50 Jahre Kulturrevolution in China

Das verdrängte Trauma einer ganzen Generation

Angehörige der Roten Garden schwenken bei einer Kundgebung auf dem Tien-an-Men-Platz in der chinesischen Hauptstadt Peking die Mao-Bibel, die die Lehren des chinesischen Führers Mao Tsetung enthält.
Angehörige der Roten Garden schwenken bei einer Kundgebung auf dem Tien-an-Men-Platz in der chinesischen Hauptstadt Peking die Mao-Bibel, die die Lehren des chinesischen Führers Mao Tsetung enthält. © picture-alliance / dpa / Koch
Von Axel Dorloff  · 12.05.2016
Hunderttausende Intellektuelle und Kulturschaffende wurden im Zuge der Großen Kulturrevolution Mao Zedongs verfolgt, gefoltert oder getötet. Eine Aufarbeitung der Gräuel und eine kritische Debatte erlaubt das offizielle China bis heute nicht - doch einige reden trotzdem.
"Zerschlagt das Alte, bombardiert die Hauptquartiere", sagte Mao Zedong zur Großen Kulturrevolution in China. Der 16. Mai 1966 markiert deren Beginn. Von da an wurden hunderttausende Intellektuelle und Kulturschaffende verfolgt, gefoltert oder getötet.
Bis heute findet eine Aufarbeitung der Gräueltaten so gut wie nicht statt. Eine kritische Debatte erlaubt das offizielle China nicht. Manche äußern sich dennoch – wie eine ehemalige Rotgardistin, die heute einen selbstkritischen Blog schreibt oder ein Psychologe, der die Traumata der Menschen verstehen und behandeln will.

Das Manuskript im Wortlaut:
Kellnerinnen in Militäruniform bringen Rot-Geschmorten Schweinebauch – ein Lieblingsgericht von Mao Zedong. An den Wänden hängen großformatige Poster aus der Zeit der Kulturrevolution. Das Nostalgie-Restaurant Renmin Gongshe Dashitang im Pekinger Stadtteil Haidian sieht aus wie eine Gemeinschaftsküche im China der 60er-Jahre. Mit Liebe fürs Detail – und für den Großen Vorsitzenden, sagt Restaurant-Manager Xia Xuesheng.
"Wir haben dieses Restaurant eröffnet, um an unsere Kultur in der Vergangenheit zu erinnern und sie zu propagieren. Unsere Gäste, die bei uns essen, vermissen Mao Zedong sehr. Wir dürfen die junge Generation nicht vergessen lassen, dass der Große Vorsitzende uns durch den Kampf für ein besseres Leben geführt hat."
Xia zeigt stolz auf die vielen, großformatigen Plakate an der Wand: Mao Zedong als junger Revolutionär in Denkerpose. Als militärischer Führer vor Chinas Kriegsschiffen. Als gefeierter Redner vor tausenden Menschen, die alle eine Mao-Bibel in der Hand halten.
"Das Bild hier ist eine Szene aus der Kulturrevolution. Mao hat jeden dazu aufgerufen, gemeinsam stärker zu werden und die Schwierigkeiten zu überwinden. Wann auch immer Mao zu der Zeit den Leuten zugewinkt hat, gab es frenetischen Applaus. Jeder hat in dieser Zeit die Werke Mao Zedongs bei der Arbeit gelesen und zitiert. Verglichen mit heute waren die Menschen damals ehrlicher und weniger korrupt."
Yu Xiangzhen würde dieses Restaurant nicht betreten. Bei ihr schmerzt die Erinnerung an die Zeit der Kulturrevolution. Und deshalb hat Yu Xiangzhen irgendwann beschlossen, das zu tun, was Millionen ehemalige Rotgardisten in China nicht machen: offen über die Zeit der Kulturrevolution zu reden. Yu schreibt ihren eigenen Blog. Im Internet veröffentlicht sie Geschichten von damals. Ihre persönlichen Erinnerungen.
"Am 18. August 1966, früh morgens um 3 Uhr, versammelten sich die Rotgardisten und zogen zu einer Massenversammlung zum Platz des Himmlischen Friedens. Die Rotgardisten unserer Schule durften auf eine Aussichtsplattform. Ungefähr um 9 Uhr war der ganze Platz in heller Aufregung. Also Mao Zedong auf das Tor des Himmlischen Friedens stieg, schrien die Leute wie verrückt: Lang lebe der Große Vorsitzende Mao! Wir guckten zu ihm hinauf wie zur Sonne. Wir wurden alle verrückt, auch ich! Wir sprangen und schrien herum."

Lehrer mit Holzknüppeln verprügelt

Zehntausende Rotgardisten wedeln an diesem Tag hysterisch mit der roten Mao-Bibel. Rebellion ist gerechtfertigt, zerschlagt das Alte, bombardiert die Hauptquartiere. Das sind im Kern die Botschaften von Chinas Führer Mao Zedong, als er im Mai 1966 die Kulturrevolution ausruft. Und die Rotgardisten sind seine Soldaten. Mao wittert überall Unterwanderung, verdächtigt seine alten Kampfgefährten nicht mehr zu ihm zu halten, will Macht innerhalb der Partei zurückgewinnen. Die Kampagne richtet sich gegen "alte Ideen, Kultur, Bräuche und Gewohnheiten". Mao will das Erbe der alten Gesellschaft auslöschen – und Yu Xiangzhen macht als 13-jähriges Mädchen begeistert mit. In der Truppe der Roten Garden.
"Es war teuflisch! Wir wurden so erzogen, dass Mao uns näher sein sollte als unsere Eltern. Er galt uns als Gott, jeder andere war nichts. Jeder sollte auf ihn hören. Es war brutal. Wir wollten unsere Feinde schlagen und sie auslöschen.”
Yu Xiangzhen ist heute 64 Jahre alt. In ihrem sportlichen Stil wirkt sie deutlich jünger. Ihre Schule von damals steht noch: rote, unauffällige Backsteingebäude an einer viel befahrenen Straße im südöstlichen Pekinger Stadtteil Chongwen. Yu klammert sich am schwarzen, gusseisernen Eingangstor der Schule fest – und erinnert sich an das Jahr 1966.
"Zu der Zeit waren die vier Gebäude hier immer mit großen Schrift-Postern verkleidet. Sogenannte Wand-Zeitungen. Darauf wurden Lehrer und Beamte denunziert und erniedrigt. Die Lehrer wurden auch geschlagen – das geschah im Befragungsraum im ersten und zweiten Geschoss des Lehrgebäudes. Weil mein Schlafsaal direkt neben diesem Gebäude lag, konnten wir oft nicht schlafen, weil die Leute so laut geschrien haben."
Auch an Yus Schule wurden Lehrer mit Holzknüppeln im Namen der Revolution verprügelt und gefoltert. Manche sogar getötet oder in den Selbstmord getrieben. Und nicht nur Lehrer, es konnte im Prinzip jeden treffen. Beamte, Universitätsmitarbeiter, die eigenen Eltern.
Die Erinnerungen an diese Zeit kommen bei Yu Xiangzehn immer wieder hoch. Sie lauern hinter den Ecken des Alltags. Zum Beispiel, wenn Yu das Lied der "Der Osten ist Rot" hört – ein patriotischer Song aus dem gleichnamigen Musical aus den 60er-Jahren. Ein Loblied auf den Großen Vorsitzenden Mao Zedong. Während der Kulturrevolution hatte das Lied fast den Status einer Nationalhymne.
Die angeblichen Feinde des Kommunismus – unter ihnen viele Intellektuelle und Kulturschaffende – werden während der Kulturrevolution denunziert, geschlagen und gedemütigt. In Arbeitslager aufs Land geschickt. Die ehemalige Rotgardistin Yu Xiangzhen fühlt sich bis heute mitschuldig. Auch deshalb hat sie ihren Internet-Blog zur Kulturrevolution begonnen.
"Ich bin kein Opfer der Kulturrevolution. Als eine Zeitzeugin versuche ich zu beschreiben, was damals passiert ist. Nüchtern, möglichst objektiv. Und ich möchte andere dazu ermutigen, ebenfalls zu erzählen, was damals mit ihnen geschehen ist. Je mehr Menschen ihre Erinnerungen und Erlebnisse teilen, desto detaillierter werden wir über die Kulturrevolution lernen."

Historisches Archiv zur Kulturrevolution immer noch geheim

Die dunklen Seiten der kommunistischen Herrschaft werden in China gerne verschwiegen und verdrängt: das gilt für das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989 genauso wie für die Kulturrevolution. Offiziell gibt es zwar eine Resolution der Kommunistischen Partei aus den 80er-Jahren, die die Kulturrevolution einen Fehler nennt. Eine kritische Aufarbeitung findet aber nicht statt, sagt Bao Tong. Ein ehemaliger Spitzenfunktionär, der bei der Partei durch seine liberale politische Haltung in Ungnade gefallen ist. Ein Dissident, der jahrelang im Gefängnis saß.
"Der Hauptgrund liegt darin, dass die Regierung nicht möchte, dass die Partei als Verursacher dieser historischen Katastrophe angesehen wird. Chinas Führung sollte den Menschen die Wahrheit über die Kulturrevolution erzählen. Über die Grausamkeiten, die sie in China angerichtet hat. Basierend auf den Fakten. Aber das historische Archiv zur Kulturrevolution ist immer noch geheim."
Internationale Historiker sprechen in neueren Schätzungen von 1,5 bis 1,8 Millionen Toten. Von 22 bis 30 Millionen direkt politisch Verfolgten und mehr als 100 Millionen indirekt Betroffenen. Letztere sind vor allem Opfer von Sippenhaft. Das Jahrzehnt von 1966 bis 1976 hat eine ganze Generation traumatisiert – und wirkt bis heute nach, sagt Kritiker Bao Tong.
"Durch die Kulturrevolution ist China lange Zeit rückständig geblieben. Die Kulturrevolution hat Chinas wirtschaftliche Basis zerstört, die politische Moral und die Ethik. Die Kulturrevolution hat das ganz normale soziale Leben in China zerstört. Sie hat dafür gesorgt, dass sich alle gegenseitig wie Feinde behandelt haben. Und fast jeder wurde irgendwann selbst zum Opfer."
Die Kulturrevolution hat fast alle Winkel der Volksrepublik erreicht. Nahezu jede Familie in China ist von dieser Zeit geprägt und hat ihre eigenen Geschichten. Erzählt werden die aber bis heute kaum, es herrscht das große Schweigen.
"Unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen will keiner Ärger bekommen. Aber die Kulturrevolution ist nicht aus der Erinnerung der Menschen gelöscht. Sie spielt sich zwar nicht auf der Oberfläche ab, aber sie ist tief vergraben. Gewöhnlich spricht man nicht darüber. Wenn Du das Thema öffentlich diskutieren würdest, könnte das für Deine Familie eine Katastrophe bedeuten. Keiner spricht darüber. Aber trotzdem: die Kulturrevolution lebt in der Erinnerung der Menschen."

Kulturrevolution bleibt kollektives Trauma

Es sind die individuellen Erinnerungen an die Zeit der Kulturrevolution, mit denen auch Shi Qijia arbeitet. Er ist Psychoanalytiker und Direktor des Forschungsinstituts für Psychologie in Wuhan in der Provinz Hubei. Der Wissenschaftler hat viele Jahre in Deutschland studiert und gearbeitet. Sein Spezialgebiet ist die Trauma-Forschung. Und die Kulturrevolution bleibt für die chinesische Gesellschaft ein kollektives Trauma. Ein Tabu-Thema, weitgehend unbearbeitet, sagt Shi Qijia.
"Ich glaube, dieses Schweigen oder das schwer zu äußern ist schon ein Symptom vom Trauma. Manches Trauma ist sehr grausam. Deshalb haben sie sich daran gewöhnt, das nicht zu äußern. Oder sie wussten nicht, auf welche Weise sie es äußern sollen. Als sie Kinder waren, haben sie face to face miterlebt, was da passiert ist. Was der Red Guard mit den Eltern oder liebevollen Großeltern gemacht hat."
Was hat die Kulturrevolution in der chinesischen Gesellschaft angerichtet. Wie hat sie die Seele der Menschen verletzt, verändert, beeinflusst – und welche Spätfolgen sind bis heute noch zu spüren. Das sind die Fragen, denen Shi Qihia als Psychoanalytiker nachgeht. Zu ihm kommen Menschen in Therapie.
"In der Kulturrevolution sagt man immer: entweder – oder! Entweder Du hast Recht, oder ich habe Recht. Entweder Du gehörst zu dieser schlechten Familie oder Du gehörst zur unserer Seite. Nach dem psychoanalytischen Gesichtspunkt ist es schwarz-weiß. Dieses Splitting, dieser Abwehrmechanismus – die haben nur Schwarz-Weiß. Ich glaube, das ist ein Phänomen, das wir sehen."
Die Betroffenen leben mit Scham, Angst und Nervosität. Die wenigen Studien, die es gibt, zeigen, dass sich das Trauma auch physische Folgen hat. Von Migräne bis zu Herz-Kreislauf-Problemen. Die wissenschaftliche und therapeutische Beschäftigung mit dem kollektiven Trauma Kulturrevolution: gewollt ist das in China nicht. Schon gar nicht wird es gefördert. Der Psychoanalytiker Shi Qijia gilt als einer von wenigen.
"Ein Kollege von mir, wurde mit diesem Thema als Doktor-Thema abgelehnt. Mein Wunsch ist, eine tiefe Diskussion über die Kulturrevolution verbreiten zu können. Es ist für uns auch die Zeit, aus dem psychoanalytischen Gesichtspunkt zu starten: was passiert in der Kulturrevolution, was hat das damals verändert? Ich glaube, das ist mein Wunsch."
Für die ehemalige Rotgardistin Yu Xiangzhen ist ihr Blog über ihre Erlebnisse während der Kulturrevolution auch eine Art Therapie. Eine persönliche Form der Aufarbeitung. Aber ihr Blog hat auch Kritiker.
"Viele der Leser, die nicht meiner Meinung sind, sagen die Kulturrevolution sei gut gewesen. Eine der besten Zeiten für die Arbeiterklasse. Sie wollen mich wegen Verleumdung verklagen, weil ich die Kulturrevolution beschmutze. Am Anfang haben etwa ein Drittel der Leser mich übel beschimpft. Aber es war immer so, dass mehr Leute gesagt haben: es war so, wie ich es beschreibe. Als ich dann mehr als zehn Artikel geschrieben hatte, sind die verletzenden Kommentare und Beschimpfungen fast ganz verschwunden."

Thema steht nicht auf dem Lehrplan der Schulen

Einen offenen oder öffentlichen Umgang mit der Kulturrevolution gibt es in China nicht. Das Thema steht nicht auf dem Lehrplan der Schulen. Journalisten schreiben kaum darüber. Kritische Forschung von Historikern ist unerwünscht.
"Ein halbes Jahrhundert ist jetzt vergangen – aber wir haben die Kulturrevolution nie kritisch reflektiert. Die Kommunistischen Partei hat die Kulturrevolution Anfang der 80er-Jahre mit zwei Worten belegt: Aufruhr und Katastrophe. Aber das war’s! Wenn wir uns damit nicht kritisch auseinandersetzen, werden wir auf die Probleme Chinas keine vernünftigen Antworten finden. Wenn China vorwärts kommen und sich gesellschaftlich entwickeln will, müssen wir uns ernsthaft und kritisch mit der Kulturrevolution beschäftigen. Es gab so viele Opfer! Die Regierung müsste sich entschuldigen – das wäre zwingend notwendig."
Davon ist China aber weit entfernt. Offiziell gilt die Kulturrevolution zwar als ein dunkles Kapitel Chinas – aber Chinas Führung hat Angst, dass es den Ruf der Partei beschädigen könnte, wenn darüber zu viel diskutiert wird. Also werden alle Informationen zur Kulturrevolution zurückgehalten. Die Partei ist besorgt über den Ruf Mao Zedongs – und um ihren eigenen. Deshalb stehen Menschen wie die ehemalige Rotgardistin Yu relativ alleine da, wenn sie eine rechtliche Aufarbeitung fordern.
"Für die großen und offensichtlichen Verbrechen während der Kulturrevolution müsste es eine ordentliche juristische Aufarbeitung geben. Damit jedem klar wird: es gibt keine gesellschaftlichen Bedingungen, in denen man das Leben anderer Menschen einfach bedrohen oder zerstören kann."
Yu Xiangzhen darf ihre Erinnerungen aus der Zeit bislang zwar ungestört im Internet veröffentlichen. 50 Jahre nach Beginn der Kulturrevolution sieht sie aber nicht, dass sich das große Schweigen lockert.
"Ich finde nicht, dass sich die Situation entspannt hat. Es ist wie immer sehr streng. Dieses Jahr fast noch schlimmer. Schon im vergangenen Jahr hat das Propaganda-Ministerium wiederholt die staatlichen Medien dazu aufgerufen, die Kulturrevolution nicht zu thematisieren. Die Kontrolle ist heftig. Die Menschen sollen nicht darüber reden. Und wenn man nicht darüber redet, denkt man auch weniger nach. Die meisten schweigen. Nur einige wenige lesen darüber, machen sich ihre eigenen Gedanken und trauen sich, über die Kulturrevolution zu reden."
Massenaufmärsche, Mobilisierung der Jugend, ein grenzenloser Personenkult um Mao Zedong und Gräueltaten, die sich quer durch die chinesische Gesellschaft ziehen. Yu wird weiter bloggen. Ihre persönlichen Erinnerungen aus der Zeit der Kulturrevolution ins Internet stellen. Auch in der Hoffnung, dass sich künftig mehr Menschen damit befassen. Und die staatlich verordnete Amnesie durchbrochen wird. Solange bleibt die Kulturrevolution eine Wunde der gesamten Volksrepublik, die bis heute nicht verheilt ist.
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