Alfred Grosser

Auf andere zu zeigen, hilft uns nicht

Der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser
Vernunft und Ethik: Alfred Grosser © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Moderation: Liane von Billerbeck · 13.02.2017
Trump, Türkei, Syrien, Europa und die Flüchtlinge: Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Der Publizist Alfred Grosser bleibt trotzdem Optimist – und rät dazu, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen.
"Le Mensch: Die Ethik der Identitäten" heißt Alfred Grossers neues Buch. Er wehrt sich darin unter anderem vehement gegen ein Grundübel, das das Zusammenleben der Menschen weltweit vergiftet: den Finger, der auf andere zeigt. DIE Muslime, DIE Frauen, DIE Juden, DIE Deutschen, DIE Flüchtlinge: Grosser schreibt nicht nur darüber, sondern ist, wie er berichtet, auch regelmäßig zu Besuch an Schulen, um den Nachwuchs davon zu überzeugen, nicht "DIE" zu sagen.
Er sei Franzose durch und durch, sagt der Politologe und Schriftsteller über sich selbst. Geboren wurde er aber vor inzwischen 92 Jahren in Frankfurt am Main. 1933 emigrierte die deutsch-jüdische Familie nach Frankreich, ein paar Jahre später wurde Alfred Grosser französischer Staatsbürger.

"Ich werde nie ein demagogischer Redner sein"

Grosser setzt auf Aufklärung und Vernunft. Schon als 21-Jähriger schrieb er in sein Tagebuch: "Ich werde nie ein demagogischer Redner sein, ich werde mich nie an die Instinkte der Zuhörerschaft wenden. Nur an ihre Vernunft und an ihren Sinn für Ethik." Grosser bezeichnet dieses Sätze noch immer als den "Kern seiner Identität".
Im Deutschlandradio Kultur äußerte er sich jetzt auch zum Rechtspopulismus. "Wenn Sie finden, dass die deutsche Lage schlecht ist, dann sehen Sie mal nach Frankreich", sagte er. Angst davor, dass Marine Le Pen Präsidentin werden könnte, hat er dennoch nicht. Dass sie gewählt werde, sei ausgeschlossen: "In der zweiten Runde wird sie geschlagen." Die Ängste im Ausland seien übertrieben. Mit Wohlgefallen blickt Grosser hingegen nach Deutschland. Bundeskanzlerin Merkel sei so "erfolgreich wie nur möglich" und werde international mehr anerkannt als in Deutschland selbst, stellt er fest. (ahe)


Das Gespräch im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Er sei Franzose durch und durch, sagt der Politologe und Schriftsteller Alfred Grosser über sich. Geboren wurde er aber vor 92 Jahren, am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main. 1933 musste seine deutsch-jüdische Familie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fliehen. Sie emigrierte nach Frankreich, und dort wurde Alfred Grosser 1937 französischer Staatsbürger. Und er ist bis heute einer, der die deutsch-französische Verständigung zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Guten Tag, Alfred Grosser!
Alfred Grosser: Guten Tag!
von Billerbeck: In Ihrem neuen Buch mit dem Titel "Le Mensch", das jetzt erscheint, beschäftigen Sie sich mit der Frage: Wie Mensch bleiben inmitten der Verzweiflung am Weltgeschehen? Wie lässt sich dieses Gefühl von Hilflosigkeit und auch von Überforderung, das viele Menschen ja derzeit empfinden, was lässt sich dem entgegensetzen?
Grosser: Dass es doch viele Menschen gibt, die im Allgemeinen nicht in die Nachrichten kommen, weder im Rundfunk, noch in den Zeitungen, weil das Positive uninteressant ist. Es gibt Hunderttausende Menschen, die sich engagieren, zum Beispiel die sich in Deutschland für die Flüchtlinge, Vertriebene engagieren. Und denen muss geholfen werden.
Man sieht zwei Frauen und einige Flüchtlingskinder. Alle sehen fröhlich aus.
Hilfe für Flüchtlinge: Wenige dieser "stillen Helden" kommen in die Zeitung. Aber es gibt sie© picture-alliance / dpa / Michael Hudelist
Und ich bin außerdem ein glücklicher Mensch immer gewesen, trotz vieler Dinge, die schlecht gegangen sind. Und ich will hoffen, dass viele Menschen noch richtig Mensch werden und nicht nur verzweifeln an Trump oder an anderen Sachen.
von Billerbeck: Sie sagen ja, man braucht gar keine identifizierenden Zuschreibungen, das sagen Sie in Ihrem Buch, sondern …
Grosser: Ja, man braucht keinen Finger. Ein französischer großer Philosoph, der übrigens als jüdischer Litauer geboren wurde, Emmanuel Levinas hat gesagt, die Identität sollte nicht von dem Finger auferlegt werden, der auf einen zeigt. Aber das "die" ist ununterbrochen da. Die Flüchtlinge, die Vertriebenen, die Bayern, die Juden, die Araber und so weiter. Jedem "die" muss geantwortet werden: Die einen sind so, die anderen sind anders.
von Billerbeck: Das heißt ja auch, man verweist auf "wir hier" und "die da".
Grosser: Ja, "wir hier" und "die da", das ist ständig der Fall. Das ist auch sozial die Frage. Es gibt in Deutschland wie bei uns viele Arme, die oft vernachlässigt werden. Und wenn ich sehe, was zum Beispiel dieser oder jener Bankier bekommt, dann ist das also jenseits jeder Moral, aber er empfindet das nicht so. Aber ich zeige mit meinem Finger auf die Bankiers, die so viel verdienen – nein, nicht verdienen – die es bekommen. Verdienen nicht.
von Billerbeck: Das ist ein feiner Unterschied. Aber wie schafft man das, in so einer Situation menschlich zu bleiben, indem man keine Zuschreibungen macht, nicht mit dem Finger auf andere zeigt?

Junge Menschen sind interessiert an Grundsatzfragen

Grosser: Ich versuche es jedenfalls, und versuche das. Ich bin sehr oft in Gymnasien und auf Realschulen in Deutschland und in Frankreich. Übrigens sind die Schüler im Gegensatz zu dem, was immer gesagt wird, sehr interessiert an Grundsatzfragen. Und denen versuche ich beizubringen, nicht "die" zu sagen.
von Billerbeck: Sie betonen das auch in Ihrem Buch, dass ja jeder Mensch – eigentlich wissen wir das ja auch alle von uns selbst –, dass jeder Mensch viele Identitäten hat. Warum ist das gerade jetzt wichtig, in den aktuellen politischen Diskussionen.
Grosser: Bei Ihnen ist es noch nicht so schlimm wie bei uns. Wenn Sie finden, dass die deutsche Lage schlecht ist, sehen Sie mal nach Frankreich, da ist es noch schlechter.
Man versucht, sich zu helfen, indem man sagt, die anderen sind böse, wir sind benachteiligt. Jeder ist benachteiligt, aber die ganz Benachteiligten bei uns, das sind zum Beispiel die Vertriebenen, die nicht aufgenommen werden, die an der Grenze bleiben müssen. Auf die wird noch dazu auch mit dem Finger gezeigt.
von Billerbeck: Sie haben auf Frankreich verwiesen. Da denken wir ja mit großer Sorge an die bevorstehende Wahl und die Möglichkeit einer französischen Präsidentin Marine Le Pen.

Die Ängste im Ausland vor einem Le Pen-Sieg sind übertrieben

Grosser: Nein, das scheint mir persönlich total ausgeschlossen zu sein. In der zweiten Runde wird sie geschlagen. Meine Hoffnung ist, sie wird von Marcon geschlagen, weil ich sehr ein Anhänger von Marcon bin. Und ich glaube nicht, dass sie so was schafft. Und die Ängste im Ausland sind da sehr übertrieben.
Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen hält eine Rede zum Auftakt des Wahlkampfes des Front National für die Präsidentschaftswahl.
Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen: Sie scheitert laut Grosser spätestens im zweiten Wahlgang© picture alliance / dpa / Frédéric Dugit
von Billerbeck: Trotzdem haben wir ja nicht bloß in Frankreich Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, wir sehen es eigentlich überall. Und es gibt immer wieder die Diskussion und die Frage, wie stabil ist unsere Demokratie. Nun kann man gerade in die USA gucken, da weht ja Präsident Trump durchaus von den demokratischen Institutionen Gegenwind entgegen. Aber wie sehen Sie das? Als wie stabil empfinden Sie die Demokratie?
Grosser: Erst mal müssen gewisse Dinge getan werden, zum Beispiel in Straßburg und Brüssel, im Parlament sitzt die CDU noch zusammen mit der Fides, der ungarischen undemokratischen Partei. Das sollte aufhören. Das wäre ein Zeichen, dass man nicht mitmacht mit Orbáns Politik und Orbáns Diktatur. Das wäre schon ein schönes Zeichen.
Und Trump gegenüber kann man nur hoffen, dass er so viel Illegales macht, dass es eines Tages zum Impeachment kommt. Aber leider braucht man dazu auch eine Reihe von Stimmen von Senatoren der Rechten. Mit dem muss man leben.
Sie bekommen einen guten Präsidenten, Sie hatten einen guten Präsidenten, und Sie haben eine gute Kanzlerin in meinen Augen, und darüber hinaus ist alles nicht schlecht. Also, Sie können an sich nicht klagen im Vergleich mit anderen.
von Billerbeck: Manche sehen ja Deutschland im Moment in einer speziellen, besonderen Verantwortung für den Zusammenhalt der Europäischen Union, gerade auch, weil es Deutschland wirtschaftlich so gut geht. Wie sehen Sie das?

Ich möchte nicht an der Stelle von Frau Merkel sein

Grosser: Ich möchte nicht an der Stelle von Frau Merkel sein. Wenn sie etwas tut, ist es deutsche Arroganz, wenn sie nichts tut, ist es deutsche Vernachlässigung. Wie kann man dazwischen manövrieren, dass man zugleich stark ist?
Ich bewundere, wie sie von Ort zu Ort fliegt und diskutieren kann. Mit der Türkei, also mit Erdogan, kann man jetzt so wenig diskutieren wie mit Trump. Aber sie versucht es, und ich bewundere das sehr. Und wenn sie es nicht tun würde, hieße es sofort, Deutschland hat abgedankt als internationale Kraft.
von Billerbeck: Also diese Rolle zwischen Baum und Borke, die man ja ein klassisches Dilemma nennt, die hat sie angenommen, und die ist auch erfolgreich?
Grosser: Sie ist so erfolgreich wie nur möglich, wird international mehr anerkannt als in Deutschland selbst.
von Billerbeck: Zum Schluss noch mal auf Ihr Buch zurück, das ist ja der Anlass unseres Gesprächs – Sie erwähnen da im Schlusswort Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und zitieren ihn: "Sich selbst mit einiger Überheblichkeit als Mensch zu betrachten, um anderen zum Menschsein zu verhelfen, ist eine würdige Aufgabe. Sie überschattet jede Behauptung des Sinnlosen." Wenn man das liest –
Grosser: Ja, ich glaube, es ist eine echte Aufgabe, die ich mir selbst gestellt habe seit relativ jungen Jahren, und die lohnt sich. Ich hoffe, ich bringe viele Menschen jetzt zu dem Buch, das natürlich in Hunderttausenden Exemplaren verkauft werden soll, versuche ich, Menschen zum Menschen – ich gebe immer das Beispiel von der Verwandlung von Kafka, wo ein Mensch zum Tier wird. Ich möchte ihn verwandeln von etwas Tierischem, Unüberlegten zur Überlegtheit und zur Distanz zu seiner eigenen Identität. Das ist wichtig.

Wie geht es Arbeitslosen? Darüber muss man nachdenken

Ich weiß, dass ich als Mann noch Vorteile habe, die ungerechterweise Frauen noch nicht haben. Ich weiß, dass ich alt bin, aber dass meine vier Söhne für meinen Ruhestand arbeiten. Ich weiß, dass ich als Professor nicht arbeitslos werden konnte. Also bin ich anders in der Identität als die Arbeitslosen oder die, die es werden können, und so weiter, und so weiter – das muss man sich überlegen.
von Billerbeck: Wie Mensch bleiben in Zeiten der Verzweiflung? Alfred Grosser war das, mein Gesprächspartner. Ich danke Ihnen!
Grosser: Danke Ihnen!
von Billerbeck: Sein Buch "Le Mensch. Die Ethik der Identitäten" erscheint jetzt bei Dietz auf Deutsch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Alfred Grosser: "Le Mensch: Die Ethik der Identitäten"
Dietz Verlag, Bonn 2017
240 Seiten, 24,90 Euro

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