Akademie der Autodidakten

Steh zu dem, was du bist

Von Jürgen Stratmann · 17.06.2015
Erstmalig steht der Londoner Rapper "African Boy" als Schauspieler auf der Bühne. Im Berliner Ballhaus Naunynstraße feiert die Theaterfassung von "One day I went to Lidl" mit ihm Premiere: Eine Inszenierung über deutschen Flüchtlings-Alltag.
"One Day I went to Lidl ..."
Hier wird ganz schnell klar: der "One-day-I-went-to-Lidl"- Song - taugt auch für die Theaterbühne:
"I was really, really hungry - I went shoplifting Lidl -´cause I had no money, money ..."
Das Theaterstück folgt thematisch den drei Strophen des Songs - und der britische Rapper ist auch oft die zentrale Figur auf der Bühne: In der Eröffnungsszene steht er mittig vor weiß erleuchteten Stellwänden, die später als Video-Projektionsflächen fungieren - und leiht der vermeintlichen Kieztheater-Performance ein bisschen Popstar-Bühnen-Glamour ...
"Come on people - Leute, wo seid ihr, ist auch alles klar?"
Ojushola Ajose - so der bürgerliche Name - scheint jedenfalls ehrlich begeistert von der Idee einer Lidl-Song Bühnenfassung, denn ...
Ajose: "Dadurch hab ich die Möglichkeit, den Song in 3-D zu spielen, ein echter Spaß, auch, weil ich bis jetzt bei Auftritten immer alle Rollen selbst spielen musste."
Jawohl: Rollen spielen! Denn die "One day I went to Lidl"- Armer-African-Refugee-auf-Discounter-Odysse-Geschichte ist nur bedingt autobiographisch:
"Die dritte Strophe, in der es heißt, die "Einwanderungspolizei klopft an meiner Tür" ist nicht wirklich in meinem Leben passiert, aber ich habe in Gesprächen meiner Eltern oft davon gehört ..."
Ojushola Ajose kam kurz nachdem seine nigerianischen Eltern nach England ausgewandert sind auf die Welt - und legt größten Wert auf das Prädikat "Made in Africa" - kurz M.I.A.- wie auch ein Song auf seinem Debüt-Album ABCD heißt:
"Yes, yeah, yes, that´s the name of the song! - made in Africa, born in the UK ..."
Aber den Namen "African Boy" habe er sich trotzdem verdient, weil:
In meiner Generation wollten alle "UK-Kids" sein - unsere Eltern haben zwar ihre eigene Sprache gesprochen ... Aber dann hab´ ich gesagt: Hey, ich bin aus Nigeria! - warum lügst du, steh zu dem, was du bist - darum haben sie mich African Boy genannt."
Künstlerisches Bildungsprojekt zur Integration
Wie auch immer: Das, was im Lidl-Song als witzige Anekdote ´rüberkommt, ist einigen der elf anderen Ensemblemitglieder so - oder ähnlich passiert:
"Am Bahnhof hat mich mal eine alte Frau gefragt, ob das der Zug nach Berlin sei - Ja hab ich gesagt, aber ich habe kein Ticket - dann kam ein Kontrolleur - und die Frau schrie laut: 'Der da! der hat kein Ticket!' Und dann kam die Polizei ... Die Ausweise bitte!"
Seit 2007 gibt es auf der Kreuzberger Naunynstraßen-Bühne die "Akademie der Autodidakten" - gedacht als künstlerisches Bildungsprojekt, zur Integration und Förderung Jugendlicher mit Migrationshintergrund: Laiendarsteller produzieren Stücke zu relevanten Themen - unter Anleitung von Spielleitern komplett selbst - und setzen sie auf der Bühne um, rekrutiert werden die Ensembles in intensiven Workshop-Phasen - und diese Akademie der Autodidakten ist offenbar eine echte Talentschmiede: So hat etwa Gorki-Theater-Ensemble-Mitglied und Tatort-Schauspieler Tamer Arslan hier angefangen.
Aber - Stichwort: Schauspieler? - die Darsteller im Stück treten unter eigenen Namen auf - und erzählen ihre eigenen Geschichten - ist die Frage, ob man da von Spielen sprechen kann - bemerkenswert ist es allemal, mitunter auch sprachlich, wenn sich beispielsweise. Amanda Mukassonga dem Publikum vorstellt, klingt das so:
"Muka - Präfix - weiblich! Sssonga = Gipfel, nur löchrig und nicht grob gestrickt, warme Kindheit, Mittelschicht, Tutsi trotz ich lebendig."
Dazu gibt´s Gesangspassagen, durchgeknallte Street-Dance-Persiflagen - und dazwischen: Agit-Pop-Momente reinsten Wassers! Allerdings - wenn etwa bei:
"We are here, we will fight - freedom - of movement, ist everybdies right."
... die gesamte Truppe in Les-Miserables-artiger Breitfront auf´s Publikum losmarschiert - nicht ohne Show-Wert!
Und die Flüchtlingsschicksale, die vorgetragen werden, glaubt man in irgendeiner Form alle schon mal gehört zu haben, nur: Wenn die Erzähler im Solo auf der Bühne mit direktem Blickkontakt verdeutlichen, dass sie selbst es sind, die das erlebt haben, dann packt einen das schon - oder, wie der African Boy sagen würde:
"You think you know, but you don´t know."
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