Afrikas Popkultur-Mekka

Wie Nigeria Superstars produziert

23:44 Minuten
Sänger WizKid wirft im Song "Soco" Geld aus einem Auto.
Superstars wie Wizkid bekommen 150.000 Dollar pro Gig, so ein Branchenkenner aus Nigeria. © Screenshot des Musikvideos
Von Georg Milz · 14.06.2018
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Terror, Drogensucht und Armut - so das gängige Bild von Nigeria. Ein ganz anderes zeichnen die neuen Helden der afrikanischen Popkultur: Sie haben Erfolg, sind reich und wollen international expandieren. Es herrscht Goldgräberstimmung in Lagos.
DJs spielen die aktuellen Hits, Champagner Korken knallen, Mädchen tanzen in Bikinis – und auf ihrer Haut sind Bodypaintings in Anlehnung an den Kino-Hit "Black Panther". Geladen zur Pool-Party hat die nigerianische Sängerin Yemi Alade. Sie feiert ihren 29. Geburtstag auf der Dach-Terrasse des Landmark Towers in Victoria Island – das Wirtschaftszentrum von Lagos.
Zur Feier des Tages hat sie sich in einer weißen Stretch-Hummer-Limousine vorfahren lassen. Ein riesiges Ungetüm auf den Straßen, das für die Pop-Diva Nigerias fast schon zum Alltag gehört.
"Ich hatte Anfangs eigentlich nicht vor, Künstlerin zu werden. Jeder weiß, dass die angesehenen Jobs in unserer Gesellschaft Arzt oder Anwalt sind. Ich habe Geografie studiert, als ich plötzlich die letzte Runde einer Talentshow im TV gewann. Das war 2009. Heute ist es deutlich angesehener, Musiker, DJ oder Social-Influencer zu sein. Über Sponsoring-Deals lässt sich viel Geld verdienen. Und Künstler kollaborieren inzwischen mit internationalen Popstars. So sind Songs entstanden, die die Weltöffentlichkeit nicht mehr unter den Tisch fallen lassen kann. Ich sehe für afrikanischen Pop eine rosige Zukunft."

Im Weltzeit-Podcast hören Sie alle Folgen unserer Westafrika-Woche: Terrorfinanzierung in Mali, Hexenverfolgung in Togo, EU-Fangflotten im Senegal.

Künstler wie Yemi Alade sind Teil einer neuen Generation afrikanischer Popstars, die über soziale Medien an den Rest der Welt angebunden sind. Mit ihren Musikvideos und viralen Tanz-Challenges hat sich Yemi Alade eine große Fangemeinde auf dem ganzen Kontinent aufgebaut. Inzwischen füllt sie sogar in Europa Hallen und das nicht mal mehr nur mit Afrikanern aus der Diaspora.
Als afrikanischer Popstar verkörpert Yemi Alade den neuen Lebensstil einer jungen dynamischen digital-vernetzten Mittelklasse, der immer auch an Wohlstand geknüpft ist.
Nigerianische Sängerin Yemi Alade. Mit schwarzem Kopfschmuck.
Nigerianische Sängerin Yemi Alade.© Katrin Gänsler
"Künstler sind Marken oder Produkte, nur dass wir nicht in irgendwelchen Regalen hängen, sondern selbst ein Leben führen. In Nigeria bist du als Popmusiker immer auch Botschafter von ökonomischem Aufstieg. Deshalb investieren viele Künstler ihren Umsatz direkt wieder in ihre Karrieren, um ihr Business am Laufen zu halten. Das ist auch der Grund, warum Nigerias Popmusik heute weltweit so hoch im Trend steht. Statt darauf zu warten, dass sich die Dinge ergeben, haben wir unser Schicksal selbst in der Hand genommen. Auch wenn ich mich selbst leider nicht im 'Shop' erwerben kann."

"Johnny" ist meistgesehenes Video Nigerias

Yemi Alade spiegelt in ihrer Musik die kontrastreiche Lebensrealität von Lagos wider. Nigerias Küstenmetropole ist mit rund 16 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt auf dem afrikanischen Kontinent und Männer haben, wie an so vielen Orten, auch hier oft das Sagen.
Deshalb will Yemi Alade mit ihrer Popmusik gerade Frauen ermächtigen, wie bei ihrem großen Hit "Johnny". Das Musikvideo hat 90 Millionen Klicks und ist das meistgesehene Musikvideo Nigerias. Darin begibt sich ein TV-Reporter in ein Dorf, auf die Suche nach Johnny. Ein Typ, der mehrere Frauen aufreißt, einer einen Heiratsantrag macht und von einer anderen ein Kind erwartet.
"Das ist kein Stereotyp, sondern ein Teil unseres Lebens. Natürlich gibt es auch Frauen, die ihre Spielchen treiben. Mit meiner Musik spreche ich Leute an, die keine Angst davor haben, sich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet in der heutigen Zeit Afrikanerin zu sein. Auch deshalb trage ich natürliche Haare und Kleider aus afrikanischen Stoffen, auch wenn das auf Instagram nicht gerade als fortschrittlich-urban gilt."
Anders als die meisten Popstars von Lagos lebt Yemi Alade bis heute auf dem Festland, zwar in einer abgeschlossenen Wohnanlage, allerdings ist sie nicht nach Lagos Island gezogen. Dort tummelt sich die High Society in schicken Wohnbezirken wie Banana Island oder Lekki.
Yemi Alade ist sich selbst treu geblieben. Die 29-Jährige kann Geschichten aus ihrem Glamour-Leben erzählen, verkörpert aber auch die Kultur der armen Nachbarschaften von Lagos. Ajegunle ist so ein Viertel, das als erste Anlaufstelle dient für alle, die für ein besseres Leben nach Lagos kommen. Bekannte Fussballspieler, Musiker, Maler und andere Kreative sind in solchen Armenviertel der Stadt groß geworden.

Wo Banditen Künstlern helfen sollen

Der Sänger Kosere Master sitzt auf einem Plastikstuhl im Eingang eines Musikstudios in Ajegunle und singt ein paar Zeilen seiner Songs. Jugendliche haben sich um ihn versammelt und hören andächtig zu. Einige Blicken fallen auch auf das große Bild eines Mikrofons, das er sich auf die Schultern hat tätowieren lassen.
Sänger Kosere Master vor dem Commercial Sounds Studio in Ajegunle umringt von Jugendlichen.
Sänger Kosere Master vor dem Commercial Sounds Studio in Ajegunle.© Georg Milz
Kosere Master ist einer der angesagtesten Sänger im Viertel, obwohl ihn anfangs niemand unterstützte, erzählt er. Um aufzufallen, überlegte er sich damals etwas Neues: Lobeshymnen auf die "Wahala Boys". So werden in Ajegunle Banditen genannt, die in abgelegenen Straßenecken Minibusse anhalten und den Passagieren Mobiltelefone und Geld abknöpfen.
In einem Song besingt er den Erfolg eines solchen Ganovens: "Eshe na Sharpshooter". Er könne jedem sein Geld abzocken, ohne dass auch nur irgendwer etwas davon mitbekommt. Und davon lande dann auch etwas Geld bei Künstlern, meint Kosere Master.
"Es kann schon vorkommen, dass Künstler aus Ajegunle die Namen von Gangstern in ihren Songs besingen. Ich kann das auch verstehen. Schließlich kümmern sie sich um Musiker wie uns, geben Geld, nicht wie die Politiker, die sich immer nur selbst bereichern. Sie sind großzügig und geben dir auch zu verstehen, dass sie dir noch mehr geben würden, wenn sie noch mehr erbeutet hätten."
Das Viertel Ajegunle ist ein hartes Pflaster, man könnte es auch als Kingston von Lagos beschreiben. Nirgendswo sonst werden die Kontraste der Stadt so deutlich wie hier: Ziegen grasen auf Plastikmüll, daneben spielen Kinder, Jugendliche verfallen der Drogensucht, es kommt immer wieder zu Ausbrüchen von Krankheiten wie Cholera oder Tuberkulose. Auch deshalb machen die Einheimischen gerne einen weiten Bogen um das Viertel.

Ajegunle ist die Wiege der nigeranischen Popmusik

Und dennoch ist hier in den frühen Nuller-Jahren ein Musikstil entstanden, der Nigerias Popmusik bis heute prägt. Elemente des Dancehall, HipHop und lokalen Stilen wie Apala, Afrobeat und Pidgin English wurden mit Einflüssen religiöser Musiker kombiniert, erzählt Studiobetreiber und Pop-Pionier Ayangba:
"Hier in Ajegunle hat die Unterhaltungsindustrie Nigerias ihren Anfang genommen. Da kannst du jeden fragen. Die großen Jungs, die heute mit Musik viel Geld verdienen, spielen aber nicht mehr unsere Musik, die immer auch eine Protestmusik war. Allerdings haben sie hörbar unsere Styles, den Slang und unsere Tänze abgekupfert. Aber den wahren Spirit kannst du nur hier bei uns erleben. Wir haben uns die Originalität bewahrt."
Ajegunle liegt etwas abseits des Zentrums von Lagos am Wasser und war immer ein Transitbereich. Wer Erfolg hatte mit der Musik, machte sich meistens schnell aus dem Staub. Wer zurück blieb, für den änderten sich die Lebensbedingungen deshalb kaum. Auch Kosere Master hat inzwischen einen Zweitwohnsitz auf Victoria Island bezogen und ist so nicht mehr der täglichen Rushhour ausgesetzt, die in den Morgenstunden die ganze Stadt lahm zu legen scheint.

Fließbandarbeit in Nigerias Traumschmiede

Clarence Peters sitzt auf einem schwarzen Ledersessel mit Rollen: Sein Chefschneide-Platz in einem voll-klimatisierten Wohnhaus, das gleichzeitig das Hauptquartier von "Capital Dream Pictures" ist. Die Traumfabrik des Kontinents. Er beschreibt gerne die Herausforderungen, die mit seinem Arbeitsalltag verbunden sind.
"Das Leben eines Lagosian beginnt um 4:30 Uhr, vor allem wenn du auf dem Festland lebst und auf der vorgelagerten Insel arbeitest. Du stehst auf, betest zu Gott, bügelst deine Sachen und ziehst los, durch den urbanen Dschungel, um deinen Bus zu erwischen. Denn solltest du um 6:30 Uhr immer noch auf dem Festland feststecken, bist du geliefert und wirst die nächsten drei Stunden im Stau verbringen und zu spät deiner Arbeit kommen, dein Boss könnte dich feuern. Deshalb siehst du den Leuten in den Morgenstunden den Stress auf die Stirn geschrieben und an den großen Bushaltestellen kommt es alle fünf Minuten zu einer Schlägerei."
Auf Clarence Peters Schreibtisch sind zwei Fachbildschirme aufgestellt und an der Wand dahinter ist ein überdimensional großer LED-Screen. Clarence Peters ist der Musikvideo-Guru Nigerias. Er stammt aus einem gehobenem Elternhaus, hat in Südafrika Film studiert und sich in Lagos ein Imperium aufgebaut.
Sein Treppenhaus ist tapeziert mit Fotos der nigerianischen Popmusik-Helden. Momentan ist das "Wizkid" – ein Sänger, der zusammen mit dem kanadischen Superstar Drake 2016 einen Song produzierte, der zum zweitmeist gestreamten Song auf Spotify wurde – mit satten 1,5 Milliarden Aufrufen. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn "Wizkid" im seinem letzten Video von Clarence Peters auf der Ladenfläche eines Lieferwagens steht und Geldscheine heraus wirft.
"Es geht mir nicht darum, große Kunst zu machen. Ich werde dafür bezahlt, dass ich dafür sorge, dass meine Klienten mehr Geld verdienen."
Ein Blick ins Nebenzimmer, wo vier Computer und zwei Stockbetten aufgestellt sind, und einiges wird deutlich: Die Videos sind Fließbandarbeit, wie ein Mitarbeiter der Special-Effekt-Abteilung bestätigt.
"Ich stehe morgens auf und mach mich an die Arbeit. Dann esse ich was und arbeite, bis ich mich wieder Schlafen lege. Mein Privatleben habe ich für den Job an Nagel gehängt."
Über 1000 Songs hat Clarence Peters mit seinen rund 20 Mitarbeitern inzwischen verfilmt. Jede Woche kommen zehn neue dazu. Für umgerechnet bis zu 10.000 Euro kann man sich bei ihm als Gewinner der Globalisierung inszenieren lassen.
In Europa wäre vergleichbare Qualität deutlich teurer, klar, Arbeitskraft ist in Nigeria nicht das Problem und die Künstler, die auch ein Video aus dem Hause Peters wollen, stehen Schlange, denn seine Videos knacken spielerisch die eine Millionen Klick-Marke auf YouTube und treiben so den Marktwert der Musiker, oder "Brands" wie Peters zu sagen pflegt, in die Höhe.
"Es ist klar, dass Afrikas Popstars in erster Linie den afrikanischen Markt bespielen. Superstars wie 'Wizkid' bekommen hier 150.000 Dollar pro Gig. Das ist viel lukrativer, als dem internationalen Markt hinterher zu hecheln. Natürlich stellen die Künstler sicher, dass internationale Labels mitbekommen, dass ihre Band gerade durchstartet – und dass da noch Potenzial für Wachstum ist, dass man offen ist für Werbeverträge. Ich schere mich nicht um den Markt in Amerika. Frankreich ist da schon interessanter. Mit Europäern lässt sich besser Business betreiben. Außerdem gibt’s dort mehr Afrikaner, die als Konsumenten bereit stehen."

Musikfestival soll "hochkorruptes System" verändern

Afrikas Popstars brauchen heute Europa oder die USA zwar nicht mehr. Allerdings fehlt es der Musikindustrie Nigerias bisher noch an der nötigen Infrastruktur und dem Knowhow, um die neue Generation an Pop-Interpreten auch für ein internationales Publikum aufzubereiten und über Tourneen erfahrbar zu machen. Für lukrative Werbeverträge und hochbezahlte Shows in Afrika reicht es allemal, wenn man mit knalligen Musikvideos und über die sozialen Medien zum Social-Influencer aufsteigt.
Dem Sänger Ade Bantu ist das zu wenig. Der Deutsch-Nigerianer sitzt in seinem Jeep und fährt über die 3rd Mainland Bridge, einst die längste Autobrücke des Kontinents, die Lagos Island mit dem Festland verbindet. Einmal die Woche geht es zur Bandprobe in Ikeya. Er kam vor zehn Jahren zurück aus Köln in die 16-Millionen-Metropole an der Lagune und hat sich als Musiker und Juror einer Talentshow im Fernsehen mühsam einen Namen erarbeitet.
Seit fünf Jahren betreibt er das Musik-Festival "Afropolitan Vibes", vor allem, um junge Talente zu fördern. So ist ihm in Lagos gelungen, was Nigerias Popstars bisher in Europa nicht schaffen: Eine gebildete Mittelklasse anzusprechen.
Ade Bantu bei der fünften Ausgabe seines Festivals "Afropolitan Vibes" in Nigeria.
Ade Bantu bei der fünften Ausgabe seines Festivals "Afropolitan Vibes" in Nigeria.© Georg Milz
"Ich will die Gesellschaft verändern, in dem ich hier vor Ort mitmische, und das ist eine kleine Herausforderung. Es gibt ständig Stromausfall, dafür habe ich einen Generator, dafür habe ich eine Solaranlage, es gibt kein Wasser, dann kaufe ich halt Wasser oder ich habe eine Bohranlage, es gibt immer Lösungen. Ich erwarte nichts von einem Staat, weil ich in einem System bin, das hochkorrupt ist, in einem System, das durch 50 Jahre von perversen Militärdiktaturen komplett ausgebeutet worden ist und wir sind gerade dabei, uns selbst zu finden, und das sind halt die Schwierigkeiten bei der Selbstfindung."
Ade Bantu hat sowohl künstlerisch als auch von der Professionalität für Live-Konzerte einen neuen Standard in Lagos gesetzt, einer Stadt, in der die Soundqualität zeitgenössischer Musik in den letzten Jahren einen gewaltigen Sprung erlebt hat. Sie kann inzwischen sogar internationalen Pop-Produktionen das Wasser reichen, und ist somit nicht mehr nur für ein Publikum der Weltmusik interessant, sondern hat das Potenzial, auch Trends in der internationalen Popmusik zu setzen.
Eine aufregende Zeit für Musiker wie Ade Bantu, der mit seinem Festival dazu beitragen möchte, dass neben dem Erfolg des kommerziellen Sounds Nigeria auch erneut ein Bewusstsein für den Wert handgefertigter Musik einsetzt.
"Für mich war das schönste Orlando Julius, ein Veteran, ein Künstler, der fast in Vergessenheit geraten ist in Nigeria. Ihn auf meinem Festival zu haben und zu sehen, wie die jungen Leute auf ihn reagiert haben und einige seiner Songs erkannt haben. Das war für mich unbezahlbar. Und dann noch die Workshops. Wenn ich sehe: Junge Leute, die nach Wissen streben, die danach hungern und viele Fragen stellen in den Songwriting Workshops, in den Beatmaking Production Workshops. Da weiß ich, ich bin auf dem richtigen Weg."
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