Akustische Archäologie

Wie Paris im 18. Jahrhundert klang

Die Basilica minor Sacré-Cœur de Montmartre in Paris.
Blick auf Paris: Wie die Stadt heute klingt, wissen wir. Aber wie klang sie vor zweihundert Jahren? © imago / PanoramiC
Von Bettina Kaps · 19.03.2017
Die Erforschung der Klangwelten früherer Epochen ist ein schwieriges Unterfangen. Welche Aussagen lassen sich anhand von archäologischen Funden zu Geräuschen und Klängen der Vergangenheit machen? Kann man Geräusche einer Stadt, die es nicht mehr gibt, wieder zum Leben erwecken? Die französische Musik-Archäologin Mylène Pardoen zeigt, wie es geht.
Treffpunkt Notre-Dame, Paris, 9 Uhr früh. Erste Touristen sammeln sich vor der gotischen Kathedrale. Die Stadt rauscht, Kirchenglocken läuten, ein Presslufthammer lärmt. Wie mag es hier vor 300 Jahren ausgesehen und geklungen haben?
Genau diese Fragen hat die Musikwissenschaftlerin Mylène Pardoen zu ihrem Forschungsprojekt gemacht. Den Anstoß dazu gab ihr ein alter Stadtplan von Paris, den der Architekt und Kartograph Louis Bretez 1739 entworfen hatte.
"Der Plan ist absolut einmalig, weil er ganz Paris aus der Reiterperspektive zeigt. Dadurch zeichnet er ein plastisches Bild der alten Stadt. Mir hat er sofort in den Ohren geklungen. Vor allem die Zeichnungen der Seine: Da sind Schiffsmühlen abgebildet, Flussschiffe der Salzzöllner, Schiffe der Waschfrauen …"
Pardoen nahm sich vor, den Plan zu vertonen, Paris also genau wie 1739 erklingen zu lassen, Straße für Straße, Laden für Laden, Haus für Haus ...

Eigentlich wollte sie ganz Paris nachbilden

Aber nicht mit künstlichen Geräuschen, sie wollte die ursprünglichen Klänge aufspüren:
"In meinem großen Wahnsinn wollte ich tatsächlich ganz Paris nachbilden, und zwar virtuell am Computer und akustisch. Die Betrachter sollten durch das alte Paris spazieren können. Aber die Grafiker sagten mir: 'Komm auf den Teppich zurück! Ganz Paris - das ist unmöglich.'"
Mylene Pardoen konzentrierte sich schließlich auf ein Viereck, in dem besonders viele Menschen, Berufe und Geschäfte zu finden waren: Le Grand Chatelet, so hieß eine alte Festung, die als Gefängnis diente, die Seine-Brücken Le Pont Notre Dame und Le Pont au Change, und ein paar Straßen und Quais, die sie verbinden.
Ein Porträt der Musikwissenschaftlerin Mylène Pardoen
Die Musikwissenschaftlerin Mylène Pardoen: Recherchen bis ins kleinste Detail© Deutschlandradio / Bettina Kaps
Pardoen recherchierte bis ins kleinste Detail, wie es dort früher aussah. Denn heute ist vom damaligen Stadtteil nichts mehr übrig.
"Anfangs wusste ich nicht, wie breit die Straßen waren. Das ist wichtig für die Akustik. Ich habe also die Aufzeichnungen der Kutscher studiert. So habe ich erfahren, dass an manchen Orten bis zu fünf Gespanne nebeneinander fahren konnten. Aber die Straßen waren nicht geradlinig, sie verengten sich auch. Da muss man ganz schön aufpassen."

Bücher, Pläne, Urkunden, Stiche und Radierungen

Mylene Pardoen hat Jahre in Archiven zugebracht, um Bücher, Pläne, Urkunden, Stiche und Radierungen auszuwerten. Sie fand heraus, wie die Häuser gebaut waren, ob sie Türen oder Tore hatten, wie die Höfe aussahen, welche Straßenbeläge es gab ... Dieses Material brachte sie den Grafikern, die daraus am Computer ein 3D-Modell entwickelten.
"Das virtuelle 3D-Modell ähnelt einem Video-Spiel, ist aber keins. Ich musste die Fantasie der Grafiker bremsen, ihnen ständig sagen: Wir befinden uns nicht im Mittelalter, ich will kein romantisches Bild der vorrevolutionären Zeit, ich will reine Fakten. Als es dann um die Fortbewegung ging, war ihr Tempo so schnell wie in einem Video-Spiel. Dabei liefen die Menschen im 18. Jahrhundert langsamer als wir. Es gab Kopfsteinpflaster, sie trugen Holzpantinen, es war rutschig ..."
Genauso präzis ist sie bei den Tönen vorgegangen: Pardoen recherchierte, welches Handwerk wo ausgeübt wurde, welche Tiere geschlachtet und auf den Märkten verkauft wurden, welche Vögel durch die Stadt flogen.
Um die Klänge einzusammeln, hat sie Handwerker getroffen, die noch wie damals arbeiten, beispielsweise Leder nähen oder Holz sägen. Sie hat alte Webstühle in Gang gesetzt und Mechanismen von Mühlen aufgenommen, die Wasser hoch pumpen ... Aber kein einziger Ton wurde digital erzeugt. Das Ergebnis ist ein Zeitsprung 300 Jahre zurück, der im Internet frei zugänglich ist.

Pferdehufe klappern, Fliegenschwärme summen

Während man am Bildschirm durch menschenleere Straßen spaziert, hört man Metzger, Gerber, Spengler, Drucker bei ihrer Tätigkeit. Pferdehufe klappern, Fliegenschwärme summen über den Fischmarkt, an der Seine schlagen Waschfrauen ihre Wäsche aus … Menschenstimmen kann man allerdings nur erahnen, nie verstehen. Der Grund:
"Niemand weiß, welches Französisch damals in Paris gesprochen wurde. Wir kennen das Schrift-Französisch, aber nicht die Mundarten. Viele Menschen sprachen ihre heimischen Dialekte. Auch wie laut sie redeten, ist fraglich. Solange ich keine Beweise finde, wage ich es nicht, Sprache zu rekonstruieren."
Seit zehn Jahren feilt die 57-Jährige nun schon an ihrem Fresko, legt Klang-Schicht über Klang-Schicht, wie bei einem Gemälde, um ein Ergebnis zu erzielen, das wahrhaftig ist und dem menschlichen Hören entspricht. Heraus gekommen ist ein Soundtrack,der nur sechs Minuten dauert. Das Ergebnis ist einzigartig und hat viel Interesse geweckt. Kürzlich hat auch das Schloss von Versailles bei Mylène Pardoen Klangfresken bestellt.
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