Berlin im Film

Streifzug durch die Filmgeschichte

Plakat zum 1929/30 gedrehten Film "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich und Emil Jannings
Welche Rolle spielt Berlin als Kulisse für den Film? © dpa / picture alliance / Nestor Bachmann
Von Katja Nicodemus und Anke Leweke · 09.02.2016
In zwei Tagen startet die Berlinale. Anlass für den Länderreport einen Blick auf die Filmgeschichte dieser Stadt zu werfen. Auf Schauspieler, Film-Institutionen, Produktionsstätten. Welches Berlinbild wird etwa entworfen zwischen Filmen wie der "Blaue Engel" und "Victoria"?
Sie ist die Schutzheilige dieser Filmstadt. Ihre Ikone, ihre berühmteste Bürgerin und Schauspielerin: Marlene Dietrich. In ihrer Biografie spiegeln sich die Stadt Berlin und ihre Kinogeschichte.
Marlenes Lola Lola verkörpert in Joseph von Sternbergs Film "Der Blaue Engel" das, was das Berliner Wesen bis heute ausmacht: Eine eigensinnige Mischung aus Lässigkeit, Schlagfertigkeit und Verführungskraft.
Marlene und Berlin, das heißt: Der Weltruhm der Berliner Filme zwischen den beiden Weltkriegen, das heißt Exil und Rückkehr in eine geteilte Stadt – im wiedervereinigten Berlin trägt ein Platz inmitten des Potsdamer Platzes ihren Namen. Jedes Jahr im Februar verwandelt sich dort das Berliner Musicaltheater in den Berlinale-Palast. Die deutsche Hauptstadt wird zum Nabel des Kinos. Und der Berlinale-Direktor Dieter Kosslick legt auch für Marlene den roten Teppich aus.
Kosslick: "Ich weiß ja, dass das der Marlene-Dietrich-Platz ist, obwohl das ist ja ein ganz anderer historischer Ort, wo ich stehe, ich stehe im ehemaligen Lenné-Dreieck und dort war der erste Schulgarten Berlins, das haben alle vergessen, deshalb stehe ich da besonders gerne. Marlene Dietrich und der erste Schulgarten Berlins - kein besserer Platz."
Was verbindet Dieter Kosslick, der während der Berliner Filmfestspiele am roten Teppich jeden Abend die Regisseure und ihre Stars in Empfang nimmt, persönlich mit Marlene Dietrich?
Kosslick: "Ich hatte eine gute Bekannte in Amerika, und der ihr Großvater war der Begründer von Paramount, und das war Budd Schulberg, der hat Marlene dieses unglaubliche Telegramm geschickt, das heute in der Kinemathek hängt: "Kommen Sie bitte Schiffspassage zwei Personen, erste Klasse ist gebucht. Sie bekommen 360 Dollar in der Woche, später 2000. Ihr Budd Schulberg."
Von Dietrich über Max Skladanowsky zu Wim Wenders
Rainer Rother, Leiter der Deutschen Kinemathek und des Berliner Filmmuseums. Von seinem Fenster aus blickt er auf den Potsdamer Platz. Und auf den so genannten Boulevard der Stars: In den Asphalt eingelassene Sterne mit den Namen deutscher Filmschaffender. Von Marlene Dietrich über den Berliner Kinopionier Max Skladanowsky bis zu Wim Wenders und Tom Tykwer. Kinogeschichte, umtost von Verkehr.
Beim Gang durch das Filmmuseum unternimmt das einstige Herz von Berlin eine Zeitreise. Auf einer riesigen Leinwand erscheint die frühere urbane Pracht des Potsdamer Platzes: In einer Szene aus dem 1932 gedrehten Sittendrama "Schleppzug M 17" mit Heinrich George und Berta Drews.
Rother: "Hier sehen wir gerade den Potsdamer Platz, es war damals der verkehrsreichste Platz Europas mit der Straßenbahn, den Fahrrädern, mit der berühmten ersten Ampel Deutschlands, die am Potsdamer Platz aufgestellt wurde. Der von Heinrich George gespielt Hafenarbeiter folgt einer Prostituierten, lässt Frau und Kind an der Kreuzung zurück. Gedreht On location mit versteckter Kamera!"
Die lärmende, auch brutale Wirklichkeit der Großstadt Berlin mit ihren Hinterhofwelten ist immer wieder Ausgangspunkt der damaligen Kinoproduktionen. So etwa in einer in den zwanziger Jahren entstandenen Trilogie des Filmemachers und Filmhistorikers Gerhard Lamprecht. Im Filmmuseum erinnert ein Guckkasten mit historischen Aufnahmen Berliner Proletarierwohnungen an sein Schaffen. Kinder mit strubbeligen Haaren blicken anklagend in die Kamera.
Rother: "Die gehen eben genau in das Zille-Milieu, die Titel sprechen schon Bände: 'Die Unehelichen' oder 'Die Verrufenen', das sind Filme, die das Elend der niederen Klassen in den Mittelpunkt stellen, das hätte man bei der UFA nicht realisieren können."
Die UFA. Oder auch: Universum Film AG mit Sitz in Potsdam Babelsberg.
Gegründet wird das deutsche Filmunternehmen, das Berlin zur Kinoweltstadt macht, 1917.
Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Asta Nielsen, Henny Porten, Billy Wilder, Lilian Harvey, Georg Friedrich Wilhelm Papst, Emil Jannings.
In den UFA-Studios entsteht das, was man später "The Weimar Touch" nennen wird.
Hetzjagd auf Kindermörder nimmt Terror der Nazizeit vorweg
Ein Kino, das Genres wie den Science-Fiction-Film oder den Horrorfilm neu erfindet. Das die Zuschauer mit expressionistischen Schattenwelten zum Schaudern bringt. Das frivol und mit hitziger Lebensgier mit den Geschlechtern jongliert. Seine Helden sind Ritter, Vampire, Roboter, Femme fatales. In der Künstlichkeit und im Unterhaltungswillen dieses Kinos spiegelt sich dennoch auch die wirtschaftliche, soziale und politische Unsicherheit der Stadt Berlin zwischen den beiden Weltkriegen.
Und selbst das frivole Singspiel mischt sich in die Wirklichkeit ein: Im Lied einer kleinen Angestellten in "Ich bei Tag und Du bei Nacht". Willy Fritsch und Käthe von Nagy teilen sich das Bett im Rhythmus ihrer Arbeitsschichten.
Natürlich hat auch er einen Stern auf dem Boulevard der Stars in der Potsdamer Strasse. Natürlich kann man die Pläne seiner futuristischen Stadt Metropolis oder auch die Plakate zu seinem Film "Die Nibelungen" im Berliner Filmmuseum bewundern. Fritz Lang, der Mann mit dem Monokel, ist einer der großen Berliner Regiestars der neunzehnhundertzwanziger und -dreißiger Jahre. Seinen 1922 gedrehten Film "Dr. Mabuse" um einen größenwahnsinnigen Arzt, Hypnotiseur und Spieler beschreibt er als Zeitbild.
Fritz Lang: "Berlin prägte damals ein Wort: Raffke. Vom Zusammenraffen des Geldes. Raffke, so nannte man die Neureichen. Doktor Mabuse ist das Prototyp dieser Zeit. Er ist ein Spieler, er spielt Roulette, er spielt mit dem Leben dieser Menschen. Er spielt mit dem Tod."
Ausschnitt eines Plakates zu Fritz Langs Film "M - Eine Stadt sucht einen Mörder".
Ausschnitt eines Plakates zu Fritz Langs Film "M - Eine Stadt sucht einen Mörder".© picture alliance / dpa / Nestor Bachmann
Der Ruf einer Mutter, die ihr Kind vermisst. In Fritz Langs Film "M - eine Stadt sucht einen Mörder" dringt er durch die Etagen und Wohnungen eines Berliner Mietshauses. In der Hetzjagd auf einen pädophilen Kindermörder nimmt der 1931 gedrehte Film den Terror der Nazizeit vorweg. Den eigentlichen Kriminalfall verlegte Fritz Lang von Düsseldorf nach Berlin.
Rother: "Ich glaube, dass Berlin eine Stadt war, in der er sich gut auskannte, Berlin war Weltstadt und das muss man im Blick haben, wenn man hier produziert, muss man ja auch die Vermarktung im Blick haben, da ist Berlin als Ikone ein Mehrwert."
Der Mehrwert von Berlin – er wird aus dem deutschen Kino verschwinden. Und damit auch die raue Wirklichkeit, die Widersprüche, die Widerständigkeit der Stadt. Josef Goebbels und sein Reichspropagandaministerium bringen die Berliner Produktionsbüros und die Babelsberger Studios auf Linie.
"Jud Süß", "Triumph des Willens", "Kolberg", "Es war eine rauschende Ballnacht", "Opfergang"
Nazizeit wird gerne in Berlin gedreht
In der großen Babelsberger Mittelhalle, die heute nach Marlene Dietrich benannt ist, entstehen von 1933 bis 1945 Propagandafilme, Unterhaltungsware, Durchhalteparolen auf Zelluloid. Die Künstler und Künstlerinnen, die hier zu Weltruhm gelangten, werden verhaftet, vertrieben, gehen ins Exil.
Es hat eine gewisse Ironie, dass es dieser Abschnitt der deutschen Geschichte ist, dass es Filme im Kostüm der Nazizeit sind, die heute internationale Produktionen nach Berlin und nach Babelsberg, in das immer noch größte Studio Europas locken. Etwa Quentin Tarantino und seine "Inglourious Basterds".
Egal, ob die Stars mit Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds nach Babelsberg kommen, mit Stephen Daldrys "Die Vorleserin" oder mit István Szabós Film "Taking Sides – Der Fall Furtwängler" - an einem Ort kommt kein Schauspieler in Babelsberg vorbei: Dem Kostümfundus mit seinen endlosen Reihen von Uniformen und vor allem Nazikostümen. Fast scheint es, als nehme man eine Parade ab.
König: "Die meisten Uniformen sind hier irgendwann in den letzten Jahrzehnten gelaufen wie man sagt, also von Filmen benutzt worden."
Herr über diese Textil-Armee ist der Uniformberater André König. Vor ihm steht eine Schaufensterpuppe mit maßgeschneiderter grauer Wehrmachtsuniform, Ledergürtel, appliziertem Reichsadler - und Augenklappe.
König: "Wir kucken hier gerade auf die Offiziersuniform von dem Tom Cruise von "Walkyrie", aber bei Komparsen in der zweiten, dritten Reihe, die waren ja auch in der Wirklichkeit nicht maßangefertigt. Diese Mannschaftsuniformen, da ist es dann nicht ganz so wichtig, dass die akkurat sitzen."
Vom Fundus in den unteren Räumen geht es nach oben in die lichtdurchflutete Schneiderwerkstatt. Hier arbeiten die Chefin Ute Kanter und drei weiteren Damen mit Nadel und Faden und hypermodernen Nähmaschinen. Gibt es unter ihren handgefertigten Gewändern, Mänteln, Zwanziger-Jahre-Kleidern, ein Stück, auf das sie besonders stolz sind?
Kanter: "Dadurch, dass wir viele schöne Sachen machen und eigentlich unsere Arbeit immer gerne machen, kann man jetzt nicht sagen: das war es oder das. Letztendlich ist es ja immer so: Was wurde hinterher berühmt? Wo man sich dann am meisten dran erinnert. Naja das war für uns jetzt, wo wir so ein bisschen mit angeben, das ist die Bluse von der, wie hieß sie gleich? Diane Kruger aus'm 'Inglourious Bastards'"
Curt Bois aus "Der Himmel über Berlin": "Ich kann den Potsdamer Platz nicht finden. Hier, das kann er doch nicht sein. Denn am Potsdamer Platz, da war doch das Café Josty, Nachmittags hab ich da..."
Undatiertes Foto der Schauspielerin, Sängerin und Autorin Hildegard Knef in München.
Hildegard Knef in München© dpa / Hans Gregor
Curt Bois als Gespenst aus der Vergangenheit. In Wim Wenders' Film "Der Himmel über Berlin" aus dem Jahr 1987 irrt er über die riesige Brache entlang der Mauer, da wo einst der trubelige Potsdamer Platz war. Mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende trägt Berlin immer noch seine Narben. Direkt nach dem Krieg spielen die Trümmerlandschaften der Stadt eine der Hauptrollen in einem 1945 gedrehten Film, der die Frage nach der deutschen Schuld stellt: "Die Mörder sind unter uns". Die weibliche Hauptrolle einer Fotografin und KZ-Überlebenden spielt Hildegard Knef. Angeboten bekam sie die Rolle nach einer Theatervorstellung.
Knef: "Das Stück war vorbei und wir gingen aus unseren eiskalten Garderoben und stolperten da die Treppe rauf. Da stand ein Mann, der litt unter einem wahnsinnigen Husten. Würden Sie das vielleicht lernen? Warum? Ich mache den ersten deutschen Nachkriegsfilm, Mein Name ist Wolfgang Staudte."
Das zerbombte Berlin. Eine Delegation amerikanischer Kongressabgeordneter fährt Unter den Linden entlang. Wo einst ein Prachtbau neben dem anderen stand, zeigt die Kamera nun Nichts, Weite, Leerstellen. So beginnt Billy Wilders Film "Eine auswärtige Affäre". Die Idee zu dieser Dreiecksgeschichte kam Wilder, als er 1945 als Filmbeauftragter und Colonel nach Berlin kam. Mit dem Film kehrt das zurück, was die Filmstadt Berlin in ihrer Blütezeit ausmachte: Frivolität, Ironie, die Mischung aus Humor und Tragik , das Changieren zwischen Moral und Unmoral.
Mit Billy Wilder kommt auch der Komponist Friedrich Hollaender zurück nach Berlin. Und eine Schauspielerin, die wieder eine Nachtclubsängerin spielt und die ihren Koffer ohnehin an der Spree gelassen hat.
Sudendorf: "Ob ich das jetzt aufkriege...nein, ich krieg das nicht auf...man muss sich nicht vorstellen, dass sie das selbst getragen."
In einem Gewerbegebiet im Süden von Berlin, in Marienfelde, hat die deutsche Kinemathek eine riesige Lagerhalle angemietet. Hier kann man sich zu Führungen anmelden.
Sudendorf: "Aber es ist relativ gut zu erreichen mit der S-Bahn, und dann ist man hier in einer richtigen Oase."
Neben 18.000 Filmen liegen in Stahlschränken und Regalen auch Tausende von Objekten, die die Stadt Berlin mit ihrer Filmgeschichte verbinden: Requisiten wie das Kartenspiel aus Dr. Mabuse, Setentwürfe, etwa zu "Den Nibelungen". Und: Marlene Dietrichs Nachlass - 1500 Bücher, 3500 Textilien und 40 Koffer. Werner Sudendorf, ein stattlicher Archivar mit Monokel, präsentiert seine Schätze:
"Große Schrankkofer, mit Nessel eingeschlagen, das interessante ist diese alte Kultur der Schrankkoffer, da sind auch so Hotelaufkleber drauf, dann weiß man auch, wo das gewesen ist. Hier haben wir auch noch Marlene-Sachen, Und was ganz interessant ist, sind diese Bücher. Und in diesen Kästen haben wir die Bücher mit Autographen. Hier zum Beispiel Erich Maria Remarque 'Im Westen nichts Neues':'Kann man es denn vergessen, silberne Sternschnuppe über dem brausenden Abgrund.' Das ist eine Widmung für Marlene."
Auch sie ist eine dieser Berlinerinnen, die sich nicht unterkriegen lassen. Auch sie hat eine besondere Idee von sich. Genau wie Marlenes Lola, ihre Schwester im Geiste, ist auch sie unbegabt zum Kompromiss - und gerät dadurch in Konflikte mit ihrer Umwelt: Im Berlin der DDR. Die Sängerin aus dem Film "Solo Sunny", 1980 gedreht von Konrad Wolf und Wolfgang Kolhaase, wird gespielt von Renate Krössner.
In dem Café im Prenzlauer Berg, in dem ihre Sunny im Film einen Philosophen – und damit auch einen Außenseiter - kennen lernt, sitzt die Schauspielerin Renate Krössner. Früher war dieser Ort am Wassertorplatz eine karge Bierkneipe, heute zieht das im Retro-Chic dekorierte Café Touristen und gut situierte Quartiersbewohner an. Die mittlerweile luxussanierten Häuser und Hinterhöfe seien zu DDR-Zeiten ein Biotop alltäglicher Widerständigkeit gewesen, sagt Krössner: Ein Berliner Viertel jenseits der Plattenbauten und gezeichnet von den Spuren der deutschen Geschichte.
Krössner: "Da ich ja nicht immer Besuche in den Prenzlauer Berg gemacht habe, war es schon so, dass ich immer wieder, auch neu mit so Äußerlichkeiten konfrontiert war. Dass da noch Granateinschläge waren. Da war der Krieg noch so anwesend, dass man sich gewundert hat, warum unsere Gebäude so lange noch ein Mahnmal für den Krieg sind."
Quer durch die Jahrzehnte und politischen Umbrüche hat der Drehbuchautor Wolfgang Kolhaase den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und seine sich verändernden Lebensgefühle begleitet: Im wiedervereinigten Berlin schreibt er für Andreas Dresen den Fim "Sommer vorm Balkon", in dem zwei Freundinnen versuchen, ihre Sehnsüchte im neuen Berlin unterzubringen. 1957 entsteht das Drehbuch für Gerhard Kleins "Berlin Ecke Schönhauser" über Halbstarke, die sich nicht in die entstehende DDR einfügen wollen und in West-Berlin ins Kino gehen. Ihre Nachmittage verbringen sie unter der U-Bahnbrücke an der Schönhauser Allee. Hier steht Wolfgang Kolhaase und erinnert sich.
Kolhaase: "Damals blieben die Leute ja stehen, wenn gefilmt wurde. Manchmal musste dann der Aufnahmeleiter sie wegjagen oder sagen, sie sollen nicht zugucken. Also Filmemachen fiel noch auf."
Fast ein Vierteljahrhundert nach "Berlin Ecke Schönhauser" schreibt Wolfgang Kolhaase mit "Solo Sunny" eine weitere Zustandsbeschreibung der Stadt Berlin, wieder gesehen aus der Perspektive von Außenseitern im Prenzlauer Berg. 15 sec
Wolfgang Kohlhaase: "Naja, der Prenzlauer Berg war ja so ein Stadtbezirk, der langsam im Verfall war. Dann lebten dort in wenig attraktiven Wohngelegenheiten sehr junge Leute, viele Studenten. Aber eben auch sehr alte Leute. Die einen fingen dort an, die anderen lebten dort zu Ende. Es war ein sehr kräftig und sehr widerspruchsvoll bewohnter Bezirk. Da kommen dann die Geschichten her."
"Victoria"-Regisseur Sebastian Schipper bei der Lola-Verleihung in Berlin
"Victoria"-Regisseur Sebastian Schipper bei der Lola-Verleihung in Berlin© dpa / picture alliance
Und West Berlin? Man könnte sagen: die ganze Stadt war ein Biotop, abgetrennt von der restlichen BRD. Ein Inselort, an dem die Zeit anders zu gehen scheint. Hier sammelten sich Künstler, Politaktivisten, Tagediebe und die, die nicht zum Bund wollten. Es war diese Atmosphäre des Unfertigen, Uneingerichteten, die auch den Regisseur Christian Petzold aus Düsseldorf zum Studium an die Spree zog – erst an der FU, der freien Universität Berlin, dann an der Filmhochschule DFFB.
Christian Petzold: "Da war eben ne Mauer rum, die war weniger dazu da, DDR-Bürger davon abzuhalten, in den Westen zu gehen, sondern Eltern vom Besuch abzuhalten. Das war ein großer Vorteil in Berlin. Es gab ja den Berliner Muff, es gab ja keine Produktion hier. Aber die FU zum Beispiel oder die DFFB, das sind ja dem Untergang Berlins abgerungene Institutionen, wo man wie in Laboren etwas ganz Neues probierte. Die waren nicht satt. Da war immer was am Arbeiten, da wollte man hin."
Tom Tykwer, Wolfgang Becker und eben Christian Petzold. Diese drei Regisseure nehmen ihre in Westberlin geformte Kreativität mit in die Filme, die sie in der wiedervereinigten Stadt drehen werden.
Auch ihre Filme halten fest, erzählen, registrieren, was kein Archiv und kein Geschichtsbuch mitteilen kann: Den Sound einer Stadt und ihrer Geschichte. Ihre Textur, ihren Groove, ihre alltäglichen Dramen, ihre Atmosphäre, ihre Temperatur, ihre Lebensgefühle.
Tom Tykwers "Lola rennt" ist ein typischer Berlinfilm, weil er die unendlichen Wege aufzeigt, die eine junge Frau hat, um ihre Liebe zu retten. In 24 Stunden!
Der Titel von Wolfgang Beckers Tragikomödie "Das Leben ist eine Baustelle" wird zur Zustandsbeschreibung der Stadt in den Nachwendejahren. Die Bauwut bricht aus, nicht nur am Potsdamer Platz. Menschen basteln sich ihre neuen Existenzen zurecht. Die soziale Realität erreicht einen Helden, der seinen Job in einer Fabrik verliert. Und dann noch das:
Christian Petzold führt zu den Schauplätzen seines Films "Gespenster" über den Potsdamer Platz und durch den Tiergarten. Erzählt wird die Geschichte eines Paares, das in Berlin nach seinem vor Jahren verschwundenen Kind sucht. Im Blick des Regisseurs verbindet sie sich mit der neuen Architektur und Topografie der Stadt.
Petzold: "Ein Paar verliert sein Kind. Und dieses Paar zerfällt. Weil das, was ihre Liebe ist, heute würde man sagen: ihre Projekt – das ist verschwunden. Und dieses Paar ist Berlin. Gleichzeitig hat Berlin dort, wo mal ein Zentrum war, jetzt den Potsdamer Platz. In Berlin ist auch was verschwunden. Und alle wollen, dass Berlin wieder einen Roman hat oder ein Zentrum, und ein Kino. Und ein Bedeutungszentrum, Bedeutungsreferenz. Und das Paar sucht das auch. Deshalb entsprechen sich die beiden, das Paar und die Stadt."
Welcher Roman wird in 20 Jahren erzählt?
Es scheint als sei Berlin wie kaum eine andere Stadt immer wieder aufs Neue herausgefordert, ihr Bild auf der Leinwand zu finden. Welchen Roman wird Berlin in zehn oder 20 Jahren erzählen? Welchen Autorenblicke wird es geben jenseits der Filme, in denen Berlin nicht Berlin ist, keine Stadt und kein Ort. Sondern eine Kulisse für wirtschaftsgeförderte internationale Großproduktionen.
Und was macht sie in diesen Filmen nicht alles mit, die Stadt! In dem identitätslosen Action-Thriller "Unknown Identity" mit Liam Neeson lässt sie ihr Hotel Adlon in die Luft jagen.
In "Don 2" stellt sich Berlin dem Bollywood-Star Shah Rukh Khan zur Verfügung. Für Verfolgungsjagden auf der Straße des 17. Juni, die durch Zeitraffer auch nicht spannender werden.
In dem Raubkunst-Film "Momuments Men" mit George Clooney lässt Berlin sogar zu, dass seine Prachtstraße unter den Linden in einer Szene als Champs Elysee ausgegeben wird.
Vielleicht kann sich die Stadt Berlin deshalb mühelos zur Kulisse machen, weil in ihr auch immer wieder Filme entstehen, in denen sie zum einzigartigen Ort wird. So wie in "Victoria" von Sebastian Schipper. Die Heldin, eine junge Spanierin, lässt sich einsaugen, mitreißen vom Clubleben, verliebt sich im Laufe einer atemlosen, in einer einzigen Einstellung gedrehten Nacht. Die Einheit von Ort, Zeit und Raum, von der Gegend zwischen Halleschem Tor und Friedrichstrasse, fällt zusammen mit dem modernen Mythos einer Stadt, in die junge Menschen aus aller Welt strömen. Um zu feiern, sich zu finden und neu zu erfinden.
"Victoria" lief im Wettbewerb der vergangenen Berlinale. Und deren Leiter Dieter Kosslick bezieht jetzt wieder Stellung am Marlene-Dietrich-Platz
"Berlin ist mehr ein Weltteil als eine Stadt" - hat der deutsche Dichter Jean Paul geschrieben. Man kann es aber auch anders sagen:
Kosslick: "Ich glaube, dass man hier einfach 1000 Städte hat. Man hat hier alles, und wenn man will, hat man hier auch Berlin, aber man kann auch alles andere drehen. Es gibt hier so viele Ecken, die nicht verbaut sind - Gottseidank - es gibt so viele abgefahrene Stellen. Es gibt den Underground und es gibt den Grunewald. Und manchmal ist beides das gleiche. Berlin ist die Stadt in der 100 Städte sind zum Drehen, wie man so schön sagt : Für Location. Berlin ist der ideale Standort. Man merkt ja, es wird hier auch alles gedreht. Und Berlin ist wieder Filmstadt, gar keine Frage, so wie damals als Marlene noch in den Studios war und der große Star wurde."
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