55 Jahre Élysée-Vertrag

"Deutsch-französische Achse ist zentrales Gestirn der EU"

Der französische Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel in Paris 19.1.18
Führung und Rücksicht: Merkel und Macron müssen Europa voranbringen und dabei die anderen EU-Länder mitnehmen. © dpa/Thomas Padilla/MAXPPP/
Jan Techau im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 22.01.2018
Ohne Deutschland und Frankreich geht nichts in der EU, sagt Jan Techau vom German Marshall Fund. Beide Länder wüssten, dass sie etwas Neues in Sachen EU auf den Tisch legen müssten. Das große "Europa-Feuerwerk" werde es aber nicht werden.
Vor 55 Jahren unterzeichneten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag, der die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich besiegeln sollte. Seither ist die deutsch-französische Achse eine bestimmende Macht in Europa. Jan Techau, Europa-Direktor beim German Marshall Fund, sieht es so:
"Man kann sich die EU ohne jedes andere Land vorstellen zur Not, aber nicht ohne diese beiden. Das heißt, diese Achse bleibt nach wie vor so etwas wie das zentrale Gestirn der Europäischen Union."
22. Januar 1963: Frankreichs Präsident Charles de Gaulle (r.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer nach der Unterzeichnung im Élysée-Palast.
22. Januar 1963: Frankreichs Präsident Charles de Gaulle (r.) und Bundeskanzler Konrad Adenauer nach der Unterzeichnung im Élysée-Palast. © AFP
Deshalb hätten auch alle Europäer darauf gewartet, dass diese Achse wieder in Gang komme. Allerdings:
"Einerseits erwarten die anderen Europäer, dass davon Energie und Impulse ausgehen und dass diese beiden stärksten, größten Länder sozusagen sich auch besonders in die Bresche werfen. Andererseits wollen sie mitgenommen werden und befürchten auch manchmal schon, dass über ihre Köpfe hinweg etwas ausbaldowert wird, an dem sie dann vielleicht nicht genug teilhaben."

Kein Europa-Feuerwerk

Die Chancen für EU-Reformen stehen nach Ansicht Techaus besser als zuvor. Berlin und Paris wüssten, dass "jetzt etwas passieren" müsse:
"Die Frage ist jetzt, was in diesem Tandem an Substanz übrig bleiben kann, denn beide sind natürlich nicht ohne ihre eigenen Zwänge auch zu Hause und können jetzt nicht einfach ein Europa-Feuerwerk abbrennen. Das muss auch jeweils zu Hause verkauft werden. Und es muss den anderen Europäern verkauft werden. Deswegen: so eine Art milder Optimismus. Der ganz große Wurf wird es vermutlich nicht werden."
(bth)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Ein Traum ist auch am 22. Juli 1963 in Erfüllung gegangen, da haben nämlich Konrad Adenauer und Charles De Gaulle den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit geschlossen und damit die berühmte Erbfeindschaft vergessen gemacht, der sogenannte Élysée-Vertrag. Am Freitag war ja Angela Merkel bei Emmanuel Macron in Paris. Deutschland und Frankreich feiern den Geburtstag dieses Vertrages. Heute reisen deutsche und französische Parlamentarier und Parlamentspräsidenten zum jeweils anderen, um dort zu sprechen. Und wie es steht um dieses Verhältnis von Frankreich und Deutschland, und was die anderen Länder in der EU von der Stärkung desselben halten, das will ich jetzt bereden mit dem Politikwissenschaftler Jan Techau, der seit Kurzem, seit dem 1. Januar nämlich Europadirektor beim German Marshall Fund ist. Schönen guten Morgen!
Jan Techau: Hallo, guten Morgen!
von Billerbeck: Ganz große Frage zu Beginn: Welche Bedeutung hat diese deutsch-französische Beziehung für die EU?
Techau: Deutschland und Frankreich sind in der politischen Landschaft oder Konstruktion der EU sicher die beiden einzigen Länder, die man sich wirklich nicht wegdenken kann. Man kann sich die EU ohne jedes andere Land vorstellen zur Not, aber nicht ohne diese beiden. Das heißt, diese Achse bleibt nach wie vor so was wie das zentrale Gestirn der Europäischen Union. Es ist nicht mehr so wie früher, dass das deutsch-französische Tandem die alles bestimmende Frage in der Europäischen Union ist, es gab ja mal eine sehr starke Dominanz. Aber es ist immer noch so, dass ohne diese beiden nichts geht. Und deswegen haben auch alle Europäer, nicht nur wir hier, darauf gewartet, dass diese Achse wieder in Gang kommt.

Impulse, aber keine Dominanz

von Billerbeck: Sie sprechen von einem Gestirn. Dann fragen wir doch mal, ob dieses Leuchten anderen Europäern in der EU ein bisschen zu hell ist?
Techau: Dominanz in der Europäischen Union ist natürlich immer etwas, was dann auch Skepsis und Befürchtungen hervorruft und sogar so was Ähnliches wie Gegenblockbildung erzeugen kann. Die EU ist ja angelegt in ihrer ganzen Maschinerie, um sozusagen Dominanz zu verhindern und in gewisser Weise auch einseitige Führerschaft innerhalb der EU zu verhindern. Und deswegen ist eine zu starke Achse immer etwas Zweischneidiges.
Einerseits erwarten die anderen Europäer, dass davon Energie und Impulse ausgehen, und dass diese beiden stärksten und größten Länder sozusagen sich auch besonders in die Bresche werfen. Andererseits wollen sie mitgenommen werden und befürchten auch manchmal schon, dass sozusagen über ihre Köpfe hinweg da was ausbaldowert wird, an dem sie dann vielleicht nicht genug teilhaben. Und deswegen ist also diese deutsch-französische Achse beides: Es ist eine Rücksichtsachse, aber es ist auch eine Führungsachse. Und den Mittelweg zwischen beiden zu finden, ist so ein bisschen das Geheimnis.
von Billerbeck: Das klingt nach einem klassischen Dilemma. Wie stehen denn die Chancen, dass ausgehend von Deutschland und Frankreich die Europäische Union einen wirklichen Reformprozess beginnt, der ja von vielen gefordert wird?
Techau: Die Chancen stehen jetzt wieder etwas besser. Dieser Hype, den wir ja fast sogar erlebt haben in Europafragen nach der Wahl von Emmanuel Macron, der wirkt sich tatsächlich ein bisschen aus, und der wird ja auch in Paris und in Berlin sehr ernst genommen. Die beiden verstehen schon, dass jetzt was passieren muss. Der Populismus sitzt ihnen im Nacken, die Tatsache, dass viele unzufrieden sind mit der gegenwärtigen Verfassung der Europäischen Union. Und auch nach außen hin muss die Europäische Union sich ja ganz anders noch mal verhalten, nicht nur nach der Wahl von Trump, sondern auch, weil die unmittelbare Nachbarschaft der EU in einem schwierigen Zustand ist.
Das heißt, hier wird jetzt schon erkannt, dass da was Neues auf den Tisch gelegt werden muss. Die Frage ist jetzt, was in diesem Tandem an Substanz übrig bleiben kann, denn beide sind natürlich nicht ohne ihre eigenen Zwänge auch zu Hause und können jetzt nicht einfach sozusagen ein Europa-Feuerwerk abbrennen. Das muss auch jeweils zu Hause verkauft werden, und es muss den anderen Europäern verkauft werden. Deswegen würde ich mal sagen: so eine Art milder Optimismus. Der ganz große Wurf wird es vermutlich nicht werden, aber wir werden in den nächsten Monaten sicherlich einiges an substanzieller Europadebatte erleben.

Euro und Außenpolitik als EU-Großbaustellen

von Billerbeck: Milder Optimismus – ich habe mal gelernt, dass Psychologen sagen, das gesündeste Leben ist ein mildes Scheitern. Das können wir uns in der EU offenbar nicht leisten. In welche Richtung müssen denn Ihrer Ansicht nach die Reformen ganz besonders laufen?
Techau: Im Grunde gibt es zwei Hauptbaustellen, auf die man sich fokussieren muss, neben vielen anderen Fragen, die auch noch eine Rolle spielen. Und diese beiden Hauptbaustellen sind einmal der Euro, die Währung, die ja eine relativ starke Währung ist, man kann es nicht anders sagen, die aber politisch nicht auf eine Art und Weise abgesichert ist, die innerhalb dieses Konstrukts auf Dauer durchhaltefähig ist. Wir merken das, wir müssen da sozusagen immer wieder politisch reinbuttern, damit das Ganze politisch auch abgesichert bleibt. Hier hat es ja in dem Sondierungspapier auf deutscher Seite jetzt auch eine relativ ambitionierte Reaktion gegeben auf das, was Emmanuel Macron selbst auch vorgeschlagen hatte. Das heißt, da ist plötzlich ein bisschen Bewegungsspielraum auch.
Und die andere Großbaustelle sind die Außenbeziehungen, also die Außenpolitik der Europäischen Union, bis hin zu Verteidigungsfragen. Hier haben die Amerikaner, die deutlich sagen, dass die Europäer selbst mehr tun müssen, den Druck erhöht, und hier gibt es auch ohnehin eine angespanntere strategische Lage, vom Osten bis zum Süden der europäischen Nachbarschaft. Das heißt, das sind die beiden Augenmerke, und auch da hat die Europäischen Union ja mit dieser strukturierten Zusammenarbeit, PESCO, wie das die Freaks nennen, so ein bisschen jetzt versucht, einen Rahmen zu schaffen. Mit Leben muss das beides noch gefüllt werden. Das ist erst mal bisher nur Theorie und Absicht. Aber es sind die beiden Hauptthemen, die verhandelt werden.
Und über dem Ganzen schwebt sozusagen als Krönung die Haushaltsdiskussion in der Europäischen Union. Es muss ja eine neue mittelfristige Finanzplanung in der EU besprochen werden und vereinbart werden, und an der wird man dann auch ablesen können, wo die tatsächlichen Ambitionen der EU wirklich liegen.

Die Skeptiker nicht unterpflügen

von Billerbeck: Fragt man sich natürlich, das sind die Europabefürworter. Wie kann man denn auch die Bremser und die Skeptiker innerhalb der Europäischen Union mitziehen, die da eben gar nicht so an diese Reform ran wollen?
Techau: Ja, das ist die große Frage. Das Schwierige an dieser Situation ist, dass sich diese Skeptiker nicht mehr in einen Topf werfen lassen, sondern die gibt es aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Es gibt diejenigen, die keine vertiefte Euro-Integration wollen, weil sie befürchten, dass das zu teuer wird. Dazu gehören zum Beispiel die Österreicher. Es gibt diejenigen, die ganz grundsätzlich mit großem Misstrauen nach Brüssel schauen, das sind vor allen Dingen diejenigen, die wir im Moment sehr stark kritisieren für ihre illiberalen Tendenzen in Europa, also zum Beispiel die Führung in Ungarn, aber auch in Polen, und vielleicht möglicherweise bald auch in Tschechien. Und dann gibt es wieder diejenigen, denen die ganze nordeuropäische ökonomische Dominanz zu stark ist. Dazu gehören die Italiener, aber auch die Spanier.
Da haben wir also ein ziemlich zerfasertes Gebilde. Das große Geheimnis dieser europäischen Integration ist ja bisher immer gewesen, dass es diese ganzen widerstrebenden Meinungen und Bedürfnisse und Nöte in eine große Konsensbildungsmaschine hineinfüttern konnte. Das, was wir an Brüssel manchmal so ein bisschen undurchschaubar finden, ist ja genau das, nämlich dass da aus all diesen verschiedenen Dingen am Ende irgendein Kompromiss ausbaldowert wird. Das ist in dieser Phase etwas schwieriger als früher, weil es sowohl beim Euro als auch bei verteidigungs- und außenpolitischen Fragen sehr stark an die Substanz dessen geht, was einen Nationalstaat und seine Souveränität ausmacht.
Das heißt, um Ihre Frage zu beantworten, was muss man den Skeptikern mitgeben? Man muss diese Balance finden zwischen einer verstärkten Handlungsfähigkeit der EU einerseits, und gleichzeitig diesen Skeptikern das Gefühl zu geben, dass es ihnen nicht komplett an ihre Souveränität geht, dass sie nicht untergepflügt werden. Und da die Balance zu finden, wird im Einzelfall sehr schwierig werden und schwieriger als früher, wie ich schon sagte. Aber es ist nicht unmöglich, denn am Ende geht es natürlich darum, dass alle irgendwie handlungsfähiger werden. Das Geheimnis der EU ist, dass jeder ein bisschen was abgibt und dann hoffentlich aus dem Ganzen mehr herausbekommt. Diese Botschaft immer wieder klar zu machen, wird der entscheidende Schlüssel sein.
von Billerbeck: Und mit diesen optimistischen Worten der Einschätzung zur Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen für die Europäische Union verabschiede ich Jan Techau, den Europadirektor des German Marshall Fund. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Techau: Ich bedanke mich auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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