Aktionskünstler Hermann Nitsch

"Ich habe durch die Kunst das Wesen des Seins erfahren"

Der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch sitzt vor seinen Werken im Kurhaus in Hinterzarten in Baden-Württemberg. Nitsch zeigte dort im Frühjahr 2018 in einer Ausstellung mit dem Titel "Zum Konzept des Orgien Mysterien Theaters" sein Lebenswerk von 1960 bis heute.
Unser Gesprächsgast: Der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch. © picture alliance / Patrick Seeger/dpa
Hermann Nitsch im Gespräch mit Ute Welty · 08.08.2018
Hermann Nitsch sieht sich selbst als jemand, der das Leben feiert. Seine Kunst, in der Blut fließt und auch Kadaver zum Einsatz kommen, nennt er ein "Orgien-Mysterien-Theater". Religiöse Bezüge, etwa zur Passion, sind unübersehbar. Ende des Monats wird der Österreicher 80.
Ute Welty: Er malt mit Blut, er wühlt in Eingeweiden, und Tabus scheint er überhaupt nicht zu kennen: Wer den Künstler Hermann Nitsch bei der Arbeit beobachtet, der bekommt einen lebhaften Eindruck davon, wie ein Schaffensrausch aussieht. Und weil Deutschlandfunk Kultur in dieser Woche auf der Suche ist nach dem guten Rausch, war ich verabredet mit Hermann Nitsch, zumal sich die Frage aufdrängt, wo für den Wiener die kalkulierte Inszenierung endet und der unkalkulierbare Rausch beginnt.
Hermann Nitsch: Ja, Rausch ist ein gefährliches Wort. Was ist Rausch?
Welty: Was ist es für Sie?
Nitsch: Ich würde sagen, Begeisterung und extreme Intensität. Und da eben in der bürgerlichen und in der normalen Welt der Rausch doch mehr oder weniger keinen Platz hat, ist er als Begriff notwendig. Es geht eigentlich um die Verbindung der Einengung, und es geht um die Überwindung des Normalen zugunsten einer extremen schöpferischen Verwirklichung.
Welty: Das heißt, Ihre Kunst ist wie viel Kopfsache und wie viel Körpersache?
Nitsch: Beides, beides. Für mich ist Körper und Geist eine Einheit. Das kann man nicht voneinander trennen.
Welty: Sie haben eben gesprochen von Rausch als Begeisterung und Intensität – jetzt sei dahingestellt, ob man sich für Ihre Art von Kunst begeistern kann, aber intensiv ist sie allemal.
Nitsch: Ich würde sagen, die Kunst der Weltgeschichte ist eine intensive Kunst und fordert auf zur Begeisterung, zur schöpferischen Intensität, und ich möchte mit meiner Kunst alles zeigen, was es gibt. Ich möchte die Freude zeigen, das Tragische, den Schmerz, die Wollust, alles – genauso wie in der gesamten Schöpfung immer wieder Aufbau und Zerstörung zu finden sind.

"Ich möchte mit meiner Arbeit das Leben zeigen"

Welty: In den Gesichtern der Menschen, die Sie bei Ihren Performances beobachten, lässt sich manchmal durchaus ein gewisser Ekel erkennen, zumindest zumal es nicht immer so ganz gut riechen dürfte, wenn Sie biologische Materialien einsetzen. Ist das auch etwas, was Ihnen einen gewissen Kick verschafft, diese Irritation auszulösen?
Nitsch: Wenn wir sinnlich wahrnehmen, gibt es immer eine Ekelschranke, die ist einfach vorhanden, und die kann verschoben werden, aber die ist da, das ist das Leben. Ich möchte mit meiner Arbeit das Leben zeigen und wirken lassen.
Der österreichische Künstler Hermann Nitsch rückt während einer Blut-Performance im Dezember 2001 im Frankfurter Museum Schirn den Kopf eines an ein Kreuz gebundenen Models zurecht. Aus dem Mund der Frau rinnt Schweineblut, welches ihr Nitsch zuvor eingeflößt hatte. In wechselnder Reihenfolge goss der 63-Jährige Blut, Eigelb, Wasser und weißen Kleister in ihren Mund. Dann ließ sie die Flüssigkeiten auf ihr weißes Gewand rinnen.
Das Leben zeigen und wirken lassen: Hermann Nitsch in einer Blut-Performance von 2001.© picture-alliance / dpa
Welty: Ihre Aktionen haben ja auch viel von kultischen Handlungen, haben viele religiöse Bezüge, Symbole der Kreuzigung beispielsweise wie im Orgien-Mysterien-Theater. Ist die Religion nach wie vor das Opium fürs Volk?
Nitsch: Erstens einmal ist Psychoanalyse für mich sehr wichtig, und ich interessiere mich für alle Religionen, ohne einer anzugehören. Viele oder fast alle Religionen haben allgemeingültige Weisheiten provoziert, und Opium fürs Volk – die Religionen sind etwas, das aus unserem Bewusstsein, aus unserem kollektiven Unbewussten entstanden ist. Und Opium fürs Volk, das sind so …
Welty: Schlagworte.
Nitsch: … positivistische Meldungen. Die Religionen gibt es einfach, das sind Träume und Visionen der Menschheit und ich würde sagen der Natur, ist einfach da. Und die jeweiligen Religionen werden im Zeitablauf immer wieder überwunden und gegen neuere und zeitgemäßere ersetzt. Der Atheismus ist auch eine Religion.
Aktion des Künstlers Hermann Nitsch während der Vernissage seiner Ausstellung " Sinne und Sein - Retrospektive" im Nitsch-Museum im Museumszentrum Mistelbach in Niederösterreich
"Die Ekelschranke ist einfach vorhanden", sagt Nitsch. Hier eine Aktion im Nitsch-Museum in Mistelbach in Niederösterreich.© picture alliance/APA/picturedesk.com
Welty: Wie groß ist denn die Gefahr, dass Ihr Kunstritual zur Routine wird? Sie machen das ja jetzt schon seit einigen Jahren, es ist ja kein Geheimnis, dass Sie Ende des Monats 80 werden.
Nitsch: Wer meine Arbeit kennt und sie versteht und noch dazu liebt, der kann nicht von Wiederholung sprechen, und außerdem, Ritual ist Wiederholung, immerwährende Wiederholung. Es geschieht etwas oder es wird etwas gesagt, immer wieder wiederholt, bis man es begreift.

"Das Geschenk ist das Sein, an dem ich teilhabe"

Welty: Was haben Sie über Kunst begriffen im Laufe der Jahre?
Nitsch: Ich kann nicht sagen alles, das wäre nicht richtig, aber vieles. Ich glaube, ich habe durch die Kunst das Wesen des Seins erfahren, sehr tief erfahren, weil Kunst ist immer der Entwurf des Werdens und des Seins und eben der Schöpfung.
Welty: Anlässlich Ihres runden Geburtstages sind zahlreiche Ausstellungen geplant – was schenken Sie sich selbst, um eben auch den 80. berauscht zu erleben?
Nitsch: Ich würde sagen, ich schenke mir gar nichts selbst. Ich gebe mich weiterhin der schöpferischen Tätigkeit hin. Das Geschenk ist das Sein, an dem ich teilhabe und das ich in extremen Augenblicken bin.
Welty: Mit fast 80 ist Künstler Hermann Nitsch nach wie vor auf der Suche nach dem guten Rausch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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