"2666" beim Festival von Avignon

Gewaltiges Wimmelbild

Das Ensemble von "2666" beim Schlussapplaus in Avignon
Das Ensemble von "2666" beim Schlussapplaus in Avignon © Foto: Eberhard Spreng
Von Eberhard Spreng · 08.07.2016
Roberto Bolaños Romanzyklus "2666" ist beim Festival d'Avignon in einer zwölfstündigen Theaterversion zu sehen. Es geht um Sexualität und Gewalt, Literatur und Philosophie, Poesie und die Lösung des Welträtsels.
Den Eintritt in den gewaltigen und gewalttätigen Weltroman kann der Zuschauer im ersten "Teil der Kritiker" durch die amourösen Verwicklungen von vier Literaturwissenschaftlern nehmen, durch die Pforte einer westlichen Wohlständigkeit. In schicken Le Corbusier-Sofas lümmeln sich die Spezialisten, die sich mit Leben und Werk des mysteriösen deutschen Schriftstellers Benno von Archimboldi befassen.
Hier lieben drei Männer eine Frau, zwei davon auch im Bett, und als diese Ménage à trois dann doch bei den zwei toleranten und aufgeklärten Boheme-Männlein für eigentlich überwunden geglaubte Eifersucht und Aggression führt, prügeln sie im Londoner Straßengewirr einen pakistanischen Taxifahrer krankenhausreif, nachdem der im hitziger werden Gespräch die Dame eine Nutte genant hatte.
Unheilvoll-böse dröhnt jetzt der Soundtrack, mit dem Julien Gosselin das gesamte lange Theaterabenteuer wirkungsmächtig unterlegt. Drei Videoprojektionen sorgen für eine Genremix zwischen Schauspiel und Kino; Texteinblendungen zitieren Passagen des Romans, die sich dem Theater sperren, ein vorzügliches Ensemble entführt das Publikum in das Labyrinth einer Literatur, die sich jeder einfachen Zuordnung entzieht.

Ein mörderischer Ort in Mexiko

Die fünf Romane des "2666"-Zyklus sind Kriminalroman, Gesellschaftsstück, Poesie, Allegorie für einen immer mehr von blutiger Gewalt geprägten Weltzustand beim Eintritt ins 21. Jahrhundert. Es geht um Sexualität und Gewalt, Literatur und Philosophie, Poesie und die Lösung des Welträtsels. Der narrative Sog führt immer wieder in die nordmexikanische Stadt Santa Teresa, mit der der früh verstorbene chilenische Autor wohl eine der mörderischsten Orte des Planeten meinte: Ciudad Juárez, wo arme Wanderarbeiterinnen für einer Hungerlohn in den Maquiladoras ausgebeutet werden, die NAFTA und der neoliberale Welthandel schufen, und in einer nicht abreißenden Vergewaltigungs- und Mordserie umkommen.
Wie der Leser, so bewegt sich auch der Zuschauer wie ein kurzsichtiges Insekt über die Oberfläche eines gewaltigen Wimmelbildes, folgt einzelnen Figuren und ihrer Passion, wechselt Thema und Protagonisten, kommt auf einzelne zurück und erlebt neue Überraschungen. Und er wird auf der Suche nach dem Sinn des Ganzen immer bedröhnter von den ungeheuer schön und einfach skizzierten Form des Einzelnen.
Julien Gosselin hat die Seele des Kult-Romans treu und kongenial in Bild und Spiel übersetzt. Nach zwölf Stunden dankt das Publikum in der FabricA dem Ensemble für die gewaltige spielerische Leitung.
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