"A Portuguesa"

Von Tilo Wagner · 05.10.2010
Nach Frankreich und der Schweiz war Portugal die dritte Republik in Europa. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Republikanismus als stärkste Modernisierungsbewegung auf den Machtwechsel hingedrängt.
Immer wenn Portugals Nationalelf ein Fußball-Länderspiel austrägt, schallt ein Lied aus den Fernsehern in die Wohnzimmer: Es wurde vor 100 Jahren von siegreichen Revolutionären in den Straßen Lissabons gesungen. "A Portuguesa" – die heutige Nationalhymne, die Hymne der Republikaner, die am 5. Oktober 1910 die Monarchie stürzten. Dass sich Text und Musik an der Marseillaise orientieren, ist ein direkter Bezug zur Französischen Revolution, deren Ideale die portugiesischen Republikaner stark beeinflussten.

Für die Historikerin Maria Rollo, die Mitglied der Kommission für die 100-Jahr-Feier ist, bedeutet der 5. Oktober nicht nur den Beginn der ersten portugiesischen Republik:

"An diesem Tag geht eine Bewegung zu Ende, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatte. Der Republikanismus hatte nach der Gründung der republikanischen Partei 1876 an Bedeutung gewonnen. Viele waren mit der Monarchie und insbesondere mit König Dom Carlos unzufrieden. Und eine politische, soziale und wirtschaftliche Krise hat die Entwicklung noch beschleunigt."

Schon 1891 hatten die Republikaner, die vor allem im städtischen Kleinbürgertum ihre Unterstützer fanden, den Aufstand geprobt. Die nationalistisch geprägten Revolutionäre warfen dem König vor, im Säbelrasseln europäischer Nationen auf dem afrikanischen Kontinent die Interessen der Kolonialmacht Portugal nicht zu vertreten. Zudem beschuldigten die Republikaner die Monarchie, Portugal in eine schwere Finanzkrise gesteuert zu haben. Nach der Niederschlagung des Aufstands folgten Jahre der Unterdrückung. Presse- und Versammlungsfreiheit wurden eingeschränkt, das Wirken des Parlaments de facto ausgesetzt.

Als die restriktive Gesetzgebung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder gelockert wurde, gewann die republikanische Bewegung an Durchschlagskraft. Der König und sein direkter Thronfolger wurden im Januar 1908 von Freimaurern umgebracht. Der jüngste Sohn des Königs, der erst 18-jährige Dom Manuel II., regierte nun das Land. Er konnte die Republikaner nicht aufhalten. Im November 1908 gewannen sie die Stadtparlamentswahlen von Lissabon. Im April 1909 beschloss ihre Partei, die revolutionären Bestrebungen aktiv zu unterstützen. Dennoch war die Revolution am 5. Oktober 1910 kurzfristig gefährdet. Miguel Bombarda, Psychiater und Revolutionsführer, wurde am Vorabend von einem Patienten ermordet; und Candido dos Reis, ein rebellierender Marineadmiral, beging Selbstmord, weil er die Revolution verloren glaubte. Der Zufall spielte schließlich den Republikanern in die Hände und beteiligt war ein deutscher Diplomat:

"Der deutsche Konsul in Lissabon wollte einen Waffenstillstand erreichen, damit die Diplomaten aus der umkämpften Stadt flüchten konnten. Die Republikaner nutzten den Moment, um im Volk bekannt zu machen, dass sie die Revolution gewonnen hätten. Und tatsächlich, wenig später war es dann soweit."

Portugal wurde damit – nach Frankreich und der Schweiz – zur dritten Republik in Europa. Doch die Probleme waren kaum zu bewältigen: Eine brach liegende Landwirtschaft, große Armut auf dem Land, unterentwickelte Industrie und eine Analphabetenquote von über 70 Prozent. Die Republikaner drängten auf Modernisierung, aber ihr radikaler Versuch, das tief katholische Portugal gewaltsam aus dem Einflussbereich der Kirche zu reißen, brachte ihnen mehr Feinde als Freunde. Die Folge waren politische Instabilität und Gegenputsche.

1926 scheiterte die erste Republik. Militärs, die António de Oliveira Salazar als Finanzminister einsetzten, übernahmen die Macht. Salazars Diktatur blieb bis zur Nelkenrevolution 1974 bestehen. Die Revolutionsgeschichte wurde unterdessen totgeschwiegen. Das sei noch heute spürbar, sagt die Historikerin Rollo:

"In Portugal herrscht eine große Unkenntnis über die Geschichte der Republik. Kaum einer assoziiert mit der ersten Republik unsere Nationalflagge, die Hymne, die Einführung des Standesamtes, die Glaubensfreiheit, die Trennung zwischen Staat und Kirche, den Ersten Weltkrieg oder das Aufkommen der spanischen Grippe."

Der 5. Oktober ist seit über 30 Jahren Feiertag in Portugal. Zur 100-Jahr-Feier wünschen sich die Kommissionsmitglieder, dass endlich nicht mehr nur die politische, kulturelle und intellektuelle Elite der Republik gedenkt, sondern der Tag zum echten Volksfest wird.