Albträume vom ewigen Elend

Von Wolf-Dieter Peter · 10.11.2008
Eigentlich darf es in unserer Zeit keine "Wozzecks" mehr geben. Doch es gibt sie zum Beispiel in 1-Euro-Jobs. Regisseur Andreas Kriegenburg hat Alban Bergs Oper nach Büchners Dramenfragment für die Bayerische Staatsoper umgesetzt. Er zeigt entstellte Menschen in seelenlosen Räumen und treibt die Handlung ins Albtraumhafte.
"Wir arme Leut!"… "Geld! Geld! Wer kein Geld hat!"… "Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und der andern Welt! Ich glaub’, wenn wir in den Himmel kämen, wir müssten donnern helfen!" Wozzecks Sätze aus Büchner Drama, die Alban Berg 1925 in freier Tonalität quälend eindringlich vertont hat. Ist es nicht ein Werk, aus dessen Aufführung heraus man auf die Straße gehen und die Welt verändern müsste? Denn eigentlich darf es in unserer Zeit keine Wozzecks mehr geben… doch es gibt sie: in unseren 1-Euro-Jobs, an Europas Rändern und erst recht in der so genannten "Dritten" und "Vierten Welt". Während Regisseur Andreas Kriegenburg im Schauspiel verstörend kühne (Ein-)Sichten vermittelt, bleibt er in seiner insgesamt dritten, aber ersten Münchner Operninszenierung eher zurückhaltend.
Von Bühnenbildner Harald Thor hat sich Kriegenburg einen im schwarzen Bühnenraum schwebenden Kubus bauen lassen: Maries ärmliches Zimmer mit nassen Mörtelwänden, Behandlungsraum des Doktors mit folterartigem Behandlungsstuhl, durch eine herab fahrende Zwischenwand auch leere Straße. In diesen seelenlosen Räumen zeigt Kriegenburgs präzise gearbeitete Personenregie "verbogene", entstellte Menschen. Mit Maries Schnürmieder, medizinischen Stützkorsetten des 19.Jahrhunderts am Körper des Doktors, zeitlosen Uniformen, heutigen Anzügen und der Wirtshauskapelle aus Musikern des Staatsorchesters in der üblichen "Schwarz-Weiß"- Abenddienstkleidung spannen Andrea Schraads Kostüme den Bogen aus der Entstehungszeit des Drama über die Zwanziger Jahre ins Hier und Heute.

Doch statt einer konkreten Attacke weitet Kriegenburg mit seinem Team die Handlung ins Albtraumhafte, Surreale. Der Raumkubus kann nämlich zurück- und hochschweben. Darunter erstreckt sich ein leeres bühnenweites Geviert, das mit fingerhohem Wasser bedeckt ist – die Welt als Sumpf, als Morast? Auf dieser düster bedrohlichen Wasserfläche vegetieren Männer in schwarzen Anzügen, mal lemurenartig, mal als leblose Bäume, mal als Arbeitstiere, die Plattformen für den Tambourmajor und den Handwerksburschen, später sogar das Podest mit der Wirtshauskapelle tragen müssen. Ihnen wird altes Brot oder eine Handvoll Münzen hingeworfen und eine Wasserschlacht entbrennt darum. Diese Lemuren tauchen auch mit umgehängten Schildern "Arbeit!" aus dem Dunkel auf. Sie bieten Wozzeck das Messer zum Mord. Die anderen Wozzeck umgebenden Menschen zeigt Kriegenburg als erdbraune, fast glatzköpfige Gnomen ohne Hals – insgesamt eine Albtraumwelt, finster und ekelig, doch mit hochästhetischen Mitteln, folglich ohne die unter die Haut gehende Attacke auf diese, unsere Welt.

Prompt brandete am Ende einhelliger, durch kein Buh getrübter Jubel auf: für den überragenden Sänger-Darsteller Michael Volle, der mit diesem Wozzeck derzeit opernweltweit konkurrenzlos ist, für ein bis auf Jürgen Müllers inakzeptablen Tambour Rollen deckendes Ensemble um Michaela Schusters deftig-dralle, gelegentlich schrille Marie, für das mehrfach zu laut aufspielende Staatsorchester und für das ganze Bühnenteam um Andreas Kriegenburg. GMD Kent Nagano setzte einen heiteren Schlusspunkt: Er kam barfuss mit hochgekrempelter Hose auf die Wasserfläche … schallendes Gelächter am Ende eines zu wenig verstörenden "Wozzeck 2008".