3,5 Milliarden Jahre auf 800 Seiten

03.11.2008
Mit seinen Büchern "Das egoistische Gen" und der "Gotteswahn" wurde Richard Dawkins weltweit berühmt. Der britische Zoologe und Professor für Wissenschaftskommunikation in Oxford hat sich den Kampf gegen Religiosität und Irrationalität auf die Fahnen geschrieben: Gott ist tot, es lebe die Biologie. Nun hat Dawkins ein ganz und gar biologisches Buch vorgelegt: Die "Geschichten vom Ursprung des Lebens" lassen 3,5 Milliarden Jahre Evolution Revue passieren.
Woher kommen wir? Die Frage nach dem Ursprung des Seins wurde im Laufe der Menschheitsgeschichte Hunderte von Malen gestellt und ebenso oft beantwortet. Jede Kultur, jede Zeit müht sich neu daran ab. Moderne Evolutionsbiologen haben eine höchst nüchterne Antwort parat: Verfolgt man alles Leben auf der Erde zu seinem biologischen Ursprung zurück, steht ganz am Anfang ein Organismus - eine Stammesmutter alles Lebendigen - eine Art Bakterium wird es gewesen sein, vor dreieinhalb Milliarden Jahren.

Gleich zu Beginn seines neuen Buches "Geschichten vom Ursprung des Lebens", eines stattlichen Wälzers von 800 Seiten, erteilt der britische Evolutionsforscher Richard Dawkins allen konkurrierenden Theorien eine Absage: Der Lauf der Evolution, so betont er, sei ein zufälliges Geschehen ohne Absicht oder Ziel. Dass wir Menschen uns mit unserem Bewusstsein als Krönung empfänden, sei einer verständlichen, aber subjektiven Verzerrung der Wirklichkeit zuzuschreiben - evolutionsbiologisch repräsentierten wir nicht mehr als einen von vielen Zweigen des Lebens.

Und so lädt er uns ein zu einer gemeinschaftlichen Reise in die Vergangenheit - das ist die große Metapher, der sein neues Buch folgt: Auf unserem Weg zu jenem Bakterium, dem wir alle entstammen, stoßen nach und nach Mitreisende zu uns, die gleichfalls ihren Ursprung suchen. Jeder "Begegnung" widmet Dawkins ein eigenes Kapitel, sodass wir im Laufe des Buches das Leben in seiner ganzen Fülle kennen lernen.

Haben wir uns fünf Millionen Jahre auf der Zeitschiene zurück bewegt, stoßen unsere nächsten Verwandten zu uns, Schimpansen und Bonobos. Bei der nächsten Gabelung sind es Gorillas, gefolgt von Orang-Utans. Schon bei der zehnten Begegnung gesellen sich die Nagetiere zum Strom der Reisenden, bei der 20sten sind es Hecht und Flunder. Pflanzen reisen ab Gabelungspunkt Nummer 36 mit - und nur drei Etappen weiter sind wir am Ausgangspunkt angelangt: den Bakterien.

In jede Lebensform taucht Dawkins ein und erzählt in einer epischen Breite von den Errungenschaften und Absonderlichkeiten, Durchbrüchen und Sackgassen des Lebendigen, immer im Hinblick auf die Frage, wie die Organismen mit ihren vielfältigen Eigenschaften durch evolutionäre Mechanismen entstanden sein könnten. Vom Schwinghangeln des Gibbons zum Zweifarbensehen des Totenkopfäffchens, vom Mittelfinger der Lemuren zum Gesang des Westlichen Engmaulfrosches, vom Rückenschwimmen des Salinenkrebschens zur Stoffwechselrate des Blumenkohls reicht das üppige Spektrum.

Sanft eingeflochten ist der wissenschaftliche Nachhilfeunterricht: DNA-Aufbau und Gensequenzanalysen, die Modellierung von Stammbäumen mit Hilfe von Computerprogrammen und das Periodensystem der chemischen Elemente, ja, sogar die Quantenmechanik bringt der Autor unter. Bevor man sich fühlt wie in der Schule, entrollt Dawkins vor unseren Augen geschickt die nächste bunte Story: Wie lebt der Engmaulfrosch? Was geht in einer Qualle vor sich?

Richard Dawkins erzählt farbig, gefühlvoll und kenntnisreich. In seinem Buch wimmelt das pralle Leben, jede Schnecke, jeder Fisch, jedes Insekt wird mit liebevollem, mitunter fast ehrfürchtigem Blick beschrieben. Stolz sei er, unterstreicht Dawkins immer wieder, solch wunderschönes und erstaunliches Getier zu seinen Vorfahren zählen zu dürfen.

Der 800-Seiten-Wälzer ist auch ein Auftritt mit hohem Anspruch: Dawkins, Professor für "Public Understanding of Science", nimmt den selbst erklärten Kampf gegen Bibel, Koran und Co. auch in Umfang und Wuchtigkeit auf. Der Fürsprecher naturwissenschaftlicher Logik und Vernunft zielt mit seinem Buch unverhohlen aufs Gemüt: Nicht zufällig entlehnt Dawkins für seinen Evolutionsreport das Vokabular des Religiösen, inszeniert eine "Pilgerreise", spricht vom "einen, großen Ursprung", will uns mit der puren Wucht des evolutionären Geschehens mitreißen.

Auch wir Biologen, so donnert sein neues Werk, können mächtige Epen erzählen - und in Klammern bedeutet das: Wer braucht da noch eine Schöpfungsgeschichte?

Rezensiert von Susanne Billig

Richard Dawkins: Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren
Ullstein Verlag 2008,
800 Seiten, 29,90 Euro