Abstauber der Wende

10.02.2010
"Helmut Kohl. Virtuose der Macht" hieße besser "Der Kanzler der Einheit". Denn es sind vor allem die elf Monate zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, in denen Schwan und Steininger den Bundeskanzler als entschlossenen, auf internationalem Parkett verblüffend sicheren Staatsmann zeigen. Kohls Aufstieg in Mainz samt innerparteilichen und innenpolitischen Verwerfungen wird eher summarisch präsentiert, für die Jahre nach 1990 bleiben wenige Seiten.
Als Energiebündel, Organisationstalent und CDU-internen Aufmüpfigen mit überragendem Talent zum Strippenzieher kann man den jungen Helmut Kohl auch in anderen Werken gut (oder besser) kennenlernen. Schwan und Steininger erledigen die frühen biographischen Kapitel souverän, aber nahezu pflichtmäßig, als wären für Kohl fast 40 Jahre Politik eigentlich bloß die Vorbereitung auf 1989/90 gewesen.

Plötzlich gerät der bis dato eher schwache und umstrittene Kanzler auf weltgeschichtliches Terrain – und die Autoren begleiten ihn dort freudig. Sie lassen lange Zitate aus Kohls "Erinnerungen" unkommentiert einfließen und übernehmen weitgehend die schicksalhafte Kohl-Perspektive auf den deutschen Einigungsprozess. "Kohl spielt das Spiel seines Lebens – mit hohem Risiko", hatte Sir Christopher Mallaby, der britische Botschafter in Bonn, 1989 geschrieben. Schwan und Steininger fiebern mit bei diesem Spiel und zollen Kohl für das Ergebnis tiefen Respekt.

"Historischer Augenblick", "großer Moment der Geschichte" – mit solchen Begriffen reichern die Autoren ihren Text fast genauso stark an wie Kohl seine berühmten Reden. Kohls Freundschaft mit Ronald Reagan und George Bush wird plastisch und mit sprechenden Anekdoten dargestellt; Margret Thatcher erscheint ausschließlich als verbohrte Feindin der Deutschen ("erschreckende Einzelheiten" fanden die Autoren heraus). Deutlich wird, dass Francois Mitterrand ein taktisches Doppelspiel betrieb und sich gegenüber Kohl vereinigungsfreudiger zeigte als gegenüber den Alliierten. Michail Gorbatschow erscheint nahezu rückgratlos und willfährig.

Während das weltpolitische Panorama so präzise wie kenntnisreich ausgeleuchtet wird und sich die ungeheuere Spannung der Prozesse überträgt, bleibt die innenpolitische Seite des Einigungsprozesses eher im Dunkeln. Immerhin, unter den vielen Stimmen zum Ruhme Helmut Kohls darf ein Erhard Eppler mokant bemerken: "Ich glaube, er hat ein Abstaubertor geschossen."

Schwan und Steininger schreiben auf der Grundlage eines langen Kohl-Interviews und der Durchsicht von Dokumenten aus westlichen und östlichen Archiven, aber ihr Buch entwirft weder ein vollständiges Bild des bundesrepublikanischen Politikers der 80er-Jahre (der den sozialen und gesellschaftlichen Wandel nicht gestaltete) noch des Europäers und auch nicht des Menschen Helmut Kohl. Dass es nach der Spendenaffäre, dem Streit mit Schäuble und Merkel, dem Freitod von Ehefrau Hannelore und der neuen Ehe mit Maike Richter um Helmut Kohl so einsam geworden ist – das referieren die Autoren mit einer gewissen Beklemmung.

Als Biografie ist das Buch unausgewogen, an der überzeugenden Darstellung der Wendezeit als Weltereignis ändert das aber nichts.

Über die Autoren: Dr. phil. Heribert Schwan war Redakteur beim Deutschlandfunk und beim WDR. Er schrieb als Autor und Co-Autor u. a. Biografien über Richard von Weizsäcker, Oskar Lafontaine und Erich Mielke und erhielt für seine Filme nationale und internationale Preise, darunter den Grimme-Preis für "Die verdrängte Gefahr".
Der Historiker Rolf Steininger ist Universitätsprofessor und leitet seit 1984 das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Er erhielt 2007 einen Ruf an die Universität Bozen. Steininger publiziert vor allem zur neueren Geschichte Deutschlands, Österreichs, Israels und der USA.


Besprochen von Arno Orzessek

Heribert Schwan und Rolf Steininger: Helmut Kohl. Virtuose der Macht
Artemis & Winkler, Mannheim 2010
gebunden mit Schutzumschlag, S/W- und Bunt-Fotos
336 Seiten; 19,90 Euro