Aleida Assmann über die Erinnerung an die Opfer vom Breitscheidplatz

"Jeder hätte an ihrer Stelle stehen können"

Eine Frau stellt am 19.12.2017 an der Gedenkstätte für die Opfer des islamistischen Terroranschlags auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz in Berlin eine Kerze auf. Bei dem Anschlag vor einem Jahr war der Attentäter Anis Amri mit einem gestohlenen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren. Zwölf Menschen wurden getötet, fast 100 verletzt.
Terroranschlag vor einem Jahr: Gedenken in Berlin © dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka
Aleida Assmann im Gespräch mit Andrea Gerk · 19.12.2017
"Zu einem Mahnmal gehören auch kulturelle Praktiken", sagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Mit Glocken, Lichterketten und einer Rede der Bundeskanzlerin gedachten am 19.12.17 hunderte Menschen der Opfer vom Berliner Breitscheidplatz.
Vor genau einem Jahr raste ein Attentäter mit einem LKW in die Menschenmenge am Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Wie konnte es soweit kommen? In ihrer Rede sprach Bundeskanzlerin Merkel von Versäumnissen. Berlins Bürgermeister drückte den Hinterbliebenen der Opfer sein Mitgefühl aus. Um genau 20:02 Uhr – die Uhrzeit zu der der LKW in die Menschenmenge raste – läuteten 12 Minuten lang die Glocken der Gedächtniskirche, um an die 12 Menschen zu erinnern, die bei dem Anschlag getötet wurden. Ein bronzefarbener Riss im Boden soll in Zukunft als Mahnmal an die Narbe erinnern, die das Ereignis in der Gesellschaft hinterlassen hat.

Wie sinnvoll sind Rituale?

Spenden Rituale den Hinterbliebenen wirklich Trost? Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann ist überzeugt, dass gemeinschaftliches Erinnern eine wichtige Funktion erfüllt:
"Zu einem Mahnmal gehören auch kulturelle Praktiken. Das können Reden sein, das kann Musik sein, das können Lichterketten sein. Also man muss immer etwas tun, denn das Denkmal kann alleine ja nichts vollbringen. Es ist eine Möglichkeit, um miteinander etwas zu teilen."
Der erste Jahrestag hat Assmann zufolge in der Trauerkultur eine besondere Bedeutung:
"Nach einem Jahr beginnt immer eine neue Phase im Rhythmus des Totengedenkens. Auf dem Friedhof zum Beispiel kommt das Holzkreuz weg und dann wird ein Stein aufgerichtet. Und in diesem Fall am Breitscheidplatz kam das Plakat weg, das Provisorium, (…) und es wurde ersetzt durch ein Zeichen, das bleiben soll."

Eine Riss im Leben vieler Menschen

Das Zeichen, das bleiben soll, ist ein in den Boden eingelassener Riss aus Bronze. Dieses ungewöhnliche Mahnmal symbolisiert die Narbe, die der Anschlag im Leben vieler Menschen hinterlassen hat. Nicht nur Mahnmale und Rituale spielen bei der kollektiven Verarbeitung von Ereignissen eine wichtige Rolle, Assmann betont auch, dass es für eine Gesellschaft wichtig ist, den Opfern ein Gesicht zu geben und ihre Geschichte zu erfahren.
"Rituale sind wichtig. Aber auch die Medien sind wichtig. (…) Ich bin der Meinung, (…) dieser Jahrestag ist den Opfern gewidmet. Und hier sollten ihre Gesichter, ihre Namen im Mittelpunkt stehen. (…) Denn das sind Personen, die uns alle in gewisser Weise vertreten. Jeder hätte an ihrer Stelle stehen können."
(mw)
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