Akustische Jahrhundertreise

09.11.2012
Dies ist kaum noch ein Hörbuch zu nennen, es ist fast schon eine Hörbibliothek: Auf 44 CDs sind 183 deutschsprachige Erzähler der letzten 100 Jahre im Originalton zu vernehmen.
Philosophen haben das Verschwinden der Stimme in der Schrift beklagt. Hier kommt das Verschwundene zurück, auferstanden aus Archiven: 56 Stunden Originaltöne von 183 deutschsprachigen Erzählern der letzten 100 Jahre. Statt Papier und Zeichen – Atem und akustische Körperlichkeit. Von einem aber fehlt jeder Hauch: Franz Kafka, von dem es keine Tonaufnahme gibt, obwohl er doch ein leidenschaftlicher, Gelächter erregender Vorleser gewesen sein soll. Ein Ohrenzeuge Kafkas war Max Brod – man lauscht hier seinen Erinnerungen an den Prager Literatenkreis und den trinkfreudigen Jaroslav Hašek:

Max Brod: "Und der Schwejk war damals noch nicht geschrieben. Was sollte der junge Heimkehrer tun? Er warf sich aufs Politische, mischte auch hier sofort die Karten ironisch durcheinander, gründete mit einigen Spießgesellen eine neue "Partei des gemäßigten Rückschritts im Rahmen der Gesetze". Für diese humoristische Partei zog er durch die Lande, hielt Wahlreden in Bierlokalen, Cabarets, in rauchgeschwärzten Butiken."

In Karl Kraus’ Satire "Reklamefahrten zur Hölle" geht es um die touristische Erschließung der Schlachtfelder von Verdun. Kraus steigert sich bei der Lesung 1934 in einen aberwitzigen Furor und kontrastiert den angebotenen Komfort mit der eher unbequemen Situation von 300.000 Zerfetzten:

Karl Kraus: "Die Teilnehmer erhalten nach Einzahlung von 117 Franken ein Ticket, durch das ohne jede weitere Auslage folgendes geboten wird: Sie fahren im Schnellzug zweiter Klasse abends von Basel ab. Sie werden am Bahnhof in Metz abgeholt und im Auto ins Schlachtfeld geführt. Sie übernachten in einem erstklassigen Hotel, Bedienung und Trinkgeld inbegriffen."

Von Alfred Döblin ist die kurze Eröffnungsrede zu einer Kunstausstellung aus dem Jahr 1931 zu hören. Unter erstauntem Gelächter des Publikums kanzelt er die Künstler ab und schwärmt lieber von der Berliner U-Bahn und den neuen Bauten des Walter Gropius:

Döblin: "Die Malerei steht irgendwie außerhalb heute. Sie sind nicht ganz Leute von heute. Ich muss Ihnen das sagen."

Erzähler mit Dialekt-Hintergrund scheinen ein passionierteres Verhältnis zum mündlichen Vortrag zu haben. So verleiht Heimito von Doderers feines, beinahe gesungenes Wienerisch der erotischen Pratergeschichte "Im Irrgarten" zusätzliche Reize:

Doderer: "Rene stimmte erst beiläufig zu mit der Bemerkung, er räume gerne ein, dass alle Männer im Grunde ekelhaft seien. Dabei streichelte er ihren Arm und legte schließlich wie tröstend den seinen um ihre Mitte, was sie zuließ. Während sie nun rasch und gleichmäßig sprechend ein Erlebnis zu erzählen begann, das ihr schon seit Jahren die größte Belästigung bereite – ein Berufsgenosse ihres Gatten verfolge sie (natürlich ganz vergeblich und ohne jede Aussicht auf Erfolg) mit ihrer Liebe -, hauchte ihr Rene die ersten zarten Küsse in ihr Genick und auf den Ausschnitt ihres Kleides ..."

Es gibt die Erzähler mit den passgenauen Stimmen. Dieter Wellershoffs trocken-präziser Ton scheint wie eine Maßanfertigung für die von ihm begründete Kölner Schule des Realismus. Gottfried Benns mildes Parlando dagegen bildet Kontrapunkte zum Gestus des zynischen Mediziners und dem Souveränitätsgebaren seiner Abendlandsabgesänge. Ingeborg Bachmann taucht ihre Texte durch die helle, mädchenhafte, wie erschrocken wirkende Stimme in eine unvergleichliche Aura:

Ingeborg Bachmann: "Sie könnte Messen lesen lassen für alle Autofahrer, die sie nicht überfahren haben, für jeden Tag dem Heiligen Antonius Kerzen stiften, an dem er ihre Wohnung nicht hat abbrennen lassen, wegen der angezündeten Zigaretten, die sie weglegt, sucht und dann Gottlob findet, wenn auch schon ein schwarzes Loch in den Tisch gebrannt ist."

Schreckensbleich ist der Ton von Peter Weiss, ruhig, aber alles andere als beruhigt – er liest den Bericht seines ersten Auschwitz-Besuchs:

Peter Weiss: "Hier sind sie gegangen, im langsamen Zug, kommend aus allen Teilen Europas. Dies ist der Horizont, den sie noch sahen, dies sind die Pappeln, dies die Wachtürme, mit den Sonnenreflexen im Fensterglas, dies ist die Tür, durch die sie gingen, dies sind die Grundmauern, zwischen denen sie verendeten, in der plötzlichen Dunkelheit, im Gas, das aus den Löchern strömte."

Von dieser Edition werden fast vergessene Autoren zurückgeholt in den Kreis der Wichtigen: etwa der feinsinnige Gert Hofmann mit einer hinreißend makabren Lesung aus dem Roman "Die Fistelstimme". Hofmann ist beeinflusst von Thomas Bernhard, der seinerseits mit "Der Hutmacher" eine hinreißend präzise Lesung abliefert. Die manischen Wiederholungsschleifen der Bernhard-Prosa bekommen etwas Zwingendes:

Thomas Bernhard: "... und ich soll in den dritten Stock, auf den Dachboden, habe ich meinem Sohn gesagt, dein Vater soll auf den Dachboden ziehen, also morgen, habe ich gesagt, wird man mir auf dem Dachboden ein Bett aufschlagen, auf dem Dachboden, auf dem Dachboden, in einem dieser schmutzigen, finsteren Schlupfwinkel, sagte der Hutmacher, sie wollen mir einen solchen Schlupfwinkel, der im Grunde nichts als ein Schmutzwinkel ist, einrichten ..."

Ob es sich um Virtuosen, routinierte Leser oder Mikrofonscheue handelt – die akustischen Profile sind ein Gewinn. Man liest Autoren anders, wenn man sie einmal gehört hat. Diese opulente 50-stündige Edition ist eine große Gedächtnisleistung der deutschsprachigen Literatur.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Christiane Collorio, Michael Krüger, Hans Sarkowicz (Hg): Erzählerstimmen. Die Bibliothek der Autoren
Hörverlag, München 2012
44 CDs, ca. 3.300 Minuten, 149,99 Euro
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