.

"Das ist uns auch so gegangen. Also, wir sind nicht komplett aufs Land gezogen, aber wir haben uns diesen Bauernhof ... also, das ist auch unser Bauernhof, der da beschrieben wird; das ist exakt unser Frommholz."

Seit neun Jahren lebt Kerstin Höckel mit Mann und Kind mal in Berlin, mal im Schwarzwald. Genau wie Hilal Sezgin kann sie stundenlang vom einfachen Leben auf dem Land schwärmen.

"Da gibt’s auch keine Zäune. Also, man weiß gar nicht, endet hier ein Grund, Garten würde man das auch gar nicht nennen. Das ist alles so Grund. Unser Grund. Und da läuft man einfach drüber, Richtung Wald, Richtung Weide. Richtung Alpenblick."

Doch Kerstin Höckel geht es um mehr als um einen freien Blick. Der alte Hof im Schwarzwald ist ein Ort mit Geschichten – und mit Geschichte. Als sie und ihr heutiger Mann den Hof kauften, war der Vorbesitzer bereits zwei Jahre zuvor verstorben.

"Alles war noch wie so gerade stehen gelassen. Das ist ein riesiger Raum im ersten Stock, wo Sattel und Winden und Werkzeug für den Traktor und alte Reifen und Speichenräder und Ketten und Pflöcke für die Weiden und alles Mögliche an Werkzeug und alle Größen von Schrauben und Nägeln und Hammer und Zangen ... Ja, das habe ich alles sorgfältig archiviert, als wir den Raum dann doch zu meinem Arbeitszimmer umgestaltet haben."

Kerstin Höckel stammt ursprünglich aus einem kleinen Dorf im Saarland. In Berlin lebt heute in einem hübschen Neubau, passgenau eingesetzt zwischen zwei Gründerzeit-Häusern. Die Wände in ihrer Wohnküche sind kahl, die Möbel funktional, mit glänzenden Oberflächen aus Stahl oder Glas. In Frommholz, erzählt sie, sieht es ganz anders aus.

"Die alten Holzkassetten in der Bauernstube, in der Küche, die haben wir einfach nur in den Originalfarben noch mal gestrichen, all diese uralten Sachen, dieses Holzlager im Schweinestall mit den Pflöcken ... Das mag ich, das ist alles so langlebig dort."

Die Freiberuflerin aus Prenzlauer Berg hat im Schwarzwald eine Gegenwelt gefunden: Gut abgelagertes Holz statt brüchigen prekären Verhältnissen, richtige Nachbarn statt flüchtigen Treppenhausbekanntschaften:

"Also, ich glaube, das hatte auch damals bei mir schon mit so’m, mit so’ner Sehnsucht nach Familie, nach Gemeinschaft wieder zu tun. Also, ich glaube, ich habe mir schon vorgestellt, dass wir da irgendwann dazugehören."

Und während ihre Nachbarn draußen auf dem Kollwitzmarkt handwarme Bauernbrote kaufen, direkt aus dem Holzofen, weht plötzlich ein Hauch von Heidegger durch den Bezirk Prenzlauer Berg: Der Freiburger Philosoph, der selbst eine Hütte im Schwarzwald besaß, hatte 1933 einen romantisch inspirierten Aufsatz über die "Schöpferische Landschaft" geschrieben. Dem "Alleinsein" in der anonymen Stadt stellte er die hehre Gemeinschaft der Einsamen auf dem Land gegenüber. Untertitel: "Warum bleiben wir in der Provinz?""Wahrscheinlich ist das wirklich diese Tatsache, dass man den selben Boden zu beackern hat, und wirklich mit dem selben Wetter konfrontiert ist, du bist ja in der Stadt nicht so richtig mit Wetter konfrontiert ... (lacht), jedenfalls ist es nicht so existenziell wie auf dem Land, wenn da das Heu verregnet wird, da kann man’s wegwerfen und so ...""

MUSIK: The Decemberists – "June Hymn"

"Das Komische war, eigentlich war es ja eine beliebige Gegend, und ich hätte ja überall hinziehen können, aber irgendwann war es dann doch Zuhause geworden, und dann entwickelt man Bindungen – und dann verändert sich das Verhältnis."

Noch einmal zurück in die Lüneburger Heide. Nachbar Peter hat aufgehört zu sägen, Hilal Sezgins Haus am Waldrand ist in das milde Licht des späten Nachmittags getaucht. Eigentlich eine gute Zeit um zu arbeiten. Doch die Schriftstellerin sitzt nicht am Schreibtisch – sie füttert die Hühner.

"Ja, ich hatte das nicht so geplant, ich hatte den ganzen Teil mit den Tieren nicht so geplant. Ich dachte, da sind Tiere bei anderen, mir war nicht klar, dass ich selber welche haben wollte und schon gar nicht meine eigenen. Ich meine, ich habe jetzt über sechzig Tiere!"

Landmühen statt Landlust: In Frankfurt, schreibt Hilal Sezgin in ihrem Buch, habe sie relativ selbstbestimmt gelebt, mit voller Kontrolle über ihren Alltag. Jetzt, auf dem Land, bestehe ihr Leben nur aus Verpflichtungen.

"Ich habe hier einfach sehr viel Verantwortung. Und das heißt, dass ich mir sehr viele Sachen nicht aussuchen kann, wenn ich abends dem einen Schaf noch ne Augensalbe um zehn Uhr abends geben muss, dann muss ich halt noch mal raus, ja."

"Wechselnd in Müh und Ruh’ / ist alles freudig", so beschrieb Hölderlin 1799 in seiner "Abendphantasie" den Alltag fernab der "rauschenden" Städte. – Genau das gefällt Hilal Sezgin heute an ihrem neuen, anstrengenden Leben. Wie Kerstin Höckel sucht sie auf dem Land nach ein bisschen Ballast, als Gegengewicht zur Last der Freiheit. In ihrem Buch "Landleben" taucht sogar das etwas altmodische Wort "Pflicht" auf:

"Es fällt mir sonderbarerweise viel leichter als irgendwie 'ne Rechnung zu schreiben oder so, weil: die kann ich verschieben, und da geht’s nur um mich; aber ich weiß, das Schaf braucht jetzt diese Augensalbe, und darum gehe ich dann auch irgendwie raus. Ich finde so eine Verantwortung, so lange sie einen nicht erdrückt, hilft einem irgendwie auch, man wird gefordert und ist dadurch gezwungen, sich zu entwickeln."

Harte Arbeit: Das ist es, wovon die neuen Sachbücher mit ihren Selbstversuchen auf dem Land erzählen. Im Mittelpunkt steht dabei allerdings nicht die Schufterei im Stall – und auch nicht das vergebliche Bemühen um‘s Restidyll, von dem Martin Reichert erzählt. Es geht um das unermüdliche Werkeln am eigenen Lebensentwurf, darum, alles auf einmal hinzubekommen: Stadt und Land, einen super Job und die Familie, Selbstverwirklichung und Verantwortung, Karriere und Gemeinschaft. Man muss nicht auf‘s Dorf ziehen, um das zu verstehen, aber hier begreift man am besten, dass die Zukunft anstrengend werden wird.

"Mir war klar, das ist ´ne Entscheidung für sehr viele Jahre. Und komischerweise habe ich trotzdem keine Angst davor gehabt."

MUSIK: The Decemberists – "Down by the Water"

"Man muss sich ein bisschen anstrengen, um es schön zu finden, weil ..."

""Es gibt so einen amerikanischen Begriff, der heißt ,places matter‘ ... und in der Zukunft mehr denn je: Also, Orte, die Identität an bestimmten Orten, die Unvergleichlichkeit von bestimmten Orten, das wird ein ganz, ganz starkes Thema sein; aber: Das wird nicht mehr, wie wir das hier in Deutschland sofort noch übersetzen würden mit Landleben in eins gesetzt: ,places matter´, aber tatsächlich nicht mehr in der Provinz."

"Und am Sonntag fahren wir wieder los!"