A. Böhm: "Das Ende der westlichen Weltordnung"

Reisen durch eine wirre Welt

Cover von "Das Ende der westlichen Weltordnung", ein Sicherheitsbeamter am Ufer des ausgetrockneten Garowe-River in Somalia.
Somalia war eines der Ziele, das Andrea Böhm auf ihrer Suche nach den Randregionen der westlichen Weltordnung besucht hat. © Pantheon Verlag / dpa / Anna Mayumi Kerber
Von Marko Martin · 07.10.2017
Inspiriert von der Weltkarte eines venezianischen Mönches aus dem 15. Jahrhundert ist die Journalistin Andrea Böhm an dort verzeichnete Orte gereist. Eine ihrer Fragen: Manifestiert sich dort das Scheitern der westlichen Weltordnung?
Im 15. Jahrhundert zeichnete ein venezianischer Mönch namens Mauro eine Weltkarte, auf welcher der amerikanische Kontinent selbstverständlich noch nicht verzeichnet war und auch die Raum-Relationen zwischen den anderen Kontinenten im Vagen blieben. Das Verblüffende, ja Schöne daran: Bruder Mauro wusste um das Limitierte seines damaligen Weltbildes und versah die Karte mit hunderten Kommentaren und kleinen Geschichten über das, was man seinerzeit schon wusste über ferne Orte wie Mogadischu, Kanton, Bagdad und das östliche Mittelmeer.
Fasziniert von diesem Papier, das noch heute - über ein halbes Jahrtausend später - in einem Museum in Venedig zu betrachten ist, macht sich die "Zeit"-Auslandsjournalistin Andrea Böhm auf dem Weg, um eben jene Orte aufzusuchen. Nicht zu Unrecht vermutet sie bereits zu Beginn ihrer Reise, dass sich dort das Scheitern - oder auch nur die pure Abwesenheit der westlichen Weltordnung - manifestiert.
In der Tat wird sie fündig und beschreibt als versierte Reporterin genau das, was sie als Kommentatorin zuvor nur unzureichend reflektiert hatte. Leser ihres Buchs "Das Ende der westlichen Weltordnung" sollten also nicht vom Prolog auf den gesamten Text schließen, der ungleich erkenntnisfördernder ist als jene übliche Selbstanklage ("Wir in Westeuropa haben vergessen, dass die eigene Existenz manchmal innerhalb eines Sekundenbruchteils von der Normalität ins Chaos kippen kann"), ohne die anscheinend keines der inzwischen en masse veröffentlichten "Ende des Westens"-Publikationen auszukommen vermag.

Verblüffendes über chinesischen Neokolonialismus

In Mogadischu, der Hauptstadt des failed state Somalia, erfährt Andrea Böhm nämlich im gewalttätigen Alltag sehr viel über das desaströs archaische Gegeneinander von Klanstrukturen, während im abgespaltenen Landesteil "Somaliland" Frieden herrscht. Weshalb?
"Vielleicht stehe ich mitten in einem Zukunftsentwurf: Ein Kollektiv von Menschen mit ausgeprägter nationaler und Klan-Identität, alles andere als multikulturell, aber vernetzt mit Exilgemeinden in aller Welt. Somaliland kann sich sogar gegen den Terror abschotten: Klan-Älteste melden, wenn irgendwo Auswärtige in ihren Dörfern auftauchen, wenn jemand nach Waffen fragt oder plötzlich radikale Predigten hält."
Das ist genauso verblüffend wie die Erfahrung von Guangzhou (dem früheren Kanton), wo sich im Viertel "Chocolate City" eine afrikanische Händlerkolonie etabliert hat, die etwa europäische Altkleider und andere Waren über Südchina in den Kongo verschifft. "Doch abgesehen vom Altkleidermarkt kommt der Westen überhaupt nicht vor." Was fehlt, ist auch jede Form moralistischer Heuchelei, geht es dem chinesischen Neokolonialismus in Afrika doch lediglich um Rohstoffe und Geld - eine Camouflage durch vermeintliche "Werte" wird nicht benötigt.

Räsonnements der Autorin

Danach recherchiert die Autorin in Bagdad eine weitere atemberaubende Geschichte: Wie Duke Ellington 1963 in einer dortigen Konzerthalle ein begeistert aufgenommenes Konzert gegeben hatte, Teil einer Soft-Power-Strategie der amerikanischen Regierung, in das sich zwar Kalkül gemischt haben mochte, jedoch die damaligen Augenzeugen noch heute träumen lässt. Im Juli 1979 war dann der gleiche Ort Schauplatz eines per TV übertragenen Massakers: Staatsschef Saddam Hussein ließ die Namen anwesender hoher Politiker verlesen, die als vermeintliche "Verräter" sogleich verhaftet und kurz darauf "demokratisch hingerichtet" wurden.
Gewiss, "der Westen" hatte Saddam dann in den achtziger Jahren Waffen geliefert, um Iran zu stoppen. Aber zeigt dies nicht, dass eine "westliche Weltordnung" bereits seit langem fragmentarisch ist, widersprüchlich agiert und keineswegs permanent "dominiert"? Es bleibt dabei: Die konkreten, oft verstörenden Geschichten in diesem packend geschriebenen Buch verraten mehr über die altneue "Weltunordnung" als manches erwartbare Räsonnement (oder Ressentiment) der Autorin.
Denn was die politisch korrekte Mär von der angeblichen westlichen Dauer-Ignoranz betrifft: Aus welchem Kulturkreis stammte jener skeptische Mönch, dessen Weltkarte zum Auslöser dieser Reise geworden ist, und Zeitungs- und Buchleser welcher Sozialisation möchte Andrea Böhm wohl ansprechen?

Andrea Böhm: "Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Erkundung auf vier Kontinenten"
Pantheon Verlag, München 2017
272 S., 17 Euro

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