800 Jahre Magna Charta

Moderne Verfassungen funktionieren anders

Seltenes Exemplar der Magna Charta, das in New York versteigert wurde.
Die Magna Charta ist 800 Jahre alt. © dpa / picture alliance / Justin Lane
Christoph Möllers im Gespräch mit Nana Brink · 15.06.2015
800 Jahre alt - und immer noch sehr aktuell. So wird die Magna Charta heute von vielen Politikern wahrgenommen. Gerne zitieren sie aus der mittelalterlichen Grundrechteerklärung. Warum diese dennoch nicht als Vorbild für moderne Verfassungen taugt, erklärt der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers.
Es gab ordentlich Zoff zwischen dem König und den Baronen, damals im mittelalterlichen England. Am Ende der Auseinandersetzungen stand 1215 die weltweit erste Grundrechteerklärung, in der sich wegweisende Formulierungen zur persönlichen Freiheit fanden. Allerdings: Nach Meinung des Berliner Rechtswissenschaftlers Christoph Möllers taugt die englische Magna Charta aus heutiger Sicht nur noch bedingt als Vorbild für eine moderne Verfassung.
Anlässlich des 800. Jahrestages der Grundrechteerklärung sagte Möllers im Deutschlandradio Kultur: Wenn man sich etwa die Formulierung hinsichtlich der persönlichen Freiheit anschaue, werde schnell klar, dass es sich um "feudale Regeln" handele, die auf eine exklusive Gruppe – nämlich die Barone - beschränkt seien und andere Bevölkerungsgruppen ausschließe. Damit sei die Magna Charta "eigentlich etwas sehr Vormodernes."
Kein Vergleich mit der UN-Charta
Möllers, der Professor an der Berliner Humboldt-Universität ist, sagte, noch heute würden sich viele Politiker gerne auf die Magna Charta berufen, weil die Formulierung gut klängen "Aber moderne Verfassungen und moderne Grundrechtskataloge funktionieren ganz anders."
Auf keinen Fall sei die Charta der Vereinten Nationen als Weiterentwicklung dieser Magna Charta zu sehen. Denn die UN-Charta sei ein völkerrechtlicher Vertrag. Es gebe heute ein Nebeneinander zahlreicher Menschenrechtsdiskurse, die alle bindend seien und auf ganz verschiedenen Ebenen verhandelt würden – und sich teilweise gegenseitig widersprächen.
Bezogen auf die aktuelle NSA-Affäre meinte Möllers: Es brauche keine spezielle neue Magna Charta für das Internet. Das Besondere an Grundrechten sei ja, dass sie so formuliert werden müssten, dass sie auch neue Entwicklungen wie das Internet mit einschlössen: "Dass man nicht abgehört werden soll, ist uns seit mehreren Jahrzehnten bekannt. Das ist im Grunde keine Frage von Grundrechtsdeutung - das ist eher eine Frage von politischer Asymmetrie. Und die ist schwer zu lösen."



Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Nelson Mandela hat sich ja auf sie berufen, die amerikanischen Gründungsväter ließen sich von ihr inspirieren, und ihre wichtigsten Prinzipien werden heute noch in politischen Debatten, Gerichtssälen und Meinungsspalten heraufbeschworen: Die Rede ist von der Magna Charta – ein einzigartiges Rechtsdokument. Es wurde heute vor 800 Jahren am 15. Juni 1215 besiegelt, und besonders bekannt ist der damals berühmte Artikel 39, ich zitiere ihn mal: "Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden, noch werden wir ihm anders etwas zufügen oder ihn ins Gefängnis werfen lassen als durch das gesetzliche Urteil von seinesgleichen." Nicht zuletzt deshalb gilt ja die Magna Charta als Meilenstein der europäischen Verfassungsgeschichte. Aber hat sie uns heute noch etwas zu sagen? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Christoph Möllers, er ist Rechtswissenschaftler an der Humboldt-Uni, hat dort den Lehrstuhl für öffentliches Recht inne und beschäftigt sich da insbesondere mit Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie. Guten Morgen!
Christoph Möllers: Guten Morgen!
Brink: Bevor wir aufs Heute kommen: Was macht denn die Erfolgsgeschichte der Magna Charta aus?
Möllers: Na ja, wahrscheinlich auch schon ein Missverständnis natürlich. Ich meine, Sie hatten das ja vorgelesen, und diese Norm ist einerseits heute in gewisser Weise noch gültig, weil wir immer noch sagen, dass jemand nur mit einem fairen Verfahren, also einem gesetzten Verfahren festgenommen werden kann, aber auf der anderen Seite, wenn Sie sich den Text noch mal verinnerlichen: Kein freier Mann darf .... er kann nur von seinesgleichen verurteilt werden – das ist natürlich erst mal eine feudale Regel, die sich auf sozusagen eine bestimmte Gruppe bezieht und eigentlich auch nur darauf bezieht, dass die sozusagen gruppenintern gerichtet werden dürfen. Also das ist eigentlich in gewisser Weise auch weniger als das, was wir heute garantieren, und bezieht sich im Grunde auf eine tradifizierte, feudale Gesellschaft, wo sozusagen Edelmänner nur von Edelmännern gerichtet würden
Ein vielzitierter Artikel der Magna Charta
Brink: Also die ganzen Leibeigenen waren damit ja gar nicht betroffen?
Möllers: Nein, von Frauen und so wollen wir natürlich nicht reden. Also es ist im Grunde ja keine demokratische, sondern eine feudale Regel und damit von uns dann auch wieder sehr weit weg. Im Übrigen war es halt ein Vertrag zwischen einem König und seinen revoltierenden Baronen und damit eigentlich etwas sehr, sehr Vormodernes. Dieser Artikel, den Sie eben genannt haben, ist dann viel rezipiert worden in der Glorious Revolution und im 18. Jahrhundert, weil die Formulierung anscheinend gut war, aber moderne Verfassung und moderne Grundrechtskataloge funktionieren dann auch wieder ganz anders.
Brink: Und warum bezieht man dann sich so gerne auf sie, also auf diesen Artikel gerade? Weil das so ein Grundrecht schon mal formuliert hat, auch wenn es feudal war?
Möllers: Ja, natürlich einerseits, weil solche Geschichten immer eine Kontinuität und einen Bruch haben, also weil man natürlich immer Dinge aus anderen Epochen nimmt, die dann umdeutet und die dann passen; sicherlich auch deswegen, weil man gerne alte Sachen zitiert, weil die irgendwie würdiger sind und irgendwie mehr Tradition haben – und das ist noch mal ein sehr, sehr altes Dokument, das viel älter ist als alles andere, was wir in der Grundrechtsgeschichte diskutieren –; und dann wahrscheinlich auch, weil England gerade auch in der Frühneuzeit, also ein paar Jahrhunderte später, noch immer so ein bisschen als Vorreiter der Freiheiten galt, was aber weniger mit der Magna Charta Libertatum zu tun hat als mit den Errungenschaften so des 17., 18. Jahrhunderts, als England einfach der Ort war, wo man in Europa vermutlich am besten geschützt war in seiner Meinungsfreiheit und in anderen Rechten. Und wenn die sich wiederum auf die Magna Charta bezogen, so galt das dann wiederum als Vorbild.
Brink: Ist denn dann die Charta der Vereinten Nationen so etwas wie eine globale Magna Charta, die man dann weitergetrieben hat? Kann man das so sagen? Weil man sich ja da auch immer wieder auf sie bezieht.
Möllers: Ja. Na ja, die Charta selbst ist natürlich eigentlich eher ein völkerrechtlicher Vertrag, der was organisiert, also der sagt: Das sind die Vereinten Nationen, die haben die und die Organe. Was vielleicht besser vergleichbar wäre im Kontext der Charta ist die allgemeine Definition der Menschenrechte, die halt quasi mit der Charta diskutiert wurde und die im Grunde so etwas ist wie ein Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen, Menschen- und Bürgerrechtskatalog, der aber wiederum auch nicht in der Form bindend ist und nicht in der Form sozusagen geschützt ist wie, sagen wir mal, unsere Grundrechte.
Viele Menschenrechtsdiskurse existieren nebeneinander
Brink: Das ist ja interessant, weil damals war es ja bindend, also was die damals vor 800 Jahren ausgehandelt haben, wenn auch nur unter ihresgleichen. Wo verhandeln wir denn heute solche Rechte – weil Sie sagen, also eigentlich ist ja auch diese Menschenrechtskonvention nicht bindend?
Möllers: Na ja, wir haben heute eigentlich ein großes Nebeneinander von Menschenrechtsdiskursen, und mit unterschiedlichen Graden an Bindungskraft. Ich meine als deutsche Staatsbürgerin und Staatsbürger bist du heute geschützt von Landesgrundrechten, von Bundesgrundrechten, von Grundrechten der Grundrechtecharta der Europäischen Union, von Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention, die alle bindend sind, und darüber hinaus noch von vielen völkerrechtlichen Grundrechtsschutzverträgen, die mehr oder weniger bindend sind. Also wir verhandeln diese Dinge tatsächlich auf ganz verschiedenen Ebenen, was vielleicht auch gut ist, weil ich nicht glaube, dass man das alles nur global lösen kann, und gleichzeitig widersprechen sich diese Ordnungen teilweise auch oder haben Koordinationsschwierigkeiten.
Brink: Aber sind denn nicht so was wie Menschenrechte universell? Müsste man die nicht universell dann regeln, also global?
Möllers: Das ist eine im Grunde viel diskutierte und in gewisser Weise auch viel umstrittene Frage, weil auf der einen Seite ist klar: Wenn man sagt, Menschenrecht, dann sagt man, ein Recht, weil jemand ein Mensch ist, und das gilt überall. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass Menschen wahrscheinlich wirklich überzeugend geschützt werden nur, wenn sie Teil einer politischen Gemeinschaft sind. Also für uns ist es wahrscheinlich wichtiger, dass wir in Deutschland sind, als dass wir Teil der UN sind, wenn wir uns mit anderen Ländern wie Russland oder Nordkorea vergleichen, von denen zumindest eins auch in der UN ist und deren Menschenrechte trotzdem schlechter geschützt sind. Also es gehört immer mehr dazu als eine Erklärung. Es gehören immer Institutionen dazu und noch Kontexte, die man so global nicht einfach aufbauen kann.
Brink: Wir haben ja bei der Magna Charta gesehen: Die haben damals vor 800 Jahren etwas verhandelt, was sie natürlich betroffen hat, also davon haben sie eine Lösung gesucht. Müssen wir uns heute im digitalen Zeitalter nicht noch mal neu definieren angesichts der Grundrechte, also von NSA-Abhöraffären? Brauchen wir da so was wie eine Magna Charta des Internets?
Das Internet brauch keine eigene Charta
Möllers: Hm, na ja, ich meine, NSA ist ja wahrscheinlich nicht so ein reines Internetproblem, sondern erst mal ein Problem einer sehr, sehr mächtigen Regierung, die mehr machen kann als andere Regierungen und von der wir in gewisser Weise auch abhängen. Und das ist wiederum vielleicht gar nicht mal so ein Grundrechtsproblem, weil wir wissen ja, wo das Problem liegt. Also wir müssen die Grundrechte nicht neu definieren. Dass man nicht abgehört werden soll, ist uns jetzt im Grunde seit mehreren Jahrzehnten bekannt, also das ist im Grunde keine Frage der Grundrechtsdeutung, das ist eher eine Frage von politischer Asymmetrie. Und das ist schwer zu lösen, nicht wahr. Das ist eher eine Frage, wie man sich selbst politisch so aufstellen kann, dass man gegenüber anderen Staaten irgendwie seine Interessen durchzusetzen vermag.
Brink: Also braucht man das dann Ihrer Meinung nach? Also sollte man die Anstrengung unternehmen?
Möllers: Na ja, die Anstrengung muss man wahrscheinlich schon unternehmen, aber die Anstrengung wird eine sein, wo wir gar nicht so viel über neue Grundrechte lernen wahrscheinlich, als darüber, sagen wir mal, dass die Europäer selbstbewusst gegenüber den Amerikanern werden, dass wir uns fragen, was bedeutet militärisches Engagement? Denn darum geht es ja im Hintergrund bei der NSA-Affäre auch, dass wir von den Amerikanern in unseren Militäreinsätzen abhängig sind und dann deren Informationen brauchen. Wollen wir das? Und wollen wir uns dann mit solchen Wirkungen für unser engeres Leben abhängig machen? Das sind sehr wichtige Fragen, aber vielleicht natürlich Fragen, die nicht so in den Kern der Grundrechtstheorie reinragen. Der Witz an Grundrechten, wenn ich das sagen darf noch, ist ein bisschen ja auch, dass man sie so allgemein formuliert, dass sie auch für Neuheiten offen sind. Man sagt immer, "free speech", aber man meint mit "speech" natürlich alles Mögliche: Radio, Fernsehen, Zeitung, was es vielleicht noch gar nicht gab, als man speech formulierte. Grundrechte schützen halt Freiheit, und was Freiheit ist, definieren wir einfach jeden Tag neu, ohne dass wir deswegen die Grundrechte umschreiben müssen.
Brink: Christoph Möllers, Rechtswissenschaftler an der Humboldt-Uni. Schönen Dank!
Möllers: Ja, ich danke Ihnen!
Brink: Wir haben noch mal zurückgeblickt auf die Magna Charta, die heute vor 800 Jahren in Großbritannien besiegelt worden ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema