70 Jahre nach Buchenwald

Damals nichts gewusst?

Befreite Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald: Ausgemergelte und entkräftete Männer liegen in einer Baracke auf Holzpritschen und gucken in die Kamera.
Entkamen der Todesmaschinerie der Nazis: Befreite Häftlinge im KZ Buchenwald am 16.04.1945. © picture alliance / dpa / DB NARA / Harry Miller
Von Henry Bernhard · 10.04.2015
Jahrzehnte lang gehört der Familie unseres Autors Henry Bernhard ein Schränkchen. Es war im Krieg von Häftlingen des Lagers Buchenwald angefertigt worden. Er begann nachzufragen, was die Anwohner über das Konzentrationslager wussten.
Irgendwann vor ein paar Jahren fragte mich mein Vater, ob ich das kleine Schränkchen haben wolle, was bei uns immer im Flur stand. Ich bejahte, wollte es nicht weggeben, denn es hat fast zur Familie gehört. Oben drauf stand das Radio, rechts unten hinter der Tür ein kleiner Werkzeugkasten, links unten lagen die Hausschuhe. Es war ein massives Schränkchen mit massiven, geschmiedeten Beschlägen. Nie hat auch nur ein Teil daran gewackelt. Nun wollte es mein Vater loswerden.
Aber, so fügte er hinzu, ich müsse wissen, dass es aus Buchenwald stammt. Wir haben damals in Weimar gelebt. Buchenwald, das KZ, war nur zehn Kilometer entfernt, oben auf dem Ettersberg. Ich fragte nach und mein Vater erklärte mir, dass er das Schränkchen von unserem Nachbarn bekommen hatte. Der Mann der lieben Ostpreußin, meiner dritten Oma, der sich mit Magenbitter und Zigarren umgebracht hatte, habe behauptet, im Frühjahr 1945 oben auf dem Ettersberg eine der Offiziersvillen neben dem KZ geplündert zu haben. Nein, dieses Schränkchen wollte ich nicht in meiner Wohnung haben. Ich rief in der Gedenkstätte an.
Dieter Bernhard: "Wollen sie ablegen?"
Wolfgang Röll, damals Leiter der historischen Sammlung, kommt zur Besichtigung in der Wohnung meiner Eltern vorbei.
Wolfgang Röll: "So, ich habe von ihrem Sohn gehört, dass sie einen Schrank haben…"
Bernhard: "Ja, mir ist das so gesagt worden."
Röll: "… oder ein Schränkchen, wie ich hier sehe, aus Buchenwald. Sieht so aus …"
Bernhard: "Was sagen sie?"
Röll: "Es sieht ganz so aus, sage ich. Kennen sie die Geschichte, wie der Schrank zu ihnen gekommen ist?"
Bernhard: "Ja, natürlich kenne ich die! In der Röhrstraße wohnte ich, neben mir ein Ehepaar Nasse; und dieser Herr ist ´45 aus amerikanischer Gefangenschaft sofort wieder nach Weimar gekommen und hat Möbel und alles Mögliche gebraucht, Holz, Lebensmittel, und hat in Buchenwald mit geplündert."
Röll: "Ja. Also, das ist der Machart nach ganz so, als ob es aus den Werkstätten des Lagers stammt. Also, es gab ja verschiedene Werkstätten…"
Bernhard: "Große Ähnlichkeit?"
Röll: "Ja. Also, es gab ja verschiedene Werkstätten, wo die Häftlinge für den Bedarf der SS…"
Bernhard: "Also mit großer Wahrscheinlichkeit …"
Röll: "…als auch für den Lagerbedarf."
Bernhard: "Also mit großer Wahrscheinlichkeit war es für eine SS-Wohnung."
Die Hoffnung, dass es ein Irrtum gewesen sei
Auch, wenn Buchenwald nur zehn km entfernt liegt: Nach Buchenwald fährt man, ganz bewusst. In meiner Schulzeit in der DDR in Weimar für mein Gefühl etwas zu oft zu Propaganda-Aufmärschen. Nun kam Buchenwald zu mir. Die Hoffnung, dass es ein Irrtum gewesen sein könnte, dass der Schrank nichts mit Buchenwald zu tun hat, Wolfgang Röll enttäuscht sie.
Röll: "Aber die Art, wie hier auch diese… Kann ich mal aufmachen? Wie diese Griffe, hier diese schmiedeeisernen Griffe und unten halt… Ziemlich eindeutig. Würde ich sagen, habe ich eigentlich keine Zweifel, dass es…"
"Ziemlich eindeutig", "keine Zweifel" – Buchenwald war meine ganze Kindheit da gewesen. Jeden Tag. Ich hatte es jeden Tag berührt. Die Gedanken um das Schränkchen weiten sich aus: Ob der Tischler, ob der Schmied, der die Beschläge gefertigt hat, überlebt haben. Und ich bin froh, es nicht schon früher gewusst zu haben, als ich noch Kind war. Wie hätte ich damit gelebt? Wie die Anrainer von Buchenwald mit dem Lager gelebt haben, hatte ich sie schon vor Jahren gefragt, wie es war, ein KZ als Nachbarn zu haben. Die meisten von ihnen leben heute nicht mehr. Aber die Aufnahmen gehen mir nicht aus dem Kopf.
Dora Armbruster: "Ich war die erste, die den Buchenwald gesehen hat, von Ottstedt."
Dora Armbruster war 17, als das KZ 1937 errichtet wurde.
Armbruster: "Das war Winter. War´s Winter? Ja, der Schnee lag ganz schön hoch. Wenn war´en das in welchen Jahre? Jedenfalls haben wir noch Getreide gedroschen, im Winter mit... Und da war´mer fertig mit Dreschen, das war so Nachmittag um viere rum, nee, um dreie und es war´ne wunderschöne Landschaft draußen und da haben wir Kaffee getrunken und da sag ich: Wisst ihr was, jetzt hätte ich Lust, mit den Schiern eine Tour durch den Ettersberg zu machen. Da wusst‘n noch nicht, dass da oben was war. Und da sagt der Nachbar, der war älter wie ich: Da geh´ ich mal mit. Die Schier her, die Schier angeschnallt und nauf auf´n Ettersberg, los gingen wir alle beide. Und wie wir da oben waren, auf einmal steht einer mit ´nem Karabiner unterm Arm unter mir und grölt: ´Stehenbleiben, es wird ohne Anruf scharf geschossen.`Du großer Gott, ich sag, was ist denn hier los?"
Dora Armbrusters Schwester Brunhilde Kühnhausen lebt heute noch in Ottstedt am Ettersberg.
Brunhilde Kühnhausen: "Ja, wir haben da dolle Dinge erlebt da oben. Wenn die Hunde bellten und wir waren aufm Feld und die Sirene ging: ´s ist wieder mal ein armer Schlucker ausgerissen, der die Freiheit sucht, sagte Vater. Hm, sagt er, dann hörten wir, wie geschossen wurde. Hm, ja... Dann konnten wir ja auch direkt in den Steinbruch gucken, da am Südhang; das lag wie ´ne, wie ´ne Landkarte vor uns. Konnten wir prima hingucken. Gerade wie jetzt so, die Jahreszeit, da schien die Sonne so schön rein in den Wald."
Dora Armbruster. "In Hopfgarten haben sie einen Häftlingszug bombardiert und die waren alle ausgerissen. Bei uns in Seestellen, das ist ein Stückchen Feld, was hinterm Dorfe ist, was unser eigener Acker war… da hinten sollen auch ein paar liegen, ein paar Juden, junge Kerle. Ich sage: Da gucke ich mal hin, das will ich sehen. Und da bin ich wirklich hinter gelaufen und da habe ich sie liegen sehen alle beide, die hatten sie totgeschossen. Ein paar ganz junge Bürschchen, die lagen in ihren gestreiften Sachen. So lagen sie dort, waren aber tot. Und oben, aufm Feldwege, fuhr ein LKW mit SS besetzt und Hunden und da hielten die an und holten die alle beide."
Brunhildes und Doras Vater bewirtschaftete einen Bauernhof in Ottstedt. Häftlinge aus Buchenwald haben bei ihnen gearbeitet, bei der Ernte geholfen. Billige Arbeitskräfte. Immer streng bewacht.
Brunhilde Kühnhausen: "Da war ein Professor dabei, da waren welche dabei, Bibelforscher dabei, und welche, die hatten einen lila Winkel, als Arbeitsscheue bezeichnet, und so, also, was die da manchmal so reingesteckt haben, sagt mein Vater, das begreife ich nicht... Kluge intelligente Menschen, und die haben natürlich uns gezeigt, was sie auf dem Rücken hatten, die Narben, die Hiebe, die sie gekriegt haben. Mein Vater war der erste, der´s gesehen hat. Der hat ja in der Scheune mit gearbeitet. Und da sagt mein Vater zu dem Posten: ´Ich brauche euch nicht, die Männer reißen mir nicht aus! Bleibt bei den Frauen in der Küche!`Und da blieben sie da; meine Mutter machte immer selber Wein, manchmal haben wir sie sogar betrunken gemacht, die Posten. Die waren einmal so betrunken, dass die nach Feierabend hoch sind und haben bei uns die Karabiner in der Küche stehen lassen. Und da haben die Häftling nachher zu ihren ´Behütern` gesagt: ´Wo habt ihr denn eure Gewehre?` Da sind die im Dauerlauf zurückgekommen. Ja solche Dinge haben wir erlebt."
Also sie wussten – haben die auch erzählt, wie´s drin zugeht?
Kühnhausen: "Ja, ja, ja. Und wir mussten uns Mühe geben, das für uns zu behalten. Die haben uns, die haben zu uns gesagt: Ihr helft uns mehr, wenn ihr still seid und ihr uns jedes Mal, wenn wir hochgehen an unsere armen Brüder da oben..., die vor Hunger nicht mehr laufen können, die krank sind, die zum Teil im Seuchen-Revier liegen, die haben die Häftlinge selber, die auf der Todesliste standen, die eben sterben sollten, die haben die in die Seuchenbaracke gesteckt. Und so haben die sie über´ s Leben gebracht. Und wenn die hochgingen, die waren so, die hatten dann alle so weite, gestreifte Sachen an, als Gürtel ein Strick drum gemacht, da hatte mein Vater so ziemlich dickgedrehte Stricke, und was zwischen Körper und Jacke reinpasste an Lebensmitteln, das haben wir mit hochgeschmuggelt."
"Wir haben doch nichts gewusst"
Die meisten alten Menschen, die ich auf den Dörfern am Ettersberg rings um das KZ Buchenwaldbefragt habe, trugen das "Wir haben doch nichts gewusst". wie einen Panzer vor sich her. Aber wenn man ins Gespräch kam, war das schnell vergessen, dann kamen Geschichten von geschundenen Häftlingen, vom heimlich zugesteckten Brot, von feschen SS-Männern, die den Dorfburschen den Schneid abkauften. Einmal, der Dorfpfarrer hatte eingeladen zum Thema: "April 1945 - Wir erinnern uns", erzählten sie alle durcheinander, wie das war damals, 1938, als der "Führer" im Hotel "Elephant" logierte und seine Jugend draußen auf dem Marktplatz hysterisch schrie.
Kaffeeklatsch
Da hab´ ich auch mit gebrüllt: "Lieber Führe, komm heraus aus dem Elephantenhaus. Lieber Führer, sei so nett, kommt das an das Fensterbrett."
"Das weeß ich nicht... Hast du gerufen?"
"Kann ich mich noch genau erinnern, ich seh´ den noch stehen hier... Das finde ich schauerlich, reicht der Rest nicht auch aus?"
"Also wissen ´se, da denk ich auch immer dran: Das war wie hypnotisiert, musst´mer da mache. Da denke ich immer: Heute will keiner mehr damit zu tun haben, und dazumal hat alles-alles geschrien. Und da danach gab´s keene Nazis mehr. Das kann ich nicht verstehen..."
"Na, wir waren doch in der Schule!"
"Und wer... vielleicht die, die´s erkannt hatten, die Politik trieben, die wussten, wie´s wirklich aussah. Und mir Dummen aufm Dorfe, wir wussten das doch nicht! Und wer nichts dagegen hatte, dem taten sie ja nischt! Nicht, die da mit waren! Eingesteckt sind ja bloß die, die sich geäußert haben..."
"Da kann ich mich genau erinnern. Wie alt bin ich da gewesen? Acht Jahre, acht Jahre."
Auch Erna Rätsch hat mitgeschrien auf dem Marktplatz, bis sich der geliebte "Führer" kurz zeigte. Sie war da schon 28, verheiratet. Ihr Mann bekam wieder Arbeit und sie freute sich, dass Ordnung einkehrte in Weimar und die sogenannten "Arbeitsscheuen" von der Straße verschwanden.
Rätsch: "Wieso verschwanden? In die Arbeitslager kamen... Das haben wir denen gegönnt, weil sie so frech waren, so faul und frech... gestohlen haben, wie jetzt auch... Und da waren wir froh, dass der Ordnung geschaffen hatte. Es war dann ´ne Sauberkeit da; die kamen ins Arbeitslager. Und da haben wir uns gefreut, wenn die ins Arbeitslager kamen. Oder wenn sie in den Höfen sangen oder sowas, oder eben die Bettler und alle: Die waren weg von der Straße und das war schön!"
Und Buchenwald? Wusste sie davon?
Rätsch: "´s war Buchenwald. Es glaubt einem keiner, aber wir haben wirklich nicht gewusst, dass da draußen so´n Lager war. Wir haben´s nicht gewusst. Ich habe das nur gewusst, dass sie eben Wachmannschaften draußen haben und dass da nun Menschen einge-... eben Verbrecher drinne waren und Juden, das haben wir gewusst. Es war eben so und da haben wir´s hingenommen. Ich hatte zwei Kinder zu ernähren, ich musste nebenbei noch arbeiten, es war irgendwie... ohne Interesse. Hauptsache, wir kamen über die Runden mit dem Essen und so... dass die Feuerung da war. Irgendwie nicht gehässig, an sich gleichgültig. Wir haben eben gefolgt, wie wir da hier bei Erichen gefolgt haben, haben wir bei Hitlern gefolgt... Wir sind´s folgen gewöhnt."
So, nun ist es gleich weg, das Schränkchen.
Zurück im 21. Jahrhundert. Ich bin bei meinen Eltern in Weimar. Gleich wird Wolfgang Röll von der Gedenkstätte Buchenwald das Schränkchen aus der Häftlingsschreinerei abholen. Und wir, die Familie, stehen noch einmal um das kleine Möbel, das 30 Jahre unsere Hausschuhe aufbewahrt hatte.
Bernhard: "Irgendwie hat man sich doch dran gewöhnt. Aber ich hab der Geschichte nie Wert beigemessen. Als der Nasse sagte, ´aus Buchenwald`, und der Papa sagte, ´aus Buchenwald`… Tja, das war eben aus Buchenwald. Aber welche Bedeutung das hat, darüber habe ich nie nachgedacht."
Autor: "Ich hab das nie gehört, ich wusste das nicht."
Anneliese Bernhard: "Du hast das nicht gewusst?"
Autor: "Nein, wirklich nicht!"
Anneliese Bernhard: "Gibt’s doch nicht! Aber wir haben oft drüber gesprochen."
Autor: "Also, als ihr ihn gekriegt habt, war ich wahrscheinlich noch zu klein, denke ich mir. Und später habt ihr wahrscheinlich nicht mehr drüber geredet, da war es kein Thema mehr."
Anneliese Bernhard: "Es war eben da! Aber ich bin froh, wenn es jetzt dahin kommt, wo es eigentlich hingehört. Und jetzt möchte ich es eigentlich auch gar nicht mehr; wenn ich weiß, dass das Häftlinge gemacht haben, und den Hintergrund ich mir vorstellen kann, möchte ich es nicht mehr haben. Bisher habe ich damit gelebt ohne Probleme, weil ich mir nie Gedanken gemacht habe. Ich wusste auch nicht, dass es in einer Häftlingswerkstatt hergestellt wurde! Aber jetzt soll es dahin!"

Dora Kühnhausen: "Wann issen das los gegangen? Die Amerikaner kommen! Na früh um zehne. Der Buchenwald ist befreit. Der Krieg ist zu Ende, die Amerikaner kommen! Und da hörte man auch schon die Panzer gerollt kommen."
Die Befreiung Buchenwalds durch die Amerikaner am 11. April 1945 gab 21.000 Häftlingen die Freiheit zurück.
Kaffeeklatsch
"Uns hatten sie alles rausgeholt, die Häftlinge, nicht? Was so nicht niet- und nagelfeste war, haben wir alles hingegeben. "
"Aber wie ist denn das genau passiert? Also wenn ich mir das vorstelle, ich mein, sie haben ja gewusst, dass da ein Lager...?"
"Nu freilich, ham mir das gewusst."
"Und da kam, war das ´ne richtige Menschenlawine, die da ankam? Oder ging das so nach und nach?"
"Ach, so schlimm war´s gar nicht."
"So Scharen, gelle?"
"Da kamen immer so Truppe."
Die Tage nach der Befreiung
Noch einmal bei den alten Damen in der Pfarrerrunde in Hottelstedt am Ettersberg. Sie erinnern sich an die Tage nach dem 11. April, an die Zeit nach der Befreiung Buchenwalds, als die Angst umging, dass die Häftlinge nun Rache nehmen würden an den Deutschen.
Kaffeeklatsch
"Und die kamen dann und haben geklopft, oder?"
"Na ja, wir waren im Ollendorfer Feld, wo der Buchenwald damals offgemacht worden ist, und da bewegte sich auf einmal was so querfeldein, die sind ja nicht nur Straße gegangen, die machten ja hier wie die Bienen, gäh! Und da sag´ ich zu meinen Eltern: Was issen das nur da oben? Sind das nur Menschen? Da waren auch so bissel Berge und, gäh, konnt´st eben nicht richtig entziffern, was... Sagt meine Mutter: Nee, das sind doch Kühe, das ist doch was schwarzes, was weißes, gäh! Ja, wo sie nachher näher kamen, da ging´s an den Korb, da ham sie unser Frühstück raus und... mein Vater hatte ´ne Jacke auf´m Wagen liegen gehabt, gäh, das ham sie alles mitgenommen, gäh, die ham sich nicht mit uns unterhalten, gingen gleich weiter, und da sind sie ins Dorf rein... und da haben sie in den Wirtschaften, wo sie reingekommen sind, da ham sie auch was möglich gemacht, gäh. Da ham sie bei manchen die Schränke, die Speisekammern, alles ausgeräumt. Im Gegensatz zu den Amerikanern, die haben gefragt, ob sie Milch oder irgendwas kriegen könnten."
Lagertor in der Gedenkstätte am KZ Buchenwald
Lagertor in der Gedenkstätte am KZ Buchenwald© imago / VIADATA
US-Wochenschau
"1.200 Weimarer mussten sich fünf Tage nach der Befreiung auf Befehl der Amerikaner das KZ anschauen. In den Aufnahmen der US-Wochenschau sind fröhliche Gesichter zu sehen, die im Angesicht der Leichenberge erstarren."
Dora Armbruster: "Ich weeß nich mehr, wer uns da mit hochgenommen hat, wer das war."
Dora Armbruster und Brunhilde Kühnhausen, die beiden Schwestern aus Ottstedt, wurden von einem ehemaligen Häftling, der auf dem Bauernhof ihres Vaters gearbeitet hatte, mit ins Lager genommen.
Brunhilde Kühnhausen: "Der hat uns mit hochgenommen. Der hat ja zu meinem Vater gesagt: Oskar, morgen nehme ich deine zwei Töchter mit hoch, die müssen das sehen! Wunderschöner Tag, warm, sin´mer da hoch. Mir zwei und der. Und überall Häftlingshorden an uns vorbei. Ich hab manchmal, ich hab´ gedacht: Wenn die uns jetzt hier schnappen, was will denn der dagegen machen?...Hat uns keiner was getan. Jaja, sagt er, seht ihr´s nun? Ja, wir wissen´s ja, aber... War schlimm."
Dora Kühnhausen: "Da seh´ ich noch in dem Krematoriumhofe, sehe ich noch den Drahtzaun, ein Haufen toter Häftlinge, aber hoch! Wie eine Pyramide hatten ´se die aufgeladen, nackig, so wie die Heringe, so richtig gestapelt. Grausam... die guckten über´n Zaun weg, über die Bretterplanke weg."
Brunhilde Kühnhausen: "Sie hatten´s ja gut zugedeckt mit durchsichtiger Folie, ringsum Erde drangeschaufelt. Da sah man drunter die Leichen, die Skelette. Knochen mit Haut bezogen, sowas Unglaubliches. Erschlagene Schädel... Zwischendurch lag auch so mal ein junges SS-Kerlchen, dem sie in den letzten Wochen nochmal die Uniform angesteckt haben, die nicht wussten, was los ist, auch erschlagen von Häftlingen. Wir waren wie betäubt, haben wir an dem Menschenhaufen gestanden, das können sie sich vorstellen! Also, man ist da auch noch jung gewesen und das Entsetzen, das war, als wenn man im kalten Wasser steht. Wir hatten überhaupt kein Leben mehr in uns. Da kloppt uns sowas auf die Schulter, wo wir standen, und wir guckten uns um, da steht hinter uns so ein riesengroßer Neger, natürlich als Soldat mit Stahlhelm, Kaugummi kauend. Und guckt uns so hämisch an und zeigt auf den Haufen: `Und das ist deutsche Kultur!` Wir ham´ uns geschämt. Wir wären am liebsten mit in den Haufen gekrochen, glauben sie das, wie wir uns geschämt haben! Wo der uns sagt: ´Und das ist deutsche Kultur!` – scheußlich."
Dora Kühnhausen: "Und da habe ich gesagt: Ich kann nicht mehr, jetzt hau´ ich ab. Ich will nischt mehr sehn. Da bin ich gelaufen, ich wusste gar nicht, wo ich war. Und da waren lauter Neger oben, die Amerikaner waren lauter Neger. Ich hab´ gar keine Angst gehabt. Die Neger lagen im Graben mit MPis und liefen da rum. Ich bin durch die Neger durchgelaufen in´n Wald nein. Ich dachte: Du musst weiter gar nischt wie da oben raus."
Brunhilde Kühnhausen: "Ich erzähle das meinem Enkel, ich erzähle das auch meinem Sohn, der hier zu Hause wohnt. Ich hab´ manchmal das Gefühl, als wenn sie´s gar nicht hören wollen, oder denken vielleicht, die Oma spinnt und erzählt uns ein Märchen. So hammer´s erlebt."
Wolfgang Röll: "Übergeben… Schreiben sie hier…"
Dieter Bernhard: "Ich schreib‘…"
Wolfgang Röll lässt meinen Vater das Übergabeprotokoll für das Schränkchen aus der Häftlingswerkstatt unterschreiben.
Wolfgang Röll: "So, dann besten Dank!"
Dieter Bernhard: "Nichts zu danken!"
Anneliese Bernhard: "Behandeln sie unser Schränkchen gut!"
Wolfgang Röll: "Das können sie gewiss sein! Sie haben’s ja nun auch… Wie lang war es bei ihnen?"
Dieter Bernhard: "Seit ´80, sag ich mal."
Röll: "Ist ja auch fast 30 Jahre."
Autor: "OK, ihr beiden, ich verschwinde gleich wieder."
Anneliese Bernhard: "Ja, mach’s gut!"
Wolfgang Röll: "Auf Wiedersehen!"
Anneliese Bernhard: "Auf Wiedersehen!"
Wolfgang Röll: "Schönes Wochenende!"
Anneliese Bernhard: "Danke, ihnen auch. Mach’s gut!"
Autor: "Tschüß, Mama, tschüß, Väterchen!"
Dieter Bernhard: "Tschüss, mach’s gut!"
Ich bin froh, dass das Schränkchen zurückkommt nach Buchenwald, nach fast 70 Jahren. Ich begleite es noch bis ins Depot der Gedenkstätte. Als ob ich sichergehen wollte, dass es wirklich weg ist und wirklich dort angekommen, wo es hingehört. Und jedes Mal, wenn ich in Zukunft eine Ausstellung in Buchenwald besuche, werde ich Ausschau halten nach "unserem" Schränkchen. Ein Stück von Buchenwald bleibt dennoch in mir, der Schrecken, wie nahe es mir immer war. Und die Stimmen der alten Frauen, die nichts wussten – und doch alles wussten über das KZ Buchenwald.
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