Aktion des Zentrums für Politische Schönheit

Wie ernst ist "Flüchtlinge fressen" gemeint?

Ein schwarz-weißer Aufkleber mit der Aufschrift "Flüchtlinge fressen - Not und Spiele", auf dem eine Tigerfigur steht.
Das Zentrum für politische Schönheit erregt mit seiner neuen Aktion "Flüchtlinge fressen - Not und Spiele" Aufmerksamkeit in Berlin. © dpa/ picture-alliance/ Rainer Jensen
Michael Laages im Gespräch mit Andrea Gerk · 16.06.2016
Das Zentrum für Politische Schönheit ist für spektakuläre Aktionen bekannt: etwa die Bestattung einer im Mittelmeer Ertrunkenen oder die Mauerkreuze an der EU-Außengrenze. Nun heißt es in Berlin "Flüchtlinge fressen". Wie ernst ist dieser Titel gemeint?
Das Zentrum für politische Schönheit hat bereits einige spektakuläre Aktionen veranstaltet: Vor zwei Jahren hat die Gruppe aus Protest gegen die EU-Flüchtlingspolitik eine Frau bestattet, die im Mittelmeer ertrunken sein soll, ein anderes Mal stahlen die Aktivisten Gedenkkreuze für Maueropfer und brachten sie an die EU-Außengrenze.
Die neueste Aktion heißt "Flüchtlinge fressen". Am heutigen Donnerstag war Auftakt vor dem Berliner Gorki-Theater. Mit einem Flugzeug sollen hundert Syrer aus der Türkei nach Deutschland geholt werden - wenn nicht, werden Flüchtlinge gesucht, die sich im Kampf gegen das Aufenthaltsgesetz in einer Arena von Tigern fressen lassen.
Michael Lages hat sich den "Sommer des Sterbens", wie eine Aktivistin das Ganze nannte, angesehen. Mit ihm sprechen wir darüber, wie ernst das Zentrum für Politische Schönheit die Aktion meint, was genau am Auftakttag stattfand und wie es nun weitergeht.

Kommentar von Michael Laages:
Die Tiger sind schon da. Vier gestreifte Schwergewichte, aus Libyen und sehr gefährlich, schnüren derzeit in einem hausgroßen Kasten umher auf dem freien Platz vor dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Der Kasten kam vor Jahren schon mal zum Einsatz – als Sandkasten, in dem die Männer im Gorki-Ensemble eine Art Agressions-Exorzismus durchspielten. Jetzt also warten dort vier Tiger auf Beute. Ab Ende Juni sollen sie dort – Achtung! – "Flüchtlinge fressen"; freiwillige Opfer, die mit diesem letzten Gang das letzte Zeichen setzen sollen gegen die Weigerung deutscher wie europäischer Politik, Geflüchtete ohne Visum einreisen zu lassen.
Die Tiger also als Drohkulisse, wenn die Politik nicht umgehend genau so spurt, wie die moralisch extrem selbstgerechten Aktivisten das wollen ... Wie im alten Rom die Löwen, denen Übeltäter zum Fraß vorgeworfen, sollen im neuen (angeblich ähnlich barbarischen) Europa Tiger Geflüchtete fressen, womöglich vor jubelndem Publikum – wie ernst gemeint kann das sein? Würde nicht im Fall der Fälle, also wenn die Aktion nichts fruchtet in der offiziellen Politik und tatsächlich das große Fressen beginnen müsste, die Staatsmacht eingreifen und zunächst mal die Tiger betäuben? Natürlich würde sie das – und der Polit-Truppe käme das Maximum an öffentlichem Interesse zu. Vielleicht würde ja sogar auch noch mal anders nachgedacht über die visafreie Flucht-Alternative für Menschen in Not – angesichts der brachialen Strategie dieses abstrusen Projekts aber wohl eher nicht.

Zentrum möchte Paragraphen im Aufenthaltsgesetz kippen

Dem Einsatz der Tiger sind einige politische Schritte vorgeschaltet. Zum einen könnte der Bundestag den Absatz 3 im Paragraphen 63 des Aufenthaltsgesetzes kippen. Der untersagt (im Einklang mit dem europäischen Schengen-Recht, das 1985 innereuropäisch die Grenzen auflöste, sie nach außen hin aber verstärkte!) allen Flug-Gesellschaften und Fähren-Betreibern den Transport von Menschen ohne Visum nach Europa. Sollte der Bundestag nicht entsprechend handeln (und die Regelung aufheben) ist der Bundespräsident aufgerufen, die Politik zu dieser Entscheidung zu verpflichten – ob Joachim Gauck davon weiß und sich einbinden lassen möchte in das Projekt? Derweil bittet das "Zentrum" uns, das geneigte Publikum, um Spenden – damit am 28. Juni ein Flugzeug (mit dem sinnigen Namen "Joachim 1", statt "Airforce One" …) tatsächlich von Izmir nach Berlin reisen kann, mit hundert Geflüchtete an Bord. Die dürfen wir. Das Publikum, auswählen.
Dass all das geschieht, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dann sollen die Tiger zum Einsatz kommen. Wer besonders verzweifelt ist im Aufnahmeland Deutschland, kann sich jetzt schon "bewerben", erhält aber erstaunlicherweise nichts dafür. Denn erst das wäre ja der Gipfel des Zynismus: den Hinterbleibenden des Opfers (des Menschen, der sich für andere opfert!) eine Summe zu zahlen, die jede Flucht ermöglicht. Aber so weit wollte das "Zentrum" wohl nicht gehen; schon weil wahrscheinlich nicht genug Geld zusammen käme.

Grenzenloser Selbstgerechtigkeitswahn der Aktivisten

Im Ernst – über die visumfreie Einreise für Geflüchtete (und die Prüfung des Fluchtgrundes dann hier, Abschiebe-Option inklusive) wäre unbedingt zu reden. Nützlich wäre, so den Fluchthelfern das Handwerk zu vermiesen. 10.000 Euro werden veranschlagt für den Trip zum Beispiel übers Mittelmeer, der allzu oft elend und tödlich endet. Vielleicht lohnt sogar die Frage, ob sich Europa abschottet wie einst das alte Rom, wo Löwen die Rolle der Tiger spielten. Aber so? Nein.
Der grenzenlose Selbstgerechtigkeitswahn der Aktivisten in Sachen "Moral", wie sie sie verstehen, ist schlicht unerträglich. Er steht jeder ernsthaften politischen Debatte im Wege. Und künstlerisch ist der Mehrwert gleich Null – kleine Shows auf dem Dach des Käfigs und intellektuelle Debatten im Gorki-Garten, wie die am ersten Abend mit Allzweck-Dramaturg Carl Hegemann, Gorki-Hausautorin Sasha Marianna Salzmann sowie Andre Leipold, einem der Masterminds vom "Zentrum", sind nur das armselige Tarnkäppchen der Diskurs-Strategie. Ob sich das Gorki-Team richtig freut über das Projekt?
Und ob sich die Bühne mutig um die Tiger scharen wird, wenn im Ernstfall die Männer mit den Betäubungsgewehren kommen? Oder ob das Projekt bis dahin erkannt wird als das, was es ist: als unpolitischer, aufgeplustert-großmäuliger Moral-Exzess?
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