Alle Jahre wieder

Von Michael Stegemann · 25.12.2009
Keine Weihnachten ohne Johann Sebastian Bach und sein Weihnachtsoratorium: Seit der Leipziger Uraufführung des Werkes, die heute vor 275 Jahren mit der ersten der sechs Kantaten begann, gehört das Werk zu den unverzicht- und unvermeidbaren Festmusiken - obgleich doch seine Musik anfangs alles andere als "weihnachtlich" war.
Alle Jahre wieder ...

Johann Sebastian Bach : Weihnachtsoratorium BWV 248
I. Teil, Nr.1 : "Jauchzet, frohlocket" [Anfang]
Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe
2 CD Virgin 7 90781 2 (LC 07873)


Weihnachten "ohne" geht nicht und gibt's nicht. Die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach - Insider sprechen gern von "W.O. 1 bis 6" - gehören dazu wie das Lametta zum Christbaum. "Jauchzet", ihr Musiker, "frohlocket", ihr Sänger, "auf, preiset die Tage", in denen ihr so gut verdient wie sonst höchstens noch in der Passionszeit, wenn abwechselnd die Matthäus- und die Johannespassion auf den Programmen stehen: Von der kleinen Stadt- oder Pfarrkirche bis zur großen Philharmonie - überall wird ge-"rühmet, was heute der Höchste getan."

Dabei will es zu dem ewigen Ruhm des Werkes und seines Komponisten eigentlich schlecht passen, dass große Teile des Weihnachtsoratoriums ursprünglich ganz woanders ihren Platz hatten: in weltlichen Geburtstags-Kantaten nämlich, die Bach für den sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian und für die Königin Maria Josepha von Polen verfasst hatte.

Johann Sebastian Bach : Weihnachtsoratorium BWV 248
4. Teil, Nr.39 : "Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen" [Ausschnitt]
Barbara Schlick, Sopran; Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe
2 CD Virgin 7 90781 2 (LC 07873)


Die Aria "Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen" aus der vierten Kantate "Am Feste der Beschneidung Christi" zum Beispiel war ein Jahr zuvor noch eine Arie des Herkules aus der Kantate Hercules am Scheidewege gewesen: "Treues Echo dieser Orten".

Johann Sebastian Bach : "Lasst uns sorgen, lasst uns wachen" BWV 213
Nr.5 : "Treues Echo dieser Orten" [Anfang]
Andreas Scholl, Countertenor; Akademie für Alte Musik, René Jacobs
2 CD Harmonia Mundi HMC 901544.45 (LC 07045)


Tatsächlich sind 19 der 64 Nummern des Weihnachtsoratoriums - knapp ein Drittel - neu textierte, transponierte und mehr oder weniger umgearbeitete "Parodien" älterer und zumeist profaner Chöre und Arien. Das wird auch das Leipziger Publikum der Uraufführung gemerkt haben, die am 25. Dezember 1734 mit der ersten Kantate begann und am 6. Januar 1735 mit der sechsten Kantate zu Epiphanias endete. Dabei stand doch in Bachs Dienstvertrag ausdrücklich, seine Musik solle so beschaffen sein,

"daß sie nicht opernhafftig herauskomme, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere."

Auch wenn solche "Parodie"-Verfahren im Barock durchaus üblich waren - sei es aus Zeitnot, aus Unlust oder aus pragmatischer Bequemlichkeit -, dürften Stadtrat und Kantorat sie mit einer gewissen Irritation zur Kenntnis genommen haben. Nun ja, dieser Herr Bach, der im Mai 1723 sein Amt als Leipziger Thomaskantor angetreten hatte, war ja ohnehin nicht ihre erste Wahl gewesen und erst ernannt worden, nachdem drei favorisierte Kandidaten - Georg Philipp Telemann, Johann Friedrich Fasch und Christoph Graupner - kurzfristig abgesprungen waren; manch einer hielt Bachs Berufung

" "aus erheblichen Ursachen vor bedencklich, da man nun die besten nicht bekommen könne, müße man mittlere nehmen". "

Egal: Heute ist dieser Mittlere der Größte von allen, und das Jauchzen und Frohlocken des Weihnachtsoratoriums füllt nicht nur in Leipzig alle Jahre wieder die Kirchen und Konzertsäle. Dass die Hirten früher einmal Musen waren und Christus Herkules, taugt nur als Forschungsthema für Musikwissenschaftler.

Johann Sebastian Bach : Weihnachtsoratorium BWV 248
1. Teil, Nr.9 : "Ach mein herzliebes Jesulein" [Ende]
Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe
2 CD Virgin 7 90781 2 (LC 07873)