Aids

Mein Leben mit HIV und Meyerbeer

Der Komponist Giacomo Meyerbeer (u.a. die Opern "Robert der Teufel", "Die Afrikanerin") in einer zeitgenössischen Darstellung.
Giacomo Meyerbeer in einer zeitgenössischen Darstellung. © picture alliance / dpa / Grayscale
Von Kerstin Poppendieck · 01.12.2014
Der Berliner Musikwissenschaftler Thomas Kliche lebt seit fast 30 Jahren mit dem HI-Virus. Wie sein großes Vorbild Giacomo Meyerbeer erlebte er Ausgrenzung und Stigmatisierung. Dem Komponisten hat Kliche jetzt ein Buch gewidmet.
"Ja, 4 Etage Vorderhaus. Hallo, herzlich willkommen, kommen Sie rein!"
Ein Mietshaus in einer ruhigen Seitenstraße in Berlin Friedrichshain. Thomas Kliche steht im Türrahmen. Offen und herzlich empfängt er mich und führt mich in sein Arbeitszimmer:
"Ich möchte Ihnen eines meiner Schätze zeigen, was jetzt hier an der Wand hängt. Und zwar wissen Sie ja inzwischen, ich bin begeisterter Meyerbeerianer seit etlichen Jahren. Und eines meiner Schönsten ist hier ein Porträt von Meyerbeer mit einer originalen Unterschrift. Dann Textbücher. Eine Ausgabe von 1825 von 'Il Crociato in Egitto'. Das war ja seine Oper, die ihn quasi über Nacht in ganz Europa bekannt machte. Was letztlich auch dazu führte, dass er sich entschieden hatte, seinen Vornamen gänzlich in Giacomo umzubenennen. Das war ein Künstlername, aber auch als Referenz gegenüber seinem italienischen Publikum, das ihn zu großem Erfolg geführt hat. Machen wir erstmal einen Punkt und jetzt gibt's erstmal einen Tee. Jetzt hab ich Ihnen schon so viel erzählt."
Thomas Kliche geht in die Küche. Neben dem Wasserkocher steht ein Regal mit CDs. Gleich die erste CD ist von Robbie Williams. Thomas Kliche bemerkt meinen überraschten Blick.
Zwischen Marianne Faithful und Chormusik
"Ja, ich wohn ja hier mit meinem Freund zusammen, und wir haben ganz unterschiedliche Musikgeschmäcker. Er war beispielsweise gestern im Konzert von Marianne Faithful. Was mir wahrscheinlich ein bisschen zu laut gewesen wäre. Meine Welt ist halt die Oper und klassische Musik und Chormusik. Aber wir kommen uns auch nicht ins Gehege. Und er profitiert auch von dem, was ich ihm – wir sind jetzt bald 20 Jahre zusammen – von dem, was ich ihm in Anführungszeichen näher- oder beigebracht habe.
Wir gehen jedes Jahr zu den Berliner Festwochen und gehen in die Oper, da haben wir uns jetzt schon das zweite Jahr ein Premierenabo gegönnt. Das mach ich eigentlich noch so ganz gerne. Ansonsten ist mir der Lärm der Welt auch auf Grund meiner Krankheit ist mir alles zu viel. Ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe, wenn ich mich in geschützten Räumen aufhalten kann und so ein nettes Gespräch wie mit Ihnen haben kann. Ja, das war früher ganz, ganz anders. Die Krankheit hat mich psychisch sehr verändert. Aber jetzt werd ich erstmal den Tee aufbrühen."
Der Tee ist fertig und wir gehen ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch stapeln sich Bücher, an den Wänden stehen Regale voller CDs, in der Ecke ein Klavier. Stolz zeigt Thomas Kliche auf die Teetassen auf dem Tisch. Darauf die Unterschrift von Giacomo Meyerbeer. Wo auch immer man hinsieht, entdeckt man in diesem Raum Musik.
"Ich möchte mir ein Leben ohne Musik gar nicht vorstellen. Als ich angefangen habe, Klavier zu spielen, war ich neun Jahre alt, das war so meine Welt. Da saß ich versunken am Klavier, hab improvisiert, komponiert, hab auch mal ein Gedicht von Goethe vertont (singt) Lang ist's her …" (lacht)
"Als ich die Diagnose HIV-positiv bekam, es war eine sehr glückliche Zeit. Ich war mit meinem Freund zusammen, den ich liebte, er liebte mich, und wir passten zusammen, das harmonisierte. Dann kam dieses HIV oder Aids immer näher. Hast mal irgendwas gehört. Dann plötzlich starb jemand mit Pilzen im Kopf. Es kam immer näher und 1995 gab es dann die Möglichkeit, sich testen zu lassen. Und unsere rührende Hausärztin in Neukölln sagte, Jungs, macht den Test, um den Dingen ins Auge zu schauen. Dieser Tag, der ist noch so präsent, als wenn's gestern gewesen wäre. Es war ein Donnerstag. Und dann eröffnete sie, ja, du bist HIV-positiv. In dem Moment war alles weg. Es gab keine Zukunft, es gab keine Vergangenheit, es gab nur noch Tod."
Meyerbeer, die große Entdeckung
Es ist das erste Mal, dass Thomas Kliche nachdenklich ernst wirkt. Der 75-Jährige wurde im hessischen Wetzlar geboren. 1976 ging er nach Berlin, um hier Schulmusik zu studieren. Er war leidenschaftlich gern Musiklehrer, baute ein Schulorchester auf und leitete einen Chor. Vor fünf Jahren ließ er sich pensionieren. Die Schmerzen aufgrund der Krankheit wurden zu groß. In dieser Zeit entdeckte er seine Liebe für Giacomo Meyerbeer, einer der erfolgreichsten Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts:
"Also, mir war natürlich Meyerbeer keine unbekannte Größe. Und 2007 hatte ich eine neue Schmerzquelle in Form einer Dornwarze, die sich bis zur Knochenhaut durchbohrte. Ich hatte solche Schmerzen, wo ich schon dachte, ich finde mich im Rollstuhl wieder. Nach neun Monaten ärztlicher Kunst war diese Dornwarze geheilt. Sie war weg. Und das war für mich wie eine Neugeburt. Ich hab wieder Leben gespürt, wieder Fröhlichkeit entdeckt. Ich hab dann wieder angefangen zu schreiben.
Ich hatte immer mal so Phasen, wo ich geschrieben habe, Biografisches, über mein Leben, über DAS Leben, über Musik. Hatte dann im Kopf, ich schreibe einen populären Tonsatzführer für interessierte Laien, also Musiktheorie für dich und mich. Und machte irgendwann dann mal 'ne Liste mit Komponisten des 19. Jahrhunderts, die nicht vergessen werden sollten. Otto Nicolai, Friedrich von Flotow, Albert Lortzing, Louis Spohr. Und genau in der Mitte stand Giacomo Meyerbeer. Und ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat. Als wenn sich eine Tür geöffnet hätte, fing ich an, mich mit Leben und Werk dieses Menschen zu beschäftigen."
Thomas Kliche verschwindet kurz im Nebenzimmer und kommt mit einer CD-Box wieder. Er geht zur Musikanlage und legt eine CD ein. Seine Augen leuchten erwartungsvoll:
"Il Crociato In Egitto – das ist die erste Aufnahme, die ich von Meyerbeer bekommen habe. Hat mir mein Freund vor etlichen Jahren zu Weihnachten geschenkt. Und als ich dann das Finale des ersten Aufzuges hörte mit Fernorchester, dachte ich, ach ist das irre. Und jetzt werd ich mal das Ende dieses ersten Aufzuges vorspielen. Und man merkt schon, ja das ist so, hätte auch von Rossini sein können. Ist aber nicht. Jede Note ist von Meyerbeer."
"Das ist Musik zum Tanzen, zum Swingen, ja. " (lacht)
"Ich find das so toll. Die Zypressen in Italien. Das ist Melodie, das ist Erotik, das ist ein Petit Four, das ist einfach grandios. Und gleich steigert sich das Ganze noch mal. Also auch ganz typisch für diese Zeit à la Rossini. Und diese Oper, die ebnete ihm den Weg nach Paris. (singt)
Man kann dazu auch tanzen ... "
Den Kopf voller Ideen
Unbeschwert tanzt Thomas Kliche vor der Musikanlage in seinem Wohnzimmer. Seit 29 Jahren lebt er jetzt mit dem HI-Virus. Er hat ihn als Teil seines Lebens angenommen und seinen Frieden mit dem Virus gemacht. Er hat auch gar keine Zeit, in Selbstmitleid zu versinken. Sein Kopf ist voller kreativer Ideen, Pläne und Projekte. Und immer mit dabei Giacomo Meyerbeer.
Thomas Kliche will zum Beispiel ein zweites Buch über Meyerbeer schreiben und hofft, dass ihm die Zeit dazu noch bleibt. Giacomo Meyerbeer ist für ihn mehr als nur ein Komponist, er fühlt sich ihm seelenverwandt. Wie Meyerbeer fühlte und fühlt sich Thomas Kliche oftmals von der Gesellschaft ausgegrenzt:
"Ich hab mich in vielem auch einfach wieder erkannt. So gerade auch dieses Gefühl von Ausgrenzung, von Stigmatisierung. Zwar er unter anderen Umständen, unter anderen Bedingungen Ausgrenzung erlebt, weil er Jude war. Und ich hab auch Ausgrenzung erlebt, weil ich ein schwuler Mann bin. Also das sind zwei himmelweite Unterschiede, aber vom Gefühl her, von der Intensität her, denk ich mal, ist da kein großer Unterschied."

Der Berliner Musikwissenschaftler Thomas Kliche lebt seit fast 30 Jahren mit dem HI-Virus. In diesem Jahr hat er sein erstes Buch veröffentlicht. "Camacho und das ängstliche Genie: Innenansichten der Familien Mendelssohn und Meyerbeer" ist im Backe-Verlag erschienen. Die 304 Seiten kosten 29,90 Euro.

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