"Alleine 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer in Deutschland"

Raul Krauthausen im Gespräch mit Frank Meyer · 20.10.2011
Mit wheelmap.org hat der Kommunikationswirt Raul Krauthausen eine Plattform ins Leben gerufen, mit der man rollstuhlgerechte Orte finden kann. Die musste als Anwendung natürlich auch aufs Smartphone, erklärt er. Mittlerweile seien Informationen zur Barrierefreiheit von 140.000 Orten weltweit gesammelt geworden.
Frank Meyer: Man will zu einem Bäcker gehen oder zum Arzt oder mit der U-Bahn fahren, ganz normale Dinge eben, aber es geht nicht, nur weil man im Rollstuhl sitzt. Das passiert Rollstuhlfahrern immer wieder, und um sie wenigstens über die zugänglichen Orte zu informieren, gibt es jetzt wheelmap.org, eine digitale Karte für rollstuhlgerechte Orte. Wie steht es um die Barrierefreiheit in Deutschland? Das besprechen wir gleich mit dem Erfinder dieser Karte.

Wenn man die digitale Karte Wheelmap aufruft, zum Beispiel für Berlin-Mitte, dann sieht man grüne Fähnchen, die stehen für rollstuhlgerechte Orte, man sieht aber auch jede Menge rote Fähnchen, die zeigen Läden oder Cafés oder Bahnhöfe an, in die man mit einem Rollstuhl nicht hineinkommt. Man sieht da also schon auf den ersten Blick, wie sehr unsere Städte noch voller Barrieren für Rollstuhlfahrer sind oder eben für andere Leute, die Schwierigkeiten mit dem Treppensteigen haben.

Diese Wheelmap-Karte hat Raul Krauthausen erfunden. Er ist Kommunikationswirt, Vorsitzender des Vereins Sozialhelden, selbst Rollstuhlfahrer und jetzt hier im Studio. Seien Sie uns willkommen!

Raul Krauthausen: Hallo!

Meyer: Jede gute Idee braucht ja einen Anfang – was war für Sie der Anfang, der Auslöser dafür, diese Wheelmap-Karte zu machen?

Krauthausen: Obwohl ich ja schon mein Leben lang im Rollstuhl sitze, war der Auslöser wirklich erst vor zwei Jahren, als ein Freund von mir es leid war, sich mit mir immer im gleichen Café zu treffen, und meinte dann, lass uns doch woanders hingehen. Und wir wussten aber beide nicht, wohin wir in seinem Bezirk in Kreuzberg gehen konnten, ohne das wir das hätten vorher rausfinden müssen. Und während wir diesen Gedanken hatten, meinte er auch: Aber du bist ja auch nicht der einzige Rollstuhlfahrer in Deutschland oder auf der Welt, es kann ja nicht sein, dass wir das nicht rausfinden, und andere haben ja das gleiche Problem.

Und dann haben wir ein bisschen recherchiert und schon auch Datenbanken zu dem Thema gefunden, die aber oft nicht besonders aktuell waren beziehungsweise wo man eben darauf warten musste, dass irgendjemand das für einen einträgt. Und wir haben dann gesagt, wir wäre es denn, wenn wir eine Plattform bauen, in die man so ähnlich wie bei Wikipedia Orte eintragen kann, und zwar als Betroffener selbst oder als Mensch, der sich mit dem Thema irgendwie assoziiert fühlt, und haben dann einfach mal angefangen, das Ding zu bauen und stellten plötzlich fest, das gibt es noch nicht, und haben dem Ding dann den Namen Wheelmap gegeben.

Und so ist es jetzt fast so - also wir sind jetzt seit einem Jahr online und wir haben über 140.000 Orte gesammelt, weltweit, und das ist für uns eine totale Überraschung.

Meyer: Das heißt, da machen auch viele Leute mit und geben von sich aus da Orte ein und Informationen zu den Orten?

Krauthausen: Genau, also auf der ganzen Welt – wir sind in mehreren Sprachen online und haben natürlich immer aus der Sicht der Rollstuhlfahrer versucht, das zu betrachten, und haben uns gefragt, was bewegt sie eigentlich oder was ist eigentlich die, was sind die Geräte, die sie dabei haben. Und uns war dann relativ schnell klar, dass es auch aufs Mobiltelefon muss, und haben dann Anwendungen für Smartphones entwickelt, mit denen man jetzt sogar vor Ort suchen beziehungsweise Orte markieren kann.

Meyer: Als Nicht-Rollstuhlfahrer muss ich sagen, habe ich ja den Eindruck, es werden immer wieder neue Fahrstühle gebaut, an U-Bahnhöfen meinetwegen, oder ich sehe Rampen vor Geschäften und so weiter, also ich hab so den subjektiven Eindruck, es tut sich eigentlich ziemlich viel in Deutschland. Wenn ich aber Ihre Karte aufrufe, sehe ich lauter rote Fähnchen, die eben zeigen, da ist noch nichts getan worden, um Barrierefreiheit herzustellen. Wie sieht es denn aus Ihrer Sicht aus mit der Zugänglichkeit unserer Welt für Rollstuhlfahrer?

Krauthausen: Also es wird schon besser, das gebe ich auch offen zu, es ist nur so, dass wenn es keine Gesetze gibt, natürlich auch nichts gemacht wird. Das heißt, die öffentlichen Personennahverkehrsbetriebe, die sind gezwungen, bis Mitte 2020, glaube ich, komplett barrierefrei zu sein, aber bei dem Bäcker um die Ecke, der vielleicht in einem Altbau ist, ist es natürlich schwierig, das gesetzlich durchzudrücken. Da gehören Bauordnung dazu, Brandschutzbestimmungen, Denkmalschutz und so weiter und so fort, und das geht eben nur bei neuen Gebäuden, dass man das gesetzlich erzwingen kann. Uns ging es vor allem um diese öffentlichen Orte.

Meyer: Und wie ist es dann mit der Freiwilligkeit, da wo gesetzlicher Zwang nicht greift, eben beim Bäcker um die Ecke, bei der Kneipe und so weiter, wie ist die freiwillige Bereitschaft von Leuten, dafür auch was zu investieren? Kostet natürlich auch immer Geld.

Krauthausen: Klar, so was kostet Geld, es ist aufwendig. Ich würde sagen, ein Cafébesitzer oder ein Cafébetreiber hat auch in seinem Alltag tausend andere Probleme. Das heißt, er wird jetzt nicht von sich selbst auf die Idee kommen, ich installiere da eine Rampe, wenn er nicht selbst persönlich davon irgendwie betroffen oder jemanden im Verwandtenkreis hat. Das heißt, es ist schwierig, da jetzt auch den Bösen ausfindig zu machen.

Wir wollen mit der Wheelmap eher zeigen, da sind die Probleme, und im nächsten Schritt überlegen wir, wie wir jetzt Cafébetreiber davon überzeugen, es zu tun, ohne sie gleich zu brandmarken.

Meyer: So eine kleine Brandmarkung haben Sie ja jetzt mit dieser roten Fahne natürlich in Ihrer Karte. Erzeugt das auch so einen sanften Druck für eben zum Beispiel Caféinhaber, doch was zu tun, weil so ein rotes Fähnchen ist ja nun keine Werbung?

Krauthausen: Es ist keine Werbung, das gebe ich zu, es ist aber eine Bewertung, die Kunden vorgenommen haben. Und letztendlich gibt es ja auch Restaurant- oder Cafébewertungsportale bereits im Internet, die dann auch nicht immer eine Werbung sein können. Letztendlich, was uns eigentlich viel mehr schockiert, sind öffentliche Gebäude, die vielleicht dann staatlich auch sind.

Klassisches Beispiel: Der Berliner Fernsehturm ist jetzt zwar nicht mehr staatlich, aber gehört der Deutschen Telekom, ist nicht rollstuhlgerecht, obwohl er einen Aufzug hat, aber eben aufgrund von Brandschutzbestimmungen dürfen Rollstuhlfahrer da nicht rein, weil es könnte da drin ja brennen, man könnte sie nicht rechtzeitig evakuieren. Und da bin ich persönlich als Rollstuhlfahrer der Ansicht, greifen bestimmte Gesetze zu streng, sodass einfach Menschen, obwohl es technisch möglich wäre, da erst gar nicht reingelassen werden. Und das ist verrückt.

Meyer: Und was würden Sie insgesamt sagen über die Gesetzeslage und so weiter hinaus, wie ist die Aufmerksamkeit heute in unserer Gesellschaft für Probleme von Menschen, die Rollstuhlfahrer sind, die Bereitschaft, vielleicht auch spontan zu helfen? Hat sich da etwas verändert?

Krauthausen: Ich beobachte aus meinem subjektiven Gefühl heraus, dass Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft akzeptierter sind, als man es gemeinhin glauben würde. Es hat oft so was … Also das Problem in Deutschland ist, dass Menschen mit Behinderung relativ früh wegsortiert werden. Das heißt, sie gehen auf Förderschulen, auf Sonderschulen, sie besuchen besondere Einrichtungen, landen schlimmstenfalls am Ende in Werkstätten und haben kaum Berührung mit dem normalen Alltag.

Das wissen aber die Nichtbehinderten gar nicht und fragen sich, warum gibt es denn eigentlich so wenige. Und de facto ist es aber so, dass jeder Zehnte in Deutschland eine Behinderung hat. Wir haben alleine 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer in Deutschland, sodass es auch schon eine relevante Größe ist. Und wenn ich mit nicht Behinderten spreche, dann sind die oft überrascht über diese Zahlen und sind auch überrascht, warum sie eigentlich keinen behinderten Kollegen haben oder warum in der Uni es keinen Rollstuhlfahrer oder keinen Menschen mit Sehbehinderung gab. Und all diese Aufklärungsarbeit, die müssen wir, glaube ich, noch tun.

Insofern glaube ich, ist die Bereitschaft hoch, politisch weniger – je konservativer eine Regierung, desto weniger tut sich auch in Behindertenbewegung oder Behindertenrechtsfragen, aber – und das ist das Entscheidende – Europa steht vor einem gravierenden demografischen Wandel. Das bedeutet, in den nächsten 20 Jahren wird es eine riesige, ich sag jetzt mal provokant Schwemme an älteren Menschen auf die Gesellschaft zukommen …

Meyer: Die dann auch auf den Rollstuhl …

Krauthausen: … die dann auch Hilfen brauchen. Also wir reden von Rollatoren, Gehstöcken und Rollstühlen bis hin zur Sehbehinderung, wo dann einfach die Gesellschaft gezwungen ist, sich diesen Fragen zu stellen. Denn in der aktuellen Behindertenrechtsbewegung sagt man auch, es geht nicht darum zu unterscheiden zwischen behindert und nicht behindert, sondern eben darum zwischen behindert und zeitweise nicht behindert, weil wir alle sind behindert, wenn wir Kinder sind, wir können Dinge nicht, wir kommen an Dinge nicht ran, beziehungsweise eben wenn wir älter werden, dann können wir auch bestimmte Dinge nicht mehr. Und das heißt, wir leben in einem kurzen Zeitfenster der Nichtbehinderung.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, Raul Krauthausen ist bei uns, der Erfinder der Wheelmap-Karte, die barrierefreie Orte anzeigt. Ich würde gern noch mal an diesen Punkt zurück, den Sie gerade angesprochen haben, dass Sie sagen, behinderte Menschen werden so früh aussortiert – das heißt, das fängt im Prinzip mit der Schule an, und da würden Sie für dieses Inklusionsmodell, das ja im Moment in der Diskussion ist beziehungsweise schon breiter angewendet wird, sich dafür stark machen?

Krauthausen: Definitiv. Auch in der aktuellen Behindertenrechtsbewegung gibt es Sätze, die sagen, auch nicht Behinderte haben ein Recht darauf, mit Behinderten zusammenzuleben, also das Ganze einfach mal auch umzukehren und umzudrehen, weil Menschen mit Behinderung eine Bereicherung für eine Gesellschaft darstellen und es einfach jeden auch treffen kann. Es ist nicht so, dass man das Problem irgendwann mal nicht mehr hat.

Insofern ist es wichtig, dass eine Gesellschaft auch sich daran messen lassen sollte, wie sie mit Randgruppen oder mit Menschen mit Beeinträchtigungen umgeht, und ich fordere einfach, dass man … ich fordere nicht, dass man Werkstätten komplett abschafft, ich fordere nicht, dass man Förderschulen komplett abschafft. Weil es gibt sicherlich individuelle Situationen, wo eine Inklusion von Menschen mit Behinderung in einer Regelschule schwierig ist, sowohl für die Person als auch für die Schule, da möchte ich das auch gar nicht als Rollstuhlfahrer, der geistig einigermaßen fit ist, beurteilen können.

Aber es ist halt auch oft so, dass Menschen in diesen Sondereinrichtungen landen, obwohl sie, wenn sie die richtige Förderung bekommen hätten, auch ganz normal ihr Studium abschließen könnten. Und ich selber hatte einfach das Glück, dass ich auf einer Integrationsschule gelandet bin und so mein Abitur und mein Studium machen konnte, aber wer weiß, was wäre, wenn ich in einem kleinen Dorf aufgewachsen wäre, wo ich dann wäre.

Meyer: Raul Krauthausen, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Krauthausen: Sehr gerne!

Meyer: Aus Anlass von wheelmap.org, die Karte gibt es jetzt ein Jahr, Sie finden sie im Netz und können sich dort über barrierefreie Orte und Orte eben mit Barrieren bei uns und anderswo informieren.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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