40 Jahre Punk (4): Der Richtungsstreit nach dem Urknall

Genre-Landschaft mit unzähligen Nischen

Sänger und Künstler Billy Childish (GBR) anlässlich eines Fotoshootings in Berlin, 2006
Sänger und Künstler Billy Childish (GBR) anlässlich eines Fotoshootings in Berlin, 2006 © imago/ David Heerde
Von Robert Rotifer · 18.08.2016
Wohin soll es eigentlich gehen, wenn das Establishment einmal gestürzt ist? Nach dem Urknall im Jahre 1976 wurde auch der Punk-Szene bald klar, dass nicht alle mit denselben Zielen und Methoden angetreten waren. Es entbrannte ein Richtungskampf.
Wollen wir dem großen Punk-Jubiläum einmal eine realistische Perspektive geben. 40 Jahre danach sprechen wir hier von Bands, die im Zentrum Londons vor ein paar Dutzend Menschen spielten. Ereignisse, die seither überlebensgroße Bedeutung angenommen haben. Billy Childish, der große Veteran des britischen Garagen-Punk erinnert sich an seine Teenager-Tage als Punk-Rock-Fan.
"Das Großartige am Punk Rock war für mich, dass es 1977 kein Konzert gab, in das ich nicht reinkam. Ich sah alle wichtigen Bands. Da waren nie viele Leute und alle diese Gigs waren ziemlich klein. Die Leute glauben, Punk war so ein großes Ding, aber es war vor allem in den Medien groß. In Wirklichkeit war es sehr klein."
Der Song "New Rose" von The Damned erschien im Oktober 1976 als erste britische Punk-Single. The Damned waren ein Nebenprodukt der Umtriebe des Sex Pistols-Managers Malcolm McLaren. Drei von ihnen hatte er in einer seiner kurzlebigen Retorten-Bands zusammengesteckt. So gesehen sind The Damned ein frühes Beispiel dafür, wie sich vom anarchischen Zeitgeist ermutigte Punk-Musiker über die Fädenzieher des Geschäfts hinwegsetzten.

"Es gab keine Einschränkungen"

Chrissie Hynde, die spätere Frontfrau der Pretenders, war ebenfalls Teil von Malcolm McLarens Band-Plänen gewesen, bevor sie stattdessen lieber ihr eigenes Ding machte.
Chrissie Hynde: "Das war die Schönheit des Punk. Es gab keine Diskriminierung. Jeder konnte alles machen, solange er oder sie ein bisschen Attitüde und Persönlichkeit hatte. Es gab keine Einschränkungen."
Auf ihrem Weg zu den Pretenders schüttelte Chrissie Hynde, wie so viele ihrer Zeitgenossen, den Dilettantismus der frühen Punk-Tage ab. Aus ihrer Sicht endete die musikalische Naivität der Szene mit der Ankunft des Ex-New York Dolls-Gitarristen Johnny Thunders in London an der Wende zum Jahr 1977.
Hynde: "Ja, er konnte spielen. Das hat alle umgehauen, denn niemand konnte wirklich spielen. Natürlich wollen Gitarristen ihr Handwerk lernen. Aber das ist das Ende von Punk, denn beim Punk ging es ja gerade darum, dass niemand Gitarre spielen konnte. Wenn du dann zu gut wirst, ist es nicht mehr wirklich Punk."
Während die Pretenders, aber auch The Clash oder Siouxsie and the Banshees ihre Heimat in einer reformierten Kompetenz fanden, die die Musikindustrie als "New Wave" vermarktete, suchten andere den Weg ins Experiment.

Fundamentalismus in der Street Punk-Szene

"Punk hatte die Tore aufgesprengt", sagt Mark Stewart von der Post-Punk-Band The Pop Group. "Es gab einen Regenbogen verschiedenster Dinge, die wir tun konnten, und diese Experimente wurden nie zu Ende geführt."
Als Gegenpol zu den avantgardistischen Ambitionen des intellektuellen Post-Punk formierte sich die fundamentalistische Strömung der Street Punk-Szene, vereint unter dem als Zeichen proletarischer Bodenständigkeit fungierenden Zuruf "Oi!" und bald vereinnahmt durch eine in Rechtsradikalismus abgleitende Skinhead-Szene. Rund um die wegen ihrer Retro-Tendenzen in Punk-Kreisen nie ganz akzeptierte Band The Jam sammelte sich indessen die Neo-Mod-Bewegung, auf der Suche nach der verlorenen Unschuld der mittleren 60er-Jahre.
Im Richtungskampf nach der Initialzündung des Punk verlor die Rockmusik die lineare Zielrichtung ihrer Weiterentwicklung. An deren Stelle entstand eine fragmentierte Genre-Landschaft mit unzählig vielen Nischen. Für einen Rock'n'Roll-gläubigen wie Billy Childish war das das Ende einer Welt.
Billy Childish: "Als die Pistols sagten, dass sie gekommen waren, um den Rock'n Roll zu zerstören, setzten sie eigentlich nur einen Punkt dahinter, denn das waren bereits seine letzte Zuckungen. Es war das Ende der Viktorianer und der Anfang des Jetzt."

In der Reihe "40 Jahre Punk" feiern wir vier Jahrzehnte einer künstlerischen Explosion in Musik, Mode und bildender Kunst.

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