Abgründe unserer Existenz

07.10.2013
Korsische Nationalisten ermorden einen jungen Marokkaner, nachdem dieser seine Schwester vor ihren Anzüglichkeiten schützen wollte. Jérôme Ferrari rekonstruiert im dritten Teil seiner Korsikatrilogie diesen Mord und zeigt die Mörder als geltungssüchtige, selbstherrliche Aktivisten.
Der "Balco Atlantico" ist eine in Fels geschlagene Küstenstraße, die sich von der marokkanischen Hafenstadt Tanger südlich nach Larache zieht. Die Geschwister Khaled und Hayet sind dort häufig spazieren gegangen, haben das Meer betrachtet und sich vorgestellt, die "flüssige Mauer" eines Tages zu überwinden und an einem unbekannten Ort ein freies Leben zu führen. Sie kamen bis Korsika. Hayet spült die Gläser in einer Dorfbar, ihr Bruder wusch Teller in einem Restaurant. Als er sie gegen Anzüglichkeiten eines Kunden verteidigte, nahmen ihn zwei korsische Nationalisten ins Visier.

Sie liquidierten ihn und einen anderen Marokkaner, der sich in der Wohnung des Opfers aufhielt. Da man am Tatort Haschisch fand, empörte sich kaum jemand öffentlich über den Doppelmord. Tagebuchartige Monologe der Geschwister, deren jämmerliche Lebenswirklichkeit die Ideologen der korsischen Unabhängigkeit völlig ausklammerten, setzt Jérôme Ferrari wie Sprengkapseln in das narrative Gewebe. Der 2008 verfasste Roman, in dem er vier Morde rekonstruiert, markiert den Anfang der 2012 abgeschlossenen Korsika-Trilogie. "Balco Atlantico" ist ein kompositorisches Meisterwerk.

Ferrari schärft unseren Sinn für lügnerische Konstrukte, mit denen gewalttätiges Verhalten damals wie heute verbrämt wird. Scharf attackiert er die Verblendungen korsischer Nationalisten. Mal lässt er sie als überschwängliche, selbstherrliche "Alchimisten" auftreten, die "formlose Spuren" zu geschichtlichen Erinnerungen erklären und diese in billigen Broschüren als kollektives Erbe verankern wollen; mal demaskiert er Aktivisten als pathologisch geltungssüchtige "Hexer", die, wenn sie mit Strumpfmaske und Sturmgewehr in der Macchia posieren, vor allem Frauen imponieren wollen.

Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari
Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari© dpa / picture alliance
Derbe Dialoge und hochtrabende Reden
Ferrari ruft die Zeit zwischen 1985 und 2000 wach, als "Brudermorde" die Insel in Todeszonen aufsplitterten und viele Korsen nur noch bewaffnet aus dem Haus gingen. Man stand auf der Insel "an der Schwelle zum Krieg". Es war die Stunde derjenigen, die unentwegt "vom Heil der Volksidentität" schwätzten, "widerliche Worthülsen" wiederkäuten und sich in "Monumente der Böswilligkeit" verwandelten. Wer Mord kategorisch verurteilte, riskierte selber ein Opfer zu werden.

Zum Erzähler bestimmt Ferrari einen beruflich wie privat gescheiterten Ethnologen, der nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik vom französischen Festland auf die Insel zieht und viel Zeit in der Kneipe der Marie-Angèle Susini verbringt. Er ist das alles registrierende Auge und Ohr. Ihm werden Beobachtungen und Vermutungen zugeflüstert, und so schwillt das Gedächtnis des Erzählers an und mutiert zu einer "riesigen Zufluchtsstätte, voller Verratener und Verstoßener".

Jérôme Ferrari ist offenkundig fasziniert von der schieren Unendlichkeit des "Gedächtniswuchers", doch versteht er es eben glänzend, Breschen zu schlagen: Gedanken- und Erinnerungsströme zu kanalisieren, und dies in wechselnden Tonlagen. Er schreibt derbe Dialoge und hochtrabende Reden, ersinnt exaltierte Liebesbeschwörungen und zerreibt Lebenslügen. Gebannt und erschüttert sinnt man den tödlichen Dramen nach, die er am Rand Europas, in der ärmsten Region Frankreichs, aufgelesen hat.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Jérôme Ferrari: "Balco atlantico"
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2013
168 Seiten, 19,95 Euro
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