Absolution vom Dichter-Kollegen

Von Jochen Stöckmann · 01.05.2006
Der Dichter des Deutschlandliedes, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, betreute vom 1. Mai 1860 bis zu seinem Tode 1874 die Bibliothek im Schloss Corvey. Dort werden seit 2002 in Gedenken an den Dichter Reden zur Lage der Nation gehalten, die "Verbindungen zwischen Hoffmanns Werk und der Gegenwart herstellen" sollen. In diesem Jahr war der Preisredner der Lyriker und Sänger Wolf Biermann.
Nie zuvor hat Wolf Biermann, der große Heine-Jünger, sich mit dem von seinem Hausgott als "Tendenzpoeten" geschmähten Hoffmann von Fallersleben beschäftigt. Nun aber war die Ehrung im Schloss Corvey bei Höxter Anlass für den aus seinem sozialistischen Vaterland DDR vertriebenen Barden, den Dichter des Deutschlandliedes als Kollegen zu betrachten, als heimatlosen Liedermacher:

"Hoffmann schrieb ausgerechnet sein heikles Schicksalslied der Deutschen, diese so ideal missbrauchbare Zeile 'Deutschland, Deutschland über alles' im Ausland, fern der Heimat, 1841 im Urlaub auf der damals noch britischen Fischerinsel Helgoland. Er verkaufte seinen frischen Fang für französisches Geld - Louis d’Or - an seinen Hamburger Verleger Campe."

Die weitere Geschichte war schnell umrissen: Das "Deutschlandlied" als Schlachtgesang im Wortsinne beim Massensterben im Ersten Weltkrieg vor Langemarck. Reichspräsident Ebert, der Hoffmanns Zeilen und Haydns Musik zur Hymne der Weimarer Republik erklärt. Der politische Kuhhandel zwischen Kanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss, um 1952 wenigstens die dritte Strophe für die junge Demokratie zu retten, nachdem das Lied von den Nazis missbraucht und geradezu geschändet worden war: Die dritte Strophe mit der Zeile "Einigkeit und Recht und Freiheit" war verboten, beim Absingen des ersten Verses mit anschließendem Horst-Wessel-Lied wurde die Hand zum Hitler-Gruß erhoben. Genau das aber unterließ Biermanns Vater, ein kommunistischer Werftarbeiter, in einem Hamburger Ausflugslokal:

"Sofort stürzte ein Herr an ihren Tisch und schnarrte 'Wollen sie gefälligst der deutschen Hymne die Ehre erweisen!' Mein Vater schnarrte im nachgeäfften Offizierston zurück 'Stören Sie gefälligst nicht die Zeremonie! Das regeln wir noch.' Der Herr verließ verwirrt den Tisch."

Diese kleinen Triumphe gegen den alltäglichen Terror der "Volksgemeinschaft" waren selten. Und im Konzentrationslager Auschwitz musste der Dichter des Deutschlandliedes herhalten für einen grausamen Sterbegesang jener Häftlinge, die es gewagt hatten auszubrechen:

Biermann: "Die Häftlingskapelle musste dann Hoffmanns Lied spielen 'Alle Vögel sind schon da'. Die Gepeinigten selber mussten in dieser Zeremonie laut singen 'Frühling will nun einmarschiern…' Einmarschiern! …. Er brauchte einen Reim. Und dann muss es einmarschiern heißen - reim Dich oder ich schlag Dich tot."

Für den Sohn einer jüdischen und kommunistischen Familie hat Hoffmann von Fallersleben und sein "Hit", wie Biermann das Deutschlandlied in gewohnt schnoddriger Art nennt, nie etwas Gutes oder gar Angenehmes bedeutet. Aber nun, mit der Inschrift "Einigkeit und Recht und Freiheit" auf der Hoffmann-Plakette am Revers, erteilt er dem Dichterkollegen seine Absolution:

"Hoffmann verhielt sich tapfer nicht nur gegen die deutschen Despoten. Sondern - noch gefährlicher - auch gegen all die teutschen Untertanen, ohne deren Trägheit und Feigheit die verhassten Fürsten längst ihre Macht verloren hätten. Die Tapferkeit gegenüber dem Pack ist noch gefährlicher als die Tapferkeit gegen die Oberen. Diese Lektion habe ich gekriegt - immer wieder."

Diese Lehre bewahrt Biermann, den allen Parteiströmungen abholden Menschenfreund, nicht davor, sich sogleich beim hoch vermögenden Honoratiorenpublikum im Kaisersaal lieb Kind zu machen: Die Preissumme von 3000 Euro nämlich stiftet er für eine humanitäre Organisation - deren Anliegen er mit einem gar nicht wackeren Seitenhieb auf einen längst um seinen Kanzler-Thron gekommenen Politiker verbindet:

"Deutsch-kaukasische Gesellschaft. Kaukasus - Tschetschenien - Moslems - Putin - Völkermord. Ist Putin ein Völkermörder? Oder ist er, wie sein Handelskompagnon, sein Ganovenfreund … Habe ich einen Namen genannt?""

Aber wie ist es denn um den einstigen Sozialisten Biermann bestellt, der jetzt bei einem veritablen Aristokraten, dem Erbprinz von Ratibor und Corvey, zu Gast ist? Kein Problem, denn "Euer Durchlaucht" - oder immerhin deren Vorfahren - haben den in Breslau der Universität verwiesenen Demokraten Hoffmann von Fallersleben als Bibliothekar in Lohn und Brot genommen:

Biermann: "Was die Franzosen an Heine gut getan haben, hat der an Hoffmann von Fallersleben gut getan, indem er ihm diesen Job beschafft hat. Ein Glück, auch für Sie heute, sonst hätten Sie nicht eine so bedeutende Bibliothek hier."

Da zeigt sich Biermanns wahrer Kern, da punktet der Dialektiker. Und so plädiert er denn auch für Bertolt Brechts "Kinderhymne" als neue Nationalhymne des vereinigten Deutschland. "Anmut sparet nicht noch Mühe … dass ein gutes Deutschland blühe" heißt es da. Dann wendet Brecht Hoffmanns geflügeltes Unwort Deutschland über alles in der Welt in die Verse:

"Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein."


Hört sich fast vertraut an - und würde doch eine Zäsur der "Nachkriegszeit" bedeuten:

Biermann: "Brecht widersprach dem aggressiven Selbstmitleid vieler Deutscher nach dem Krieg. Solche allzu flotten Umlerner tönten nun in Deutschland: Wenn wir also nicht mehr auserlesen sein dürfen, dann wollen wir nun wenigstens in der Schande unserer Niederlage auserlesen sein, tief, tief unter allen Völkern."