20 Jahre nach dem Mord an Jitzchak Rabin

"Es gibt nicht nur Krieg oder Frieden"

Kränze am Grab von Jitschak Rabin in Jerusalem
Kränze am Grab von Jitschak Rabin in Jerusalem © dpa / picture alliance / Abir Sultan
Der Politologe Shlomo Avineri im Gespräche mit Korbinian Frenzel · 04.11.2015
Vor 20 Jahren, am 4. November 1995, wurde der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin von einem jüdischen Fundamentalisten ermordet. Was das für den israelisch-palästinensischen Friedensprozess bedeutete, erklärt der Politologe Shlomo Avineri.
Ausgerechnet während einer Friedensdemonstration wurde vor 20 Jahren, am 4. November 1995, der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin ermordet. Der Attentäter, ein jüdischer Fundamentalist, wollte damit Rabins Politik eines Ausgleichs mit den Palästinensern stoppen.
Auch die Positionen der Gemäßigten auf beiden Seiten weit auseinander
Ob der Friedensprozess ohne Rabins Ermordung erfolgreich verlaufen wäre, lässt sich dem israelischen Politikwissenschaftler Shlomo Avineri zufolge schwer einschätzen.
"Klarerweise hat der Mord die Situation kompliziert. Aber ich glaube nicht, dass man klar sagen kann, dass, wäre Rabin weiter Ministerpräsident, wir heute Frieden hätten. Die Positionen der israelischen und der palästinensischen gemäßigten Gruppen sind noch sehr weit entfernt, wie sie auch damals waren."
Von Zypern, Bosnien oder dem Kosovo lernen
Einer Lösung könne man sich heute möglicherweise nähern, indem man aus den Konflikten auf Zypern, in Bosnien oder dem Kosovo lerne, dass die Alternativen nicht allein Krieg oder Frieden seien.
"Es gibt auch etwas in der Mitte. Auf Zypern, in Bosnien und im Kosovo herrscht kein Frieden im endgültigen Sinne, moralischem und nach internationalem Recht. Aber es gibt heute bestimmte Abkommen, Teilabkommen, und ich glaube, man muss auch bei uns daran denken, dass solche Dinge möglich sind."
Schließlich sei bis heute die Mehrheit der jüdischen israelischen Bevölkerung für eine Zwei-Staaten-Lösung, betont der Politikwissenschaftler.

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Heute vor 20 Jahren starb ein Mann, und mit ihm starb die große Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten. Jitzchak Rabin, der israelische Premierminister wurde am 4. November 1995 erschossen, auf dem Platz, der heute nach ihm benannt ist in Tel Aviv, nach einer Demonstration, auf der Zehntausende seinen Kurs des Ausgleichs mit den Palästinensern unterstützt haben. Und wenige Minuten, bevor ihn die Kugeln des Attentäters, des jüdischen Extremisten Jigal Amir, trafen, da beschwor er diese Idee: ((O-Ton Jitzchak Rabin)) 27 Jahre lang, sagte Rabin, war ich ein Mann des Militärs, ich habe Krieg geführt, solange es keine Chance auf Frieden gab. Ich glaube, jetzt gibt es eine Chance auf Frieden, eine große Chance. Jitzchak Rabin – wie sehr hat dieser Mord den Lauf der Geschichte verändert, was bleibt von dieser Hoffnung, die er da beschworen hat? Fragen an Shlomo Avineri. Er ist emeritierter Professor für Politologie an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ich grüße Sie, guten Morgen!
Shlomo Avineri: Guten Morgen!
Eine gespaltene Gesellschaft – damals wie heute
Frenzel: Welche Erinnerung haben Sie an diesen Tag, an diesen Abend, als Jitzchak Rabin ermordet wurde?
Avineri: Die persönliche Erinnerung ist, ich war damals an diesem Wochenende bei einer Konferenz in Genf, und als wir zum ersten Mal gehört haben, dass ein Attentat an Rabin stattgefunden hat, dachten wir, dass das palästinensischer Terror ist. Und als es klar wurde nach ein paar Minuten, dass es von einem israelisch-jüdischen Fanatiker kam, war, wie Sie sich vorstellen, der Schock noch größer.
Frenzel: In der Rede bei dieser Friedensdemonstration sagte Rabin damals auch, er glaube, die Mehrheit der Israelis sei bereit, etwas zu riskieren für den Frieden, sei bereit für diesen Weg der Aussöhnung mit den Palästinensern, etwas zu geben. Bevor wir ins Heute schauen – war er damals schon zu optimistisch?
Avineri: Das Problem ist nicht der Frieden mit den Palästinensern, sondern die politischen Konsequenzen, zum Beispiel die Räumung von jüdischen Siedlungen in der Westbank und im Gazastreifen seinerzeit. Und in dieser Sache war und ist die israelische Bevölkerung gespalten. Es ist so, dass die Spaltung damals auch klar war, als das Oslo-Abkommen mit den Palästinensern unterschrieben wurde. Von der Seite der israelischen Regierung unter Rabin hatte dieses Abkommen eine große Unterstützung. Die Mehrheit der Israelis, mehr als 60 Prozent, haben das unterstützt, aber eine große Minderheit war dagegen. Und diese Spaltung existiert noch heute.
Der Mord an Rabin hat die grundsätzlichen Positionen nicht verändert
Frenzel: Ist diese Minderheit von damals zur großen Mehrheit geworden in Israel?
Avineri: Nein, es ist nicht die Mehrheit geworden, sondern die Atmosphäre hat sich auch dadurch geändert, dass trotz des Mordes an Rabin mindestens zweimal Verhandlungen zwischen gemäßigten israelischen Regierungen und den Palästinensern stattgefunden haben. Und es war klar unter Ministerpräsident Barak und dann unter dem liberalen Ministerpräsident Olmert. Und damals wurde klar, dass die Kluft sogar zwischen der gemäßigten israelischen Position und der gemäßigten palästinensischen Position zu tief war. Und da stehen wir.
Klarerweise hat der Mord an Rabin die Situation erschwert, weil es ein Schock war. Aber die grundsätzliche Verschiedenheit der Positionen, der gemäßigten israelischen Position und der gemäßigten palästinensischen Position, hat sich nicht geändert. Der palästinensische Terror in den letzten 20 Jahren hat auch nicht geholfen, in der Atmosphäre auf der jüdischen, israelischen Seite, sodass wir eigentlich dort stehen, wo wir vor 20 Jahren gestanden sind. Aber nach 20 Jahren ist die Situation klarerweise tiefer und komplizierter.
"Spekulation", ob es ohne das Attentat heute Frieden gäbe
Frenzel: Glauben Sie denn, dass die Dinge anders verlaufen wären, wäre Jitzchak Rabin am Leben geblieben, hätte es dieses Attentat möglicherweise gar nicht gegeben?
Avineri: Das ist Spekulation. Klarerweise hat der Mord nicht geholfen, weil Dinge, die unter Rabin als Ministerpräsident sich entwickelten, wurden dadurch gestoppt, und wir hatten dann Wahlen. Und nach diesen Wahlen ist die rechtsradikale Regierung unter Netanjahu ans Ruder gekommen. Ob es zu einem Frieden zwischen Israel und den Palästinensern gekommen, wäre Rabin noch weiter als Ministerpräsident geblieben, weiß ich nicht. Klarerweise hat der Mord die Situation kompliziert, aber ich glaube nicht, dass man klar sagen kann, dass, wäre Rabin weiter Ministerpräsident, wir heute Frieden hätten. Die Positionen der israelischen und der palästinensischen gemäßigten Gruppen sind doch sehr weit entfernt, wie sie auch damals waren.
Frenzel: Benjamin Netanjahu war ja damals, zum Zeitpunkt des Attentats, die rechte Stimme, der Oppositionsführer des Likud gegen Rabin. War er mit seiner Rhetorik ein geistiger Wegbereiter dieser Tat, dieses Mordes? Würden Sie so weit gehen?
Prof. Dr. Shlomo Avineri, Politikwissenschaftler der Hebräischen Universität Jerusalem
Prof. Dr. Shlomo Avineri, Politikwissenschaftler der Hebräischen Universität Jerusalem © imago stock&people
Avineri: So weit möchte ich klarerweise nicht gehen. Aber klarerweise, dass die Opposition gegen das Abkommen mit der PLO, mit Jassir Arafat, die Opposition wurde von Netanjahu unterstützt, und ziemlich radikal unterstützt. Aber die Verantwortung hat nicht die Atmosphäre, sondern der Mörder.
"Es gibt etwas in der Mitte"
Frenzel: Glauben Sie denn, wenn wir nach vorne schauen, dass es eine Möglichkeit für einen Ausgleich noch gibt? Oder ist dieser Zug abgefahren, zunächst mal in der Wahrnehmung der israelischen Bevölkerung?
Avineri: Ich glaube, da muss man irgendwie komparativ denken. Schauen Sie: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist ähnlich zu den Konflikten auf Zypern, in Bosnien, im Kosovo, sogar in Kaschmir. Und in keinem von diesen Konflikten gibt es heute ein Lösung. Es gibt teilweise verschiedene Abkommen, aber eine grundsätzliche Lösung auf Zypern, in Bosnien, im Kosovo, ist bis heute, nach 30 oder 40 Jahren, nicht zustande gekommen. Und ich glaube, das ist eigentlich auch der Grund, warum es so schwierig ist zwischen Israelis und Palästinensern, ein Abkommen zu finden. Klarerweise, wäre heute eine gemäßigte israelische Regierung am Ruder, unter der Arbeitspartei zum Beispiel, wäre die Atmosphäre anders. Ich habe leider Zweifel, ob sogar in diesem Fall es zu einer endgültigen Lösung kommen könnte.
Und ich glaube, wir können etwas lernen von der Situation auf Zypern und im Kosovo und in Bosnien, dass die Alternative nicht zwischen Frieden und Krieg ist, es gibt auch etwas in der Mitte. Auf Zypern und in Bosnien und im Kosovo herrscht kein Frieden im endgültigen Sinne, im moralischen und nach internationalem Recht, aber es gibt heute bestimmte Abkommen, Teilabkommen. Und ich glaube, man muss auch bei uns daran denken, dass solche Dinge möglich sind. Und, wie man bei Umfragen sieht, ist bis heute die Mehrheit der israelischen jüdischen Bevölkerung für eine Zwei-Staaten-Lösung. Sie unterstützt es, aber sie ist skeptisch, ob es heute unter den jetzigen Bedingungen nicht nur in Israel, sondern auch auf palästinensischer Seite möglich ist. Ich glaube, da muss man viel pragmatischer denken, als man bis jetzt gedacht hat.
Frenzel: Der israelische Politologe Shlomo Avineri sagt das. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Vielen Dank für das Gespräch!
Avineri: Besten Dank!
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