500 Jahre "Utopia": Wo sind die großen Ideen?

Nur noch Leere und Müdigkeit

Karl-Marx-Denkmal in Chemnitz
Marx gibt es noch - als Denkmal © picture alliance / dpa
Martin Sabrow im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 21.12.2016
Nach dem Ende von Sozialismus und Kommunismus gibt es keine Utopien mehr, an die wir noch glauben können. Warum ist die Strahlkraft der großen Ideen verloren gegangen? Der Historiker Martin Sabrow über verlorene Ordnungsideen, die "Glorie der alles heilenden Kraft", Individualisierung, die Entzauberung der Welt - und die Leere.
Sozialismus und Kommunismus waren wohl die wirkungsmächtigsten Utopien der Geschichte. Als sie scheiterten – war das das Ende aller Utopien?
"Oder ist der Kommunismus gescheitert, weil wir utopiemüde wurden?"
... fragt der Historiker Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam:
"Da ist natürlich die Frage nach dem Henne-Ei-Problem."
Das Scheitern des Kommunismus als Utopie ordne sich in das Auslaufen aller Entwürfe ein, die im 20. Jahrhundert utopische Kraft entfaltet hätten, sagte Sabrow im Deutschlandradio Kultur.
Dazu zählt er auch die Idee von Gleichheit, Demokratie und Frieden - sowie - auf der anderen Seite - die "Utopie einer homogenen Volksgemeinschaft", wie sie die Nazis pflegten.
Natürlich sei der Kommunismus auch an der Realität gescheitert, sagte Sabrow – aber die Wirklichkeit sei andererseits nie unabhängig von der Idee, die man vor ihr hat.

Nirgendwo mehr die "Glorie der heilenden Kraft"

Und es gibt viele große Ideen, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts "krachend" auslaufen, wie Sabrow schildert. Nirgendwo mehr lässt sich nun die "Glorie der heilenden Kraft" finden.
Warum das so ist, darauf hat Sabrow keine Antwort – nur "vorläufige und ratlose Teilantworten": die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Individualisierung, die Entzauberung der Welt, "die keine offenen Räume mehr kennt".
Was tritt an die Stelle erschöpfter Utopien? Zuerst einmal: "die Leere". Volk, Klasse, Idee, Gemeinschaft, die politische Partei: All das habe seine Strahlkraft verloren, so der Historiker.
Was bleibt, ist Subjektivierung, Atomisierung, die Flucht in Nischen und Entsozialisierung.
Und das ...
"Unbehagen in unserer politischen Kultur, das es keine Perspektiven gibt, die über das Jetzt hinausreichen". (ahe)

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Vorwärts, und nie vergessen. Wenn es in den letzten 500 Jahren eine Ideologie gab, die weit über Grenzen und Generationen hinweg wirkungsmächtig war, dann ist das der Sozialismus oder auch Kommunismus. Die Betonung liegt allerdings auf war – es gibt wohl auch keine Zukunftsvorstellung, die krachender gescheitert wäre, real existierend. Liegt darin vielleicht auch unser Problem, heute noch fröhlich und vielleicht auch ein bisschen naiv in die Zukunft zu schauen? Im Gespräch heute in unserer Themenwoche der Historiker Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Guten Morgen, Herr Sabrow!
Martin Sabrow: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Hat uns das Scheitern der großen Menschheitsentwürfe, wie es der Sozialismus ja ohne Frage lange war, utopiemüde gemacht?
Sabrow: Oder ist der Kommunismus gescheitert, weil wir utopiemüde wurden? Da ist natürlich die Frage nach dem Henne-Ei-Problem, und tatsächlich ordnet sich das Scheitern des Kommunismus als Utopie in das Auslaufen aller Großentwürfe ein, die im 20. Jahrhundert utopische Kraft entfaltet haben. Das ist ja auch die Idee der Gleichheit, der Demokratie, des Friedens, die mit dem 20. Jahrhundert verbunden wurde. Das ist auf der anderen Seite auch die Utopie einer homogenen Volksgemeinschaft im nationalsozialistischen oder faschistischen Sinne zu schaffen und damit einen Ausweg aus der blinden Entwicklung der Geschichte zu finden. Und darin ordnet sich natürlich auch der sozialistische und der kommunistische Zukunftsentwurf ein.
Frenzel: Worin, würden Sie sagen, liegt dieses Scheitern? Dass all diese Entwürfe den Menschen nicht als Menschen, nicht als Individuum gesehen haben, sondern wirklich immer als große Masse?
Sabrow: Die Antworten sind dann ja immer etwas selbstreferenziell. Man kann eigentlich sagen, dass natürlich der Kommunismus als Idee einmal an der Realität gescheitert ist. Das ist dann eine einfache Aussage, die sich aus 1989 oder aus dem Scheitern des Stalinismus ergibt. Andererseits ist die Wirklichkeit nie unabhängig von der Idee, sondern sie hat ihre eigenen Kriterien, jede Idee hat ihre eigene Wirklichkeitsvorstellung und bemisst ihren Erfolg nach anderen Kriterien, als wir das vielleicht im Nachhinein tun. Wir haben es wohl auch damit zu tun, dass, ausgehend vom 19. Jahrhundert, wir eine das Jahrhundert umspannende Phase der Machbarkeit von gesellschaftlichem Leben haben, eine Idee, die aus dem Zerbröckeln traditionaler Herrschaftsformen erwächst, eine Befreiung des Individuums, auch der Masse, auch der Klasse, der Stände, die dazu übergehen können, sich über Parteiung und Parteivorstellungen Visionen zu geben, wie man die Gesellschaft besser ordnen kann. Diese Idee der Ordnung, die im 20. Jahrhundert so virulent ist und die im Kommunismus nur eine von mehreren, aber eine sehr kraftvolle Ausdrucksform findet. Diese Idee läuft am Ende oder im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts krachend aus. Das kann man, wie gesagt, auf das Scheitern des Realsozialismus zurückführen, man kann es auch in ganz große Bögen einspannen, und sagen mit meinem Kollegen Anselm Döring-Manteuffel und mit Lutz Rafael, dass am Ende des sechsten Jahrzehnts in der westlichen Welt die Fortschrittsmoderne an ihr Ende kommt als Glaube, als Hoffnung, und wir in eine Zeit nach dem Boom, so heißt es bei den beiden, in ein Zeitalter nach dem Boom eintreten, in dem alte Gewissheiten zuschanden werden und Helmut Schmidt einen Satz sagen kann, als Kanzler: "Wer Visionen hat, der möge sich zum Arzt begeben."
Frenzel: Also wenn ich Sie richtig verstehe, erleben wir da eigentlich, egal in welchem politischen System wir uns befinden, in den 60er-/70er-Jahren den großen Zweifel an der Idee, dass es so etwas wie einen positiven Fortschritt gibt?
Sabrow: Ja, zumindest als visionäre Idee, als Idee, dass man das Morgen schon im Heute mit sehen müsse, dass die Kinder es besser haben, dass die Zukunft besser werden wird, das ist eine Idee, die an Kraft verliert, übrigens nicht auf jedem Gebiet. In der Anschaffung eines Autos setzen wir selbstverständlich darauf, dass das Auto sich weiterentwickelt. In der Computertechnologie haben wir das bekannte Gesetz, dass die Kraft der Speichermedien sich in zwei Jahren verdoppelt. In der Medizintechnik, in der Krebsbekämpfung glauben wir schon noch an den Fortschritt, aber nicht mehr eingehüllt in diese Glorie einer alles heilenden Kraft, die Gesellschaften steuern kann. Und die Ursachen dafür sind vielfältig. Ich glaube, wir müssen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts schon mit einbeziehen – kein vollgültiges Argument, weil sich die Kraft der kommunistischen Idee auch nach 1945 noch einmal mächtig aufbäumte, aufstrahlte, aber doch schon mit einer erheblichen Hypothek beladen. Die Individualisierung im 20. Jahrhundert, im dritten Drittel, würde ich als starkes Argument anführen. Die Entzauberung der Welt, die Entzauberung der globalisierten Welt, die keine Räume, die keine offene Räume mehr kennt. Und damit könnte sich dann ein Gedanke verbinden, dass Zukunft und Vergangenheit sich wie kommunizierende Röhren zueinander verhalten: In dem Moment, wo die Zukunft an Strahlkraft, an persuasiver Kraft verliert, gewinnt die Vergangenheit die früher so mysteriösen Räume zurück und wird zu einer Attraktion, die man bis in die Romankunst, die sogenannten Hybrid-Romane unserer Zeit, zwischen dokumentarischem und fiktionalem Anteil sehen kann. Der Aufstieg der Geschichte zur Welterklärung, all das verbindet sich mit dem Auslaufen der Fortschrittsmoderne und dem stärkeren Rückgriff auf die Vergangenheit.
Frenzel: Was tritt an die Stelle erschöpfter Utopien, Herr Sabrow? Wir stehen alle noch etwas fassungslos da angesichts dieser wahrscheinlich ideologisch aufgeladenen Gewalt, die Berlin getroffen hat. Ich frage es mal sehr grobschlächtig: Warum ziehen junge Leute heute lieber für eine verquere Vorstellung von Religion in den Kampf und dann auch im Zweifel in den Tod als zum Beispiel für den Traum von einer gerechten und gleichen Welt?
Sabrow: Herr Frenzel, Sie stellen Fragen, die ich nicht beantworten kann, obwohl ich auch gern hören würde, wie andere darüber nachdenken. Wenn ich gefragt würde, was sind meine vorläufigen und ratlosen Teilantworten: Einmal die Leere. Der Verlust von Visionen hinterlässt natürlich eine Leere. Wir haben die Kollektivsubjekte nicht mehr, mit denen wir uns früher solidarisiert und mit denen wir gekämpft haben – das Volk, die Klasse, die Gemeinschaft, oder die Idee, die Gruppe, die politische Partei. All das hat seine Strahlkraft verloren, hinterlässt Zweifel, Subjektivierung, auch Atomisierung. Wir haben eine Flucht in Nischen, wir haben eine Flucht in die Entsozialisierung, die damit einhergeht, dass uns nichts mehr verbindet. Wir haben auch eine Befriedigung von Grundbedürfnissen, die die Gedanken schweifen lässt. In dem Moment, wo es ums nackte Überleben geht, und jetzt meine ich die im engeren Sinne westliche Welt, kommen andere Bedürfnisse und Sichtweisen stärker zur Geltung. Und es gibt ein erhebliches Unbehagen darüber in unserer politischen Kultur, dass wir nichts anbieten können, dass es nichts, keine Perspektive gibt, die über das Jetzt hinausreichen. Und aus diesem – das beschreiben wir etwa mit dem Begriff der abgehängten Mittelschicht, dass es keine Verzauberung mehr gibt, dass es in der Zukunft substanziell besser werden könnte. Und das führt meines Erachtens auch zur Infragestellung unseres gesamten Politikmodells, unserer Form der Elitenrekrutierung, der demokratischen Entscheidungsbildung. Und diese Außerkraftsetzung der Rationalitätsstandards, mit denen wir unser Leben und auch unser gesellschaftliches Leben bewältigen, die macht den Kern dessen aus, was ich Populismus nennen würde und was sich auch in diesem neuen Clash of Civilization darstellt, den wir in der Entfesselung der Gewalt gerade jetzt in Berlin vorgestern erlebt haben.
Frenzel: Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Sabrow: Herr Frenzel, ich weiß nicht, ob ich Ihnen viel habe weiterhelfen können, aber vielleicht ist es auch sinnvoll, dass wir Ratlosigkeit mit Argumenten untersetzt austauschen, denn mich bewegen diese Fragen natürlich sehr, ohne dass ich als Zeithistoriker da gültige Antworten geben könnte.
Frenzel: Nichtsdestotrotz, ich glaube, Sie konnten uns durchaus weiterhelfen – vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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